Wir haben etwas erreicht – Interview mit Luigj Mila

aus OWEP 4/2010  •  von Christof Dahm

Angesichts der Probleme, mit der die Gesellschaft Albaniens trotz aller Fortschritte immer noch zu kämpfen hat, kommt Organisationen wie Justitia et Pax, die sich gemeinsam mit ihren Partnern in anderen Ländern für Frieden und Gerechtigkeit engagieren, eine große Bedeutung zu. Zu Schwerpunkten der Arbeit in Albanien befragte Christof Dahm den Generalsekretär von Justitia et Pax Albanien, Luigj Mila.

Bitte schildern Sie kurz die Entstehung von Justitia et Pax Albanien (JuPax). Wo liegen die Arbeitsschwerpunkte? Wie war überhaupt die Ausgangssituation der Kirche Ende der achtziger Jahre?

Luigj Mila (Foto: Renovabis-Archiv).

Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes bemühen sich viele Organisationen, die Folgen der ungezügelten Transformation für die Menschen zu lindern. Von Anfang an hat die katholische Kirche vor allem in Norden Albaniens, wo sie traditionell ihren Schwerpunkt hat, Zeichen gesetzt. Sie war – daran sollte man unbedingt denken – eine Märtyrerkirche, die unter dem kommunistischen Regime die härteste Verfolgung in Osteuropa überhaupt erlitten hat. 1968 wurde die Religion vom Staat abgeschafft, jede Form von Religionsausübung war fortan strikt untersagt. Alle religiösen Einrichtungen wurden geschlossen, die Gebäude zweckentfremdet oder zerstört, hunderte Geistliche ermordet. Nur wenige überlebten in Gefängnissen oder Arbeitslagern und blieben der Hoffnung auf eine Auferstehung des Glaubens treu. Sie bildeten zusammen mit vielen Helfern aus dem Ausland die Keimzelle für den Neubeginn.

Zu den neuen Strukturen gehörte auch die 1996 von der albanischen Franziskanerprovinz gegründete Kommission Justitia et Pax, die vollständig den Titel „Kommission für Gerechtigkeit und Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ trägt, um anzuzeigen, dass der Schutz der Menschen und die Verantwortung für die Umwelt den Franziskanern besonders am Herzen liegen. Schon unmittelbar nach ihrer Gründung hat die Kommission Fachleute aus verschiedenen Bereichen zusammengeführt, um Ziele für die künftige Arbeit festzulegen: Schutz der Menschenrechte, Konfliktlösung, Friedenserziehung, Unterstützung besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen, Vorsorge für die Migranten, interreligiöse Beziehungen und Umweltschutz.

Im Zusammenhang mit dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch in Albanien setzte eine Emigrationswelle ein, deren Folgen bis heute spürbar sind ...

... Die meisten Missgeschicke in der Geschichte unseres Landes begannen oder endeten mit einem Massenexodus. So kam es etwa im Zusammenhang mit der osmanischen Invasion im 15. Jahrhundert zur Flucht von hundertausenden Albanern nach Italien und Griechenland. Die Geschichte wiederholte sich, als 1990 große Scharen von Albanern aus ihrer immer noch kommunistischen Heimat mit Booten zu den Küsten Italiens und Griechenlands flohen. Männer, Frauen, Jugendliche, selbst Kinder wagten sich auf oft schrottreifen Schiffen eng zusammengepfercht hinaus in eine ungewisse Zukunft. Viele wurden krank, etliche ertranken, dennoch kamen die meisten am anderen Ufer der Adria an. Dieser Exodus biblischen Ausmaßes erfasste über eine Million Menschen, ein Drittel der albanischen Bevölkerung. Alle Schichten der Bevölkerung waren vertreten: Gebildete und Analphabeten, Menschen vom Land und aus der Stadt, jung und alt, Männer und Frauen. Zweierlei verband sie: Alle waren arm und wollten fliehen.

Wenige Monate später, im Dezember 1990, setzte sich der politische Pluralismus in Albanien mit der Bildung einer ersten Oppositionspartei durch. Allmählich nahm der Demokratisierungsprozess Gestalt an, ohne dass wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage die Emigration nachließ, freilich in geringerem Umfang als zuvor. Zusammen mit der allmählichen Verbesserung der Gesamtlage kamen viele Menschen zurück, leider nahmen aber auch Korruption und Misswirtschaft in neuer Gestalt zu.

Welche Folgen hat die Emigration junger und gut ausgebildeter Menschen für Albanien („brain drain“)? Wie kann JuPax diesen Menschen in der Fremde und bei der Rückkehr nach Albanien helfen?

Migrationsfragen sind ein wichtiger Bereich unserer Arbeit. Dank der Zusammenarbeit mit anderen JuPax-Organisationen sind wir über die Zahlen albanischer Migranten in Europa und deren Situation gut informiert. Unsere Migranten bilden in gewisser Weise eine Brücke zwischen der Heimat und dem Zielland. Sie sind gleichermaßen ein Problem und eine Lösung; ein Problem deshalb, weil einige Migranten mit Verbrechen wie Raub, Drogenhandel und Prostitution in Verbindung stehen – eine Lösung deshalb, weil viele sich positiv in ihrer neuen Heimat engagieren. Außerdem unterstützen die Migranten durch Geldüberweisungen ihre zurückgebliebenen Familien, was der Entwicklung Albaniens hilft; viele würden aber auch direkt in der Heimat gebraucht, besonders die Intellektuellen und besser Ausgebildeten. Der „brain-drain“ ist ein ernstes Problem, für das die albanische Regierung noch keine Lösung gefunden hat. JuPax versucht mit gezielter Lobbyarbeit, gerade solche Kräfte zur Rückkehr nach Albanien zu bewegen.

Inwieweit kann JuPax in den katholischen Gebieten Albaniens dazu beitragen, archaische Strukturen wie z. B. die Blutrache zu überwinden?

Eines der Hauptprobleme war in der Tat das Wiedererwachen der Blutrachetradition, die über Jahrhunderte in unserem Land vorhanden war, besonders in Nordalbanien. Sie führte zur Ausrottung ganzer Familien und zur Selbstisolierung tausender Männer ais Furcht, Opfer der Blutrache zu werden. Im Hintergrund steht der „Kanun“, dessen Aussagen zur Blutrache die Kirche stets verworfen hat.1 In den frühen neunziger Jahren, einer Zeit legislativer Leere in Albanien, spielte der Kanun in Nordalbanien wieder eine größere Rolle. Oft wurden ganze Familien isoliert. Diese fatalen Vorgänge führen auch zum wirtschaftlichen Zusammenbruch in diesen Regionen. Kinder, besonders männliche, lebten abgesondert ohne Möglichkeit des Schulbesuchs, der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ohne ärztliche Versorgung.

Mit Unterstützung zahlreicher kirchlicher und anderer Partner wie z. B. des Internationalen Roten Kreuzes und vieler Caritas-Organisationen hat JuPax begonnen, Studien zur Untersuchung des Phänomens durchzuführen mit dem Ziel, Strategien zur Vermittlung und Beilegung von Blutrachefällen zu entwickeln. Wie zu vermuten war, sind Frauen und Kinder die Hauptopfer des Geschehens; daher wurden speziell ausgebildete Lehrer in die betroffenen Familien entsandt. Außerdem wurden Kampagnen zur Sensibilisierung gegen Blutrache und Gewalt gestartet. Wichtig war auch ein Seminar zum Thema „Der Kanun und das Gesetz“, an dem einheimische und ausländische Fachleute teilnahmen und dessen Ergebnisse in tausenden Papierkopien im Land verteilt wurden. Vielfältige Unterstützung erfahren wir von Künstlern, die mit Foto- und Gemäldeausstellungen, Lesungen, Konzerten usw. die Friedensarbeit unterstützen. An jedem 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, werden „Runde Tische“ organisiert, an denen über die Lage der Frauen und Kinder diskutiert wird. Heute können wir sagen, dass es sichtbare Erfolge gibt: Die Zahl der Blutrachefälle geht allmählich zurück, wovon natürlich auch der Staat profitiert.

Wie beurteilen Sie das aktuelle Zusammenleben der Religionen in Albanien? Mit welchen Maßnahmen unterstützt JuPax den interreligiösen Dialog?

JuPax lädt zu allen Aktivitäten auch Vertreter der anderen Glaubensgemeinschaften in Albanien ein, sowohl Muslims – die zahlenmäßige Mehrheit der Albaner – als auch orthodoxe Christen. Dies erhöht die Wirksamkeit der Maßnahmen. Die Kommission hat auch Islamexperten eingestellt, die für gute Kontakte zu den muslimischen Organisationen sorgen; damit kann sie bei Konflikten zwischen Christen und Muslims als Vermittler auftreten. Solche gab es, als albanische Studenten aus arabischen Staaten zurückkamen und extremistische Forderungen erhoben. Traditionell sind die interreligiösen Beziehungen zwischen Muslims und Katholiken gut. Außerdem hat sich der Islam in Albanien immer gemäßigt gezeigt – und schließlich ist allen Gläubigen trotz der Unterschiede eines gemeinsam: Sie sind Albaner. Natürlich hat es hin und wieder Zwischenfälle gegeben. Dennoch sind auch die Autoritäten des Islams weiterhin an einem guten Miteinander interessiert.

Auch der Umweltschutz gehört zu den Arbeitsschwerpunkten von IuPax in Albanien. Welche besonderen Maßnahmen würden Sie nennen? Bildet sich in der Bevölkerung allmählich so etwas wie ein Umweltbewusstsein heraus?

Mit „Umweltschutz“ ist ein wesentlicher Bereich der Arbeit von JuPax angesprochen, der seit Beginn der neunziger Jahre große Bedeutung gewonnen hat. Nach dem Zusammenbruch der alten Strukturen wurden Flora und Fauna skrupellos ausgebeutet, große Waldgebiete abgeholzt, wahllos Wildtiere gejagt, sodass einige schon nahezu ausgerottet sind. Abfall verwüstet die Landschaft und belastet die Siedlungen. Daher hat JuPax zusammen mit anderen kirchlichen Trägern Kampagnen zur Stärkung des Umweltbewusstseins durchgeführt, und zwar am 5. Juni, dem Internationalen Tag der Umwelt, mithilfe zahlloser Plakate und Fernsehwerbespots. Eine beispielhafte Aktion fand 1999 in Shkodrë statt; dort wurden 3.000 Kubikmeter Müll gesammelt und entsorgt. Vor Kurzem war die Stadt auch Tagungsort einer Konferenz zur Lage der Umwelt in Albanien. Die ungebremste wirtschaftliche und industrielle Entwicklung in Albanien nimmt, so lautete das Ergebnis der Konferenz, wenig Rücksicht auf die Umwelt; im Gegenteil, Albanien wird sogar zu einem negativen Beispiel für die gesamte Balkanregion.

Albanien steht damit wie fast alle Länder der Region trotz vielfältiger Unterstützung aus ganz Europa noch immer vor gewaltigen sozio-ökonomischen Problemen. Zu nennen sind Armut, Korruption, Verletzung der Menschenrechte, speziell die Rechte der Frauen. All das motiviert uns aber auch, unsere Anstrengungen zu verstärken, sodass wir mit Gottes Segen und mit Hilfe unserer Freunde eines Tages zurückschauen werden und stolz sagen: „Ja, wir haben etwas erreicht.“

Aus dem Englischen übersetzt von Christof Dahm.


Fußnote:


  1. Vgl. zum Hintergrund den Beitrag von Hildegard Sühling, S. 286 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎