„Ein Wort sagen, das die Menschheit nicht überhören kann.“

Auf dem Weg zur Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Sibiu/Rumänien 2007

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ökumenischen Insitut (Abt. II: Ökumenik und Friedensforschung) der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster.

Ein Blick in die Zukunft: Rumänien im September 2007. In der zweisprachigen Stadt Sibiu/Hermannstadt herrscht reges Treiben: Lutheraner aus Schweden und Slowenien; Anglikaner aus Großbritannien; Orthodoxe aus Griechenland; ein Diakon der Armenisch-Apostolischen Kirche in Deutschland; Pastorinnen und Pastoren der Methodisten und Baptisten; Vertreter der Herrnhuter Brüdergemeine aus den Niederlanden; katholische Bischöfe aus Italien, Polen und Deutschland; Mitglieder ökumenischer Basisgruppen und Jugendverbände aus Belgien und Bulgarien ... insgesamt 2.500 Delegierte und Gäste sind der Einladung der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen gefolgt und treffen nun auf der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung zusammen. „Das Licht Christi scheint auf alle – Hoffnung auf Erneuerung und Einheit in Europa“ lautet das Motto. Am Ende der Versammlung wird eine Botschaft der Delegierten an die Welt stehen, gefolgt von einem ausführlicheren Basistext: eine zwar vermutlich allgemein formulierte, aber immerhin von der Mehrheit der Christen Europas unterstützte Antwort auf die Frage, wie die „Gabe des Lichtes, die Christus heute für Europa ist“, ihre Strahlkraft und Wärme entwickeln kann angesichts der Herausforderungen der europäischen Kultur, „die heute geprägt ist von Säkularisierung und Verlangen nach Spiritualität, von religiösem Pluralismus, von dem Prozess der europäischen Vereinigung und den Verantwortlichkeiten unseres Kontinents im Gesamtkontext der Welt“.1

Der konziliare Prozess

„Wir bitten die Kirchen der Welt, ein Konzil des Friedens zu berufen. ... Auf einem ökumenischen Konzil, das um des Friedens willen berufen wird, müssen die christlichen Kirchen in gemeinsamer Verantwortung ein Wort sagen, das die Welt nicht überhören kann“ – dazu rief Carl Friedrich von Weizsäcker auf dem 21. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1985 in Düsseldorf auf und gab dem konziliaren Prozess damit sowohl ein hochgestecktes Ziel als auch eine zusätzliche Schubkraft im deutschsprachigen Raum.2 In der Tradition des konziliaren Prozesses steht die Ökumenische Versammlung in Sibiu ebenso wie die beiden Vorgängerkonferenzen in Graz (1997) und Basel (1989). Angestoßen wurde der konziliare Prozess von den Delegierten der DDR-Mitgliedsversammlung auf der VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Vancouver 1983: Sie hatten beantragt zu prüfen, ob die Zeit angesichts der Fragen von Frieden, Gerechtigkeit und Ökologie reif sei für ein allgemeines christliches Friedenskonzil. Dieser Antrag löste eine angeregte Debatte aus und führte schließlich zu der Empfehlung, die Kirchen „sollten auf allen Ebenen – Gemeinden, Diözesen und Synoden, Netzwerken christlicher Gruppen und Basisgemeinschaften – zusammen mit dem ÖRK in einem konziliaren Prozeß zu einem Bund zusammenfinden“.

Der Begriff „konziliarer Prozess“ nahm einerseits die Konnotation der Verbindlichkeit eines Konzils als allchristlicher Versammlung auf, schwächte die Wortwahl jedoch gleichzeitig ab, um auch den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche die Mitarbeit zu ermöglichen. Die Dreigliederung der Thematik wurde positiv aus dem Antrag der DDR-Delegation aufgegriffen, allerdings in einer geänderten Rangfolge: Es heißt fortan „Konziliarer Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, d. h. Gerechtigkeit wird programmatisch an die erste Stelle gerückt – ein erstes Zeichen für den Willen zu ökumenischem Lernen aus den Anliegen der Dritte-Welt-Kirchen.

Der konziliare Prozess war auf den Weg gebracht. Was nun folgte, war ein ökumenischer Aufbruch auf allen kirchlichen Ebenen. Bekannt sind die zahlreichen Treffen und Versammlungen wie das Friedensgebet der Weltreligionen in Assisi 1986 auf Einladung von Papst Johannes Paul II., der „Europäische Ökumenische Dialog für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ in Assisi 1988, die Weltversammlung der Christen in Seoul 1990; im deutschsprachigen Raum das Forum für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) im Jahre 1988 oder die drei Ökumenischen Versammlungen in Dresden, Magdeburg und erneut Dresden 1988 und 1989 auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der DDR. Der Grundgedanke des konziliaren Prozesses, dass christlicher Glaube und Weltverantwortung nicht zu trennen sind, dass ein unüberhörbares Wort, wie es diese Weltverantwortung verlangt, jedoch erst dann Gewicht und Glaubwürdigkeit bekommt, wenn es von den Christen gemeinsam gesprochen wird, überzeugt und motiviert zu ökumenisch vernetztem Wirken. Insgesamt zeichnet sich der Prozess dadurch aus, dass die wichtigen Dokumente, die erarbeitet und oft überraschend einmütig verabschiedet werden, in der Regel von der Basis durch Eingaben geprägt sind und auch zur weiteren Diskussion und Rezeption an sie zurückgegeben werden. So wächst ein vielschichtiges, aufrichtig verwurzeltes Meinungsbild innerhalb und zwischen christlichen Gruppen.

„Sternstunde“ der ökumenischen Bewegung: Basel 1989

Auf europäischer Ebene sind die Europäischen Ökumenischen Versammlungen von besonderer Bedeutung. Die Erste Europäische Ökumenische Versammlung fand im Mai 1989 unter dem Motto „Frieden in Gerechtigkeit“ in Basel statt. Getragen wurde sie und alle weiteren Europäischen Ökumenischen Versammlungen von zwei Organisationen: der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), zu der 125 verschiedene Kirchen aus allen europäischen Ländern gehören, und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE, Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae), der die römisch-katholischen Bischofskonferenzen der europäischen Länder umfasst, derzeit insgesamt 33 Bischofskonferenzen. Die Katholische Kirche, die ja kein Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen ist, trat bzw. tritt also als gleichberechtigte Mitveranstalterin auf. Zum ersten Mal verabschiedeten in Basel die verschiedenen christlichen Kirchen aller Länder Europas eine gemeinsame Botschaft zur speziellen Verantwortung der Christen auf diesem Kontinent. Das Schlussdokument3 charakterisiert zunächst die Bedrohungen von Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt. Es folgen ein Bekenntnis des gemeinsamen Glaubens und ein Sündenbekenntnis, in dem das Versagen in der Christusnachfolge und der Wille zur Umkehr zu Gott (Metanoia) bekräftigt und als heutige Verpflichtung konkretisiert werden. Schließlich formuliert die Versammlung Ausblicke auf die Zukunft und fordert u. a. den Schuldenerlass für die ärmsten Länder, die konsequente Umsetzung der Menschenrechtsabkommen und die Anerkennung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung, die Förderung kooperativer Sicherheitsstrukturen und die Reduzierung des Energieverbrauchs.

In Basel ist es gelungen, ein unüberhörbares Wort zu sprechen – insbesondere weil die Kirchen auf die politischen Herausforderungen der Zeit zu antworten verstanden. „Basel war zweifellos eine Sternstunde der Ökumenischen Bewegung. Die politische Situation stellte eine klare Herausforderung dar, einen Kairos, und die Kirchen wagten es, ihn zu ergreifen. Es ist sicher nicht übertrieben, eine direkte Linie von Dresden über Basel zum Fall der Berliner Mauer ein halbes Jahr später zu ziehen.“4

Für ein versöhntes Europa: Graz 1997

Jede weitere Veranstaltung im Rahmen des konziliaren Prozesses sollte es schwer haben angesichts der Maßstäbe, die in Basel gesetzt worden waren – diese Prophezeiung Peter Neuners hat sich nicht nur für die Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Seoul 1990, sondern auch für die Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 bestätigt. Nach den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in Europa schien ein neues gemeinsames Wort der europäischen Christenheit erforderlich. Ab 1995 wurde daher eine erneute Europäische Versammlung vorbereitet, diesmal zum Leitwort „Versöhnung – Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens“. Die Themenwahl war motiviert durch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und Tschetschenien, die Erfahrungen der wirtschaftlichen Zerrissenheit, sozialen Ungerechtigkeit, politischen Komplikationen und wachsenden generellen Verunsicherung gerade mit Blick auf die Transformationsländer Mittel- und Osteuropas. Nach der Öffnung der Grenzen konnten erstmals auch viele Frauen und Männer der Basis aus diesen Ländern teilnehmen: Sie stellten insgesamt ca. 40 Prozent der 10.000 Dauerteilnehmenden. Das Anliegen der Versammlung bestand darin, eine gemeinsame christliche Vision von Versöhnung zu entwickeln und mit Blick auf ein versöhntes Europa zur Sprache zu bringen. Auch die Frage eines versöhnlichen Umgangs der Kirchen miteinander war insbesondere für die Mehrheitskirchen in den ehemals kommunistischen Staaten akut, sahen sie sich doch mit Missionsbewegungen anderer Kirchen und der Frage des Proselytismus konfrontiert.

Die Stärke des Schlussdokuments5 von Graz ist wohl darin zu sehen, dass Versöhnungsbedarf klar erkannt und benannt wird. Bezüglich der Antworten allerdings, wie auf Versöhnung hingewirkt werden könne, bleiben Botschaft und Basistext sehr allgemein, auch wenn sich die allgemeinen Handlungsempfehlungen in konkreten Kontexten sicherlich durchaus als entschiedene, auch provokante Optionen lesen lassen, wenn es zum Beispiel heißt: „Wir wollen die tiefen Unterschiede zwischen Tätern und Opfern nicht verwischen. Wir sagen nicht, daß wir alle in gleicher Weise schuldig sind oder gelitten haben“ (Basistext A 20). Die Voten der Baseler Versammlung werden aufgenommen und bekräftigt, aber für die gewandelten europäischen Zusammenhänge – so die Kritik an Graz – nur unzureichend durchbuchstabiert, was angesichts der Vielzahl und Heterogenität der Teilnehmer allerdings kaum verwundern mag.

Die Charta Oecumenica als Band zwischen Graz und Sibiu

Die Grazer Versammlung regte in einer ihrer Handlungsempfehlungen an, ein zusätzliches gemeinsames Dokument zu erarbeiten, „das grundlegende ökumenische Pflichten und Rechte enthält und daraus eine Reihe von ökumenischen Richtlinien, Regeln und Kriterien ableitet, die den Kirchen, ihren Verantwortlichen und allen Gliedern helfen, zwischen Proselytismus und christlichem Zeugnis sowie zwischen Fundamentalismus und echter Treue zum Glauben zu unterscheiden und schließlich die Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen in ökumenischem Geist zu gestalten“ (Handlungsempfehlung I.2). Diese Empfehlung wurde ab Herbst 1998 zunächst durch eine Redaktionsgruppe von KEK und CCEE angegangen; im Juli 1999 schließlich wurde ein Textentwurf an die Mitgliedskirchen von KEK und CCEE versandt mit der Bitte, ihn auf breiter Ebene beraten zu lassen und Stellung zu nehmen. Die Handlungsempfehlung fand so in Form des vierseitigen Papiers „Charta Oecumenica“6 ihre Verwirklichung – besiegelt durch die feierliche Unterschrift der Präsidenten von KEK und CCEE am ersten Sonntag nach dem gemeinsamen Osterfest im Jahr 2001. In Deutschland wurde die Charta zudem während des Ökumenischen Kirchentages in Berlin 2003 von den Vollmitgliedern der ACK unterschrieben. Ihre Themen liegen der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung zugrunde.

Was besagt die Charta Oecumenica (CO)? Ihr erklärtes Ziel ist es, „eine ökumenische Kultur des Dialogs auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zu fördern und dafür einen verbindlichen Maßstab zu schaffen“ auf dem europäischen Kontinent, „zwischen Atlantik und Ural, zwischen Nordkap und Mittelmeer“, so besagt die Einleitung zum Dokument. Der Text beginnt mit einem trinitarischen Lobpreis und bekräftigt den gemeinsamen Glauben: „Wir glauben ‚Die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche‘“. Die gemeinsame Basis aller christlichen Kirchen wird so an den Anfang gestellt, ohne zu thematisieren, dass gerade in der Frage von Kirche und Amt der Grund liegt, warum der ökumenische Dialog ins Stocken geraten ist. Die Differenzen zwischen den einzelnen Kirchen werden zwischen den Zeilen deutlich benannt, wenn es etwa heißt: „In einigen Kirchen bestehen Vorbehalte gegenüber gemeinsamen ökumenischen Gebeten“ (CO 5). Die Charta benennt die gegenwärtigen Herausforderungen, ohne sie zu lösen. Dieses Vorgehen mag ihr als Schwäche vorgeworfen werden. Gerade darin, dass die Charta „keinen lehramtlich-dogmatischen oder kirchenrechtlich-gesetzlichen Charakter“ besitzt – dies wird ausdrücklich in der Einleitung klargestellt –, sondern auf die Selbstverpflichtung der Kirchen baut, liegt aber auch die Stärke dieses Dokuments.

Herausforderungen der Charta Oecumenica

Auf den ersten Blick erscheinen die Selbstverpflichtungen der Charta Oecumenica banal. Aus deutscher Sicht – sprich: vor dem Hintergrund eines ungefähren Gleichgewichts der großen Konfessionen und guter Erfahrungen ökumenischen Zusammenlebens – gelesen, lassen sich beispielsweise viele Passagen des „Ökumene-Knigge“7 im zweiten Teil problemlos unterschreiben. Es entspricht wohl einem selbstverständlichen zwischenkirchlichen Verhaltens- und Umgangskodex, „auf die sichtbare Einheit der Kirche Jesu Christi ... hinzuwirken“ (CO 1), „die Rechte von Minderheiten zu verteidigen und zu helfen, Missverständnisse und Vorurteile zwischen Mehrheits- und Minderheitskirchen in unseren Ländern abzubauen“ (CO 4), „die Gottesdienste und die weiteren Formen des geistlichen Lebens anderer Kirchen kennen und schätzen zu lernen“ und „dem Ziel der eucharistischen Gemeinschaft entgegenzugehen“ (CO 5) – insbesondere die hervorgehobenen Verben erleichtern in ihrer Vagheit die eigene Unterschrift noch. Dennoch ist festzuhalten, dass die Charta Oecumenica weit darüber hinausgeht, lediglich Selbstverständlichkeiten zu dokumentieren. Dies gilt nicht nur angesichts der Tatsache, dass die ökumenische und konfessionelle Situation in Europa völlig anders aussieht als in Deutschland: 90 Prozent aller Kirchen in Europa sind entweder eine große Mehrheitskirche oder eine kleine Minderheitskirche, die kaum auf Erfahrungen in regionaler oder lokaler ökumenischer Zusammenarbeit zurückgreifen können und auf die die Charta Oecumenica entsprechend wie eine kaum zu realisierende Vision wirkt.

Bei genauerem Hinsehen treten Selbstverpflichtungen hervor, die auch hierzulande alles andere als selbstverständlich sind: Nähmen wir die Selbstverpflichtung ernst, „füreinander und für die christliche Einheit zu beten“ (CO 5), und bezögen wir dieses Gebet nicht lediglich auf die abstrakte Einheit der Kirche Christi, sondern beteten tatsächlich in jedem Gottesdienst für unsere „Partnergemeinde(n)“ und ihre Verantwortlichen vor Ort – „Was mag das in den Köpfen der sonst eher selbstgenügsamen Christen bewirken?“8 Entspricht es tatsächlich dem gegenwärtigen kirchlichen Miteinander, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen“ (CO 4)? Gemeinsames ökumenisches Handeln wird hier zum Normalfall deklariert, konfessionelles Eigenleben müsste dagegen als Sonderweg eigens begründet werden – das kehrt die bisherigen Selbstverständlichkeiten auf lokaler, regionaler wie nationaler oder gar europäischer Ebene um. Die Themen der Charta Oecumenica bergen somit durchaus konstruktive Potenziale als Grundlage der Dritten Ökumenischen Versammlung in Sibiu 2007.

Die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung als Pilgerweg durch Europa

Die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung hebt sich von ihren beiden Vorgängerinnen dadurch ab, dass sie den Charakter eines Pilgerweges durch Europa trägt und sich aus insgesamt vier Stationen zusammensetzt. Die erste Station fand vom 24.-27. Januar 2006 in Rom und damit unter starker römisch-katholischer Prägung statt.9 Die anschließende zweite Station gestaltet sich in Form von lokalen, regionalen und nationalen Veranstaltungen, mit großen und kleinen Begegnungen und Projekten, mit Wallfahrten und Pilgerwegen.10 Die dritte Station vom 15.-18. Februar 2007 in der Lutherstadt Wittenberg wird die zweite konfessionelle Prägung Europas deutlich werden lassen und darüber hinaus durch die postsozialistische Situation in Ostdeutschland exemplarisch für den zunehmenden gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Kirchen stehen. Aufgabe der 150 Delegierten aus Europa wird es sein, die Ergebnisse der zweiten Station zusammenzutragen und die Versammlung in Sibiu vorzubereiten.

Die vierte Station in Sibiu vom 4.-9. September 2007 versteht sich als Abschluss des Prozesses der Dritten Europäischen Versammlung. Hier, in einer der beiden Kulturhauptstädte Europas 2007, in einem Land, das seit dem 1. Januar 2007 der Europäischen Union angehört, kommt die orthodoxe Prägung Europas zum Ausdruck. Mit ca. 2.100 Delegierten übersteigt die Delegiertenzahl jene von Basel und Graz bei weitem: Engagierte der Basis können ebenso wie kirchenleitende Personen den Status der Delegierten erhalten. Aufgrund begrenzter Ressourcen wird es hingegen nicht die Möglichkeit für Basisgruppen geben, als Gast beizuwohnen und informelle ökumenische Begegnung jenseits von Arbeitsgruppen und Foren zu erleben, wie es gerade den ökumenischen Geist von Basel und Graz belebt hat. Stattdessen soll es zeitgleich zur Versammlung in Sibiu Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Städten geben, die von den Kirchen eigenverantwortlich getragen werden. Auch wenn die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung sicherlich bleibend mit dem Ort Sibiu verbunden sein wird, ähnlich wie dies bei Basel und Graz der Fall ist, soll die abschließende Versammlung in Sibiu doch nur „wie ein Brennglas des ganzen Prozesses sein“11. Der besondere Schwerpunkt des Prozesses liegt hingegen bereits auf den nationalen, regionalen und lokalen Veranstaltungen der zweiten Station: „Hier soll die Weite und Tiefe erreicht werden, die die europäischen Kirchen und christlichen Traditionen durch Delegierte in Sibiu darstellen werden.“12

Ein Wort, das die Menschheit nicht überhören kann?

Als Teil des konziliaren Prozesses will auch die Dritte Europäische Ökumenische Versammlung in gemeinsamer Verantwortung Worte finden, die die Menschheit nicht überhören kann, sowohl in der – sich weitgehend unbemerkt vollziehenden – zweiten Station des Pilgerweges durch Europa als auch in der Abschlussbotschaft, die in Sibiu verabschiedet werden wird. Sicherlich wird es um eine ökumenische Bestandsaufnahme und um Ansatzpunkte für eine Fortsetzung des festgefahrenen, resigniert wirkenden Dialogs gehen, um belebende zwischenmenschliche Begegnung.13 Ebenso ist eine Selbstverortung der Kirchen im „religiös und kulturell vorwiegend christlich geprägte(n) Europa“ (CO 7) angeraten, insbesondere auch im Hinblick auf die Beziehungen zum Islam bzw. konkret auf die Rolle der Türkei in Europa – was die Selbstverpflichtung, „den Muslimen mit Wertschätzung zu begegnen und bei gemeinsamen Anliegen mit Muslimen zusammenzuarbeiten“ (CO 11) im Kontext der Zukunft Europas konkret bedeutet, wird kontrovers zu diskutieren sein.

Die dreifache thematische Ausrichtung des konziliaren Prozesses spiegelt sich in der Agenda von Sibiu wider und hat nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Die Bewahrung der Schöpfung steht derzeit in der globalen politischen Arena hoch auf der Agenda. Im Bereich Frieden hat sich die Diskussion seit Graz vollkommen verändert: Angesichts von Terrorgefahr, der Gefährdung von Menschenrechten im Kampf gegen den Terror und der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen außenpolitischen Positionierung im militärischen Feld wie im Bereich ziviler Konfliktbearbeitung ist ein neues christliches Wort zum Frieden geboten. Auch das Thema „Gerechtigkeit“ verlangt nach einer entschiedenen christlichen Option in den sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen: Was bedeutet Armut, innerhalb der im europäischen Vergleich eigentlich wohlhabenden westlichen Gesellschaften wie auch gerade im Gespräch der verschiedenen Erscheinungsformen von Armut in West und Ost, Nord und Süd, in Europa und der ganzen Welt? Allein das Beispiel Gerechtigkeit macht deutlich, dass die lokalen, regionalen und nationalen Perspektiven der zweiten Station nicht die Weite und Tiefe erreichen können, die in der europäischen Zusammenkunft in Sibiu lediglich dargestellt werden sollen: Gerade durch das Zusammenbringen der verschiedenen europäischen Perspektiven – der mehrheitlich armen und mehrheitlich reichen Länder, der Länder mit europäischen Außengrenzen und der Binnenländer – bekommen die Christen als europäische Stimme erst den Horizont, den Impuls und die Gelegenheit, Worte zu finden, die der gängigen selbstgenügsamen Perspektivenblindheit widersprechen und erst dann weder von West noch von Ost zu überhören sind.


Fußnoten:


  1. So heißt es im ankündigenden Brief der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen an die Mitgliedskirchen vom April 2005. Er ist dokumentiert im Materialheft „Auf dem Weg der Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung 2006/7“ für Gemeinden und ökumenische Initiativen, hrsg. v. der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Mai 2006, S. 75-77, hier S. 75. ↩︎

  2. Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, München 1986, S. 114 (zit. nach Ulrich Schmitthenner: Der konziliare Prozeß. Gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Ein Kompendium (Probleme des Friedens 1998, 1/2), Idstein 1998, S. 37. ↩︎

  3. Alle Dokumente und Berichte sind zusammengestellt in: Frieden in Gerechtigkeit. Die offiziellen Dokumente der Europäischen Ökumenischen Versammlung 1989 in Basel, hrsg. im Auftrag der Konferenz Europäischer Kirchen und des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen. Basel, Zürich 1989. ↩︎

  4. Peter Neuner: Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen. Darmstadt 1997, S. 182. ↩︎

  5. Alle Dokumente einschließlich der Minderheiterklärungen, der Beiträge in den Plenarsitzungen und der Berichte über die Arbeitsgruppen der Delegierten finden sich in: Versöhnung. Gabe Gottes und Quelle neuen Lebens. Dokumente der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz, hrsg. v. Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) durch Rüdiger Noll und Stefan Vesper. Graz, Wien, Köln 1998. ↩︎

  6. Der Text findet sich auf der deutschen Homepage zur Ökumenischen Versammlung (www.oekumene3.eu), dort sind auch verschiedene Arbeitshilfen zur Charta Oecumenica verzeichnet. Der Originaltext ist in Deutsch verfasst. ↩︎

  7. Reinhard Frieling/Klaus Peter Voß: Einführung in die Charta Oecumenica. Wie sie entstanden ist – was aus ihr werden kann, in: Arbeitshilfe zur Charta Oecumenica, hrsg. v. der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland, Frankfurt (Main), 2. Aufl. 2003, S. 3-7, hier S. 6. ↩︎

  8. Vgl. Reinhard Frieling: Neue Hoffnung für die Ökumene? Die Charta Oecumenica als Impuls für die Kirchen in Europa, in: Prüft alles, und das Gute behaltet! Zum Wechselspiel von Kirchen, Religionen und säkularer Welt, Festschrift Hans-Martin Barth, hrsg. v. Friederike Schönemann und Thorsten Maaßen, Frankfurt (Main) 2004, S. 17-40, hier S. 20. ↩︎

  9. Die 150 Delegierten dieser Auftaktveranstaltung luden in einem Brief an die Christen Europas zur Teilnahme an den weiteren Etappen ein. Der Brief ist abgedruckt in: epd-Dokumentation vom 7/2006, S. 4; zur Dokumentation von Station 1 vgl. auch das Materialheft zur 3. EÖV (wie Anm. 1), S. 79-96. ↩︎

  10. Hinweise zu den nationalen, regionalen und lokalen Veranstaltungen finden sich auf der offiziellen Internetseite der 3. EÖV (www.eea3.org) sowie auf der deutschen Homepage (www.oekumene3.eu). ↩︎

  11. Materialheft zur 3. EÖV (wie. Anm. 1), S. 15. ↩︎

  12. Ebd., S. 17. ↩︎

  13. Die höchst unterschiedlichen Vorträge von Kardinal Walter Kasper und besonders Landesbischöfin Margot Käßmann zur ersten Etappe in Rom haben das derzeitige abgekühlte gesamtökumenische Klima nüchtern benannt. Sie finden sich im Materialheft zur 3. EÖV (wie Anm. 1), S. 81-88, sowie in der epd-Dokumentation 7/2006, S. 5-15. ↩︎