Reise in die Kindheit (1988)

(Reiseimpressionen)
aus OWEP 3/2011  •  von Horst Bienek

Zusammenfassung

Auch im Werk des Schriftstellers Horst Bienek (1930-1990) steht die wechselvolle Geschichte Oberschlesiens im Mittelpunkt, besonders in der zwischen 1975 und 1982 erschienenen vierteiligen Romanreihe über seine Heimatstadt Gleiwitz. Der vorgestellte Textauszug beschreibt die Situation in Gleiwitz/Gliwice kurz vor der gesellschaftlich-politischen Wende 1989/90. Zugrunde liegt die 1993 in Gliwice erschienene Ausgabe „Reise in die Kindheit. Wiedersehen mit Schlesien“ (S. 82-85). – Zur weitergehenden Information sei auch hier auf den Beitrag von Marcin Wiatr in vorliegendem Heft verwiesen.

Ein Stadttheater, mit Sprechtheater und Operette, gelegentliche Operngastspiele aus Beuthen und Kattowitz, eine Maschinenbauschule, ein Flugplatz, ein Rundfunksender, der Klodnitzkanal, der Hafen, die Reichsautobahn, ein Druckhaus, zwei Tageszeitungen, fünf Kinos, viele Hotels, darunter das größte in der ganzen Provinz, das berühmte „Haus Oberschlesien“. Eine Verwaltungsstadt mit der Generaldirektion der VOH, der Oehringer Bergbau AG, des Berg- und Hüttenmännischen Vereins, des Kohlensyndikats, der Ballestremschen Güterdirektion, der Knappschaft.

Die reichen Leute waren sehr reich. Und die armen Leute sehr arm. In Mathesdorf gab es eine Siedlung mit Lumpen-Proletariat, die wurde „Kamerun“ genannt, weil es dort wie in Afrika zugehen sollte. Und ein paar Kilometer weiter im Norden hatten die Schaffgottschs in Flössingen ein kleines Versailles gebaut, und die Ballestrems ein kleines Sanssouci. Die Fürsten von Pleß waren noch reicher, sie sollen reicher als der alte Kaiser gewesen sein. Sie haben alles nach dem Ersten Weltkrieg verloren. Und die andern nach dem Zweiten Weltkrieg.

Heute gilt Gliwice als eine Wissenschaftsstadt. Hier gibt es inzwischen eine Technische Universität, verschiedene Fachschulen, Ingenieurschulen. Man sagt, südlich von Warschau gibt es keine bessere Ausbildungsstätte für Techniker. Aber die kulturellen Belange kamen dabei zu kurz. Es gibt kein Theater, nur Operette wird manchmal, im ehemaligen Schützenhaus „Neue Welt“, gespielt. Eine Zeitung, Partei-Organ aus Katowice, mit Kopfblatt. Nur wenige Restaurants und die sind immer überfüllt. Ein Gästehaus der Regierung am Waldbad. Kein Hotel in der ganzen Stadt. Das nächste ist in Katowice, also immerhin eine halbe Stunde entfernt. Katowice ist die Hauptstadt der Woiwodschaft Gorny Sląsk (Oberschlesien), und Gierek, der hier lange Parteisekretär war, hat hauptsächlich seine Stadt gefördert und die andern vernachlässigt. Die Kattowitzer Philharmonie zum Beispiel gilt heute neben der Warschauer als das beste Orchester Polens und gastiert häufig im Westen. Allerdings nicht im benachbarten Gliwice, denn da gibt es keinen geeigneten Saal für Konzerte.

Ich habe in Gleiwitz mit einer Gruppe von Menschen gesprochen, die sich, im Schutz der Kirche, schon vor Jahren zu einer Art Bürgerinitiative zusammengeschlossen haben. Sie haben immer wieder politische Schwierigkeiten gehabt, es hat auch schon Verhaftungen gegeben, doch im Augenblick genießen sie behördliche Unterstützung …

Der Sprecher dieser Gruppe ist Geschichtslehrer. Er ist in der deutschen Zeit hier geboren, ging zuerst in eine deutsche, dann in eine polnische Schule und hat in Krakau studiert. Er spricht fließend deutsch, mit einem leichten Akzent. Ich frage ihn, ob er sich als Pole oder als Deutscher fühle. Und er antwortet ein wenig sibyllinisch: Ich habe einen polnischen Paß.