Die zivile Nutzung der Atomkraft aus bulgarischer Perspektive

aus OWEP 3/2010  •  von Tim Graewert

Tim Graewert hat Politik- und Rechtswissenschaften in Osnabrück und Sofia studiert.

Atomkraft zu Zeiten des Sozialismus

1970 begann man in Kosloduj im Nordosten Bulgariens mit dem Bau des ersten bulgarischen Atomkraftwerks (AKW). Bis zum Jahr 1991 wurden an gleicher Stelle vier sowjetische WWER 440-230 Reaktoren1 mit einer Leistung von ca. 400 Megawatt und zwei WWER 1000-320 Reaktorblöcke mit einer Leistung von ca. 1.000 Megawatt konstruiert.

Anfang des Jahres 2010 wählten die Bulgaren in einer vom Staatsfernsehen durchgeführten Umfrage die Katastrophe von Tschernobyl zum seltsamsten Ereignis des vergangenen Jahrhunderts. Dies ist vor dem Hintergrund der Desinformationspolitik der kommunistischen Staatsführung zu sehen, die für sich und ihre Angehörigen unverstrahlte Agrarprodukte importierte, die Bevölkerung jedoch nicht über die Reaktorkatastrophe informierte. Heute ist bekannt, dass die Radioaktivität in Teilen Bulgariens als Folge des Reaktorunfalls im 1.500 Kilometer entfernten Tschernobyl teilweise das 31.000fache der sonst üblichen Grenzwerte betrug.2 „Wir wussten nichts von der radioaktiven Wolke und haben die ganze Zeit das Obst und Gemüse unseres Gartens gegessen“, erinnert sich eine Bulgarin.

Das Projekt Belene – eine unendliche Geschichte

In Belene begann in den achtziger Jahren der Baubetrieb für ein zweites Atomkraftwerk. Im Jahr 1991 wurde der Bau jedoch wegen Geldmangel eingestellt. 2005 beschloss das bulgarische Parlament, das Projekt zu reaktivieren. Die beiden 1.060 Megawatt-Reaktoren sollten von der russischen Firma Atomstroiexport gebaut werden. Am Betreiberkonsortium war auch RWE mit 49 Prozent beteiligt, stieg aber Ende 2009 wegen ungesicherter Finanzierung aus dem Projekt aus. Trotz des Angebots der russischen Seite, für RWE als Investor einzuspringen, entschied die neue Regierung Bulgariens, der gute Beziehungen zur EU und den USA nachgesagt werden, das Bauprojekt auf Eis zu legen, bis ein europäischer Investor gefunden wird. Außerdem einigten sich der bulgarische Premierminister Bojko Borisov und EU-Energiekommissar Günther Oettinger dahingehend, dass Bulgarien zukünftig jede energiepolitische Entscheidung mit der EU abstimmen wird. Auffälligerweise wurde diese freiwillige Selbstaufgabe eines wichtigen Teils nationaler Souveränität in der Presse kaum kommentiert oder kritisiert.

Die vorzeitige Stilllegung von vier Reaktoren als Folge des EU-Beitritts

Im Jahr 1993 wurde auf Initiative der Ländergruppe G 7 das Programm „Nuclear Safety Account“ (NSA) von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ins Leben gerufen. Dieses Programm zur Reaktorsicherheit in Mittel- und Osteuropa sollte die Stilllegung von Sowjetreaktoren der ersten Generation durch Finanzhilfen fördern. Am 16. Juni 1993 wurde ein Abkommen zwischen dem NSA und Bulgarien geschlossen, das die Abschaltung der ersten vier Reaktorblöcke des AKWs Kosloduj bis Ende 1998 vorsah. Die Stilllegung der Reaktorblöcke wurde aber unter den Vorbehalt der Modernisierung des fünften und sechsten Blocks des Atomkraftwerks und der Inbetriebnahme modernisierter bzw. neuer Kohle- und Wasserkraftwerke gestellt. Das Abkommen ist allerdings vom bulgarischen Parlament nicht ratifiziert worden, die vereinbarten Kompensierungsmaßnahmen wurden nicht umgesetzt.

Reaktorsicherheit fällt vollständig unter die Kompetenz der EU- Mitgliedsstaaten – dennoch sah die Agenda 2000 die Abschaltung aller sowjetischen Reaktoren der ersten Generation in den EU-Beitrittskandidatenländern vor. Die Vorbeitrittstrategie der EU berief sich hierbei auch auf die durch das NSA getroffenen Abkommen. Allerdings enthält die Agenda 2000 keine rechtlich bindenden Beschlüsse, sondern lediglich politische Leitlinien für den Vorbeitrittsprozess. Bulgarien verpflichtete sich schließlich, in Kosloduj Reaktor 1 und 2 Ende 2002 stillzulegen und Reaktor 3 und 4 zum EU-Beitritt am 1. Januar 2007 vom Netzbetrieb abzukoppeln. Die Slowakei, das andere EU-Beitrittsland mit Reaktoren desselben Typs, musste die Blöcke 1 und 2 des AKWs Bohunice erst zweieinhalb (Ende 2006) bzw. viereinhalb Jahre (Ende 2008) nach dem EU-Beitritt abschalten3, obwohl diese Reaktoren zwei Jahre älter sind als der dritte und vierte Block in Kosloduj.

Die öffentliche Meinung zur Atomkraft in Bulgarien

Laut einer Umfrage des Jahres 1990 war vor 20 Jahren die Mehrheit der Bulgaren für den Atomausstieg. 2004 sprachen sich aber in einer Meinungsumfrage 75 Prozent der Befragten gegen die vorzeitige Schließung des dritten und vierten Blocks des AKWs Kosloduj aus.4 Ein Jahr zuvor hatten in einer Befragung 76 Prozent den Bau eines neuen AKWs in Belene befürwortet.5 Die Verbesserung des Images der Kerntechnologie beim bulgarischen Volk hat im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens sitzt der Schock über die Katastrophe in Tschernobyl nicht mehr ganz so tief wie in den Jahren unmittelbar nach dem Ereignis. Zweitens wurde die durch die EU erwirkte vorzeitige Abschaltung der ersten vier Reaktoren in Kosloduj im öffentlichen Bewusstsein als ungerecht empfunden, was zu einem verletzten Nationalstolz führte und einen Solidarisierungseffekt zur Folge hatte.

Die Argumente der bulgarischen Atomkraftgegner

Auf der bulgarischen Version des Internetauftritts der Deutschen Welle ist zu lesen, dass „es zum Streit für oder gegen Atomkraft“ (in Bulgarien) selten kommt, da dieser mindestens zwei Seiten erfordere.6 Die Kernkraftgegner in Bulgarien stellen sicherlich eine kleine Minderheit dar. Albena Simeonova ist ein lebendes Beispiel dafür, dass bulgarische Kernkraftgegner dennoch existieren. Dass die Ökobäuerin und Gründerin der bulgarischen Grünen noch am Leben ist, liegt Medienberichten zufolge auch daran, dass ein Leibwächter sie im Jahr 2005 rechtzeitig von der Straße zog, bevor ein Auto sie überfahren konnte. Trotz wiederholter Anschläge kämpft Simeonova seit 20 Jahren gegen den Bau des AKWs Belene und wurde für ihr Engagement 1996 mit dem „Goldman Environmental Prize“ ausgezeichnet, der als weltweit wichtigste Ehrung im Umweltschutz gilt. Wichtigstes Argument der Kernkraftgegner sind die seismischen Risiken in der Region. 1977 kamen in einer Stadt 25 Kilometer nordöstlich von Belene bei einem Erdbeben 120 Einwohner ums Leben. Außerdem vertreten Kritiker des AKW-Baus die Auffassung, dass sich dieser wirtschaftlich nicht lohnen würde, da in den nächsten Jahren eine verbesserte Engergieeffizienz zu erwarten sei und der verstärkte Einsatz erneuerbarer Technologien gefördert werden sollte.

Die neue bulgarische Regierung ist gegenüber dem „Projekt Belene“ kritischer eingestellt als alle Vorgängerregierungen. Ministerpräsident Borisov kritisierte bei einer Pressekonferenz auf der Baustelle in Belene, der geplante Reaktorbau stehe vor allem für Misswirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder. Das verdeutlichte der ehemalige Bodyguard mit der Aussage „Ej, dieser Tümpel kostet 800 Millionen Euro“.7 Diese rustikale und grammatikalisch nicht immer völlig korrekte Ausdrucksweise ist inzwischen zu einem Markenzeichen des bulgarischen Regierungschefs geworden. Auch der ehemalige Leiter der bulgarischen Atomenergieaufsicht Georgi Kastchiev, der heute als leitender Atomexperte am Institut für Risikoforschung der Universität Wien arbeitet, spricht sich gegen den Bau des AKWs Belene aus; er kritisierte schon das Sicherheitsmanagement bei Störfällen in Kosloduj.

Die Argumente der bulgarischen Kernkraftbefürworter

Kernkraftbefürworter weisen darauf hin, dass die Stromerzeugung eine der Haupteinnahmequellen des ärmsten EU-Landes darstelle. Der Betreiber des Atomkraftwerks, die Nationale Energiegesellschaft, ist eines der drei umsatzstärksten bulgarischen Unternehmen. Die bulgarische Atomlobby vertritt die Auffassung, dass sicherheitstechnische Fortschritte bei der Entscheidung über die vorzeitige Reaktorstilllegung nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Vertreter der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) beurteilten bei einem Besuch in Kosloduj Anfang der neunziger Jahre die vorherrschenden Sicherheitsstandards als ungenügend.8 Nach intensiven Modernisierungsarbeiten galten der 3. und 4. Reaktor des AKWs jedoch als die „modernsten V 230 Reaktoren“ überhaupt, die fast schon die Standards der Nachfolgegeneration erreichten. Auch die IAEO honorierte die Fortschritte und bewertete im Jahr 2002 die Sicherheitsstandards des 3. und 4. Blocks sehr positiv.9 Dass die EU-Kommission dennoch auf der Agenda 2000 beharrte, ließ auf bulgarischer Seite den Verdacht erhärten, das Urteil über Kosloduj werde in erster Linie aufgrund von sicherheitsfernen politischen Interessen gefällt.

Um während der EU-Beitrittsverhandlungen die bulgarische Regierung dazu zu bewegen, in der „Angelegenheit Kosloduj“ nicht nachzugeben, bildete sich eine Bürgerinitiative zur „Verteidigung von Kosloduj“. Zentrales Anliegen der Initiative war es, die Frage der Reaktorstilllegung per Referendum zu entscheiden, wofür über 500.000 Unterschriften gesammelt wurden. Die Bürgerinitiative wies auf einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs von 2002 (T-178/02) hin, in dem indirekt bestätigt wird, dass es keinen Rechtsakt der EU-Kommission gab, der die Stilllegung der Reaktoren in Kosloduj verlangte. Dieser Sachverhalt sollte als Vorlage dienen, um die bulgarische Verhandlungsposition zu stärken. Zum Zeitpunkt des Urteils hatte sich Bulgarien jedoch schon in mehreren Vereinbarungen zur vorzeitigen Stilllegung verpflichtet. Davon abgesehen scheint es unrealistisch, dass Bulgarien ohne verbindliche Zusage einer Abschaltung der Blöcke 1-4 von Kosloduj Mitglied der EU hätte werden können. Auch die anderen Neumitglieder der EU, die sowjetische Reaktoren der zweiten Generation betrieben (Litauen und die Slowakei), verpflichteten sich dazu. Diese Tatsache fand in den bulgarischen Medien allerdings nur wenig Beachtung.

Fazit

Atompolitik in Bulgarien ist mehr als eine umweltpolitische Frage. Im öffentlichen Bewusstsein wurde die vorzeitige Reaktorstillegung in Kosluduj in erster Linie mit Fragen wirtschaftlicher Macht und politischer Interessen Westeuropas assoziiert. Dass die EU- Kommission im Beitrittsprozess ihre Kompetenzen überschritt, warf aus bulgarischer Sicht einen Schatten auf die rechtsstaatliche Praxis der EU. Die Entwicklungen der „Causa Belene“ verdeutlichen, dass die energiepolitische Strategie Bulgariens wesentlich vom Ringen der EU und Russlands um energiewirtschaftlichen Einfluss auf dem Balkan bestimmt wird.


Fußnoten:


  1. WWER (Wasser-Wasser-Energie-Reaktor) ist die übergreifende Bezeichnung für eine Reihe von Atomkraftwerken sowjetischer Bauart. Die Zahlenkombinationen verweisen auf Bautyp und Leistung (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  2. Matthew Tejada: Bulgaria’s Democratic Consolidation and the Kozloduy Nuclear Power Plant. Stuttgart 2005, S. 26. ↩︎

  3. www.world-nuclear.org/info/inf44.html (letzter Zugriff: 05.03.2015). ↩︎

  4. www.world-nuclear.org/info/inf87.html (letzter Zugriff: 05.03.2015). ↩︎

  5. www.aresearch.org/bg/capital/561.html (letzter Zugriff: 18.07.2010; Link mittlerweile inaktiv) ↩︎

  6. www.dw-world.de/dw/article/0,,4198095,00.html (letzter Zugriff: 05.03.2015). ↩︎

  7. www.mediapool.bg/show/?storyid=163044 (letzter Zugriff: 05.03.2015); vgl. auch Tim Graewert: Schlaglichter auf das bulgarische Wahljahr 2009. in: OST-WEST. Europäische Perspektiven 10 (2009), H. 4, S. 255-261, bes. S. 260 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  8. Nicole Foss: Nuclear Safety and International Governance. Russia and Eastern Europe. Oxford 1999, S. 25. ↩︎

  9. www.world-nuclear.org/info/inf87.html (letzter Zugriff: 05.03.2015). ↩︎