Die Situation der Kirchen in der Tschechischen Republik: Das Erbe von Nationalismus und Kommunismus

aus OWEP 4/2012  •  von Peter Morée

Dr. Peter Morée ist Dozent für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag.

Zusammenfassung

Auf der tschechischen Debatte über Religion und Kirche liegen bis heute die Schatten von Nationalismus und Kommunismus; beide haben das Land im 20. Jahrhundert geprägt. Der Beitrag zeichnet die historische Entwicklung nach und zeigt auf, warum die Kirchen in der tschechischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bisher eine ziemlich unbedeutende Rolle spielen.

Reizthema „Restitution des kirchlichen Besitzes“

Bis heute ist die Situation der Kirchen in der Tschechischen Republik eng verknüpft mit der Frage der Restitution der kirchlichen Güter, die nach der Machtergreifung durch die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei 1948 beschlagnahmt worden waren. Es gibt kein politisches Thema in der Gegenwart – weder die Europäische Union, der Euro, die Finanzkrise, die Rentenreformen noch andere –, das eine so große Erregung in der tschechischen Öffentlichkeit bewirkt hat wie diese Frage.

Unter der Federführung der Schriftstellerin Lenka Procházková formulierten einige berühmte Persönlichkeiten der tschechischen Film- und Theaterwelt die Gründe für ihre Ablehnung des Restitutionsgesetzes. An erster Stelle der Petition, die inzwischen fast 2.000 Menschen unterzeichnet haben, steht eine historische Begründung: „Das Gesetz bricht mit den staatstragenden Ideen und Absichten von Tomáš G. Masaryk und anderen Mitbegründern der Tschechoslowakei über die Beseitigung des historischen Unrechts, das der tschechischen Nation widerfahren ist, u. a. durch die gewaltsame Rekatholisierung nach der Schlacht auf dem Weißen Berg.“ Ferner wird bestritten, dass die Kirchen in der tschechischen Geschichte jemals umfangreichen Besitz gehabt hätten, und auf inkonsistente Elemente des Gesetzes hingewiesen. Im Schlussteil der Petition heißt es: „In den zwanzig Jahren seit Erringung der Freiheit ist die Zahl der Gläubigen auf ein Viertel der Bevölkerung gesunken, die Anzahl der Geistlichen hingegen um 100 Prozent gestiegen und der Betrag, den der Staat für die Aktivitäten der Kirchen ausgibt, hat sich auf bis zu 1,44 Millionen Kronen pro Jahr verdoppelt. Nichtsdestoweniger will die Regierung ohne Angabe einer gesetzlichen oder historischen Begründung einen Großteil des Staatsbesitzes einigen privaten Gruppen schenken, deren Glaubwürdigkeit stark gesunken ist.“

Diese Argumentation benutzt Klischees über Religion und Kirche, die in der tschechischen Gesellschaft weit verbreitet sind. Die Interessen der (römisch-katholischen) Kirche waren (und sind) nach dieser Lesart eine Bedrohung für das tschechische Volk; als Beispiel wird die gewaltsame Rekatholisierung der Tschechen im 17. Jahrhundert ins Feld geführt. Diese Inkongruenz zwischen Volk und Kirche diente als Legitimierung dafür, dass die Kirche in der Tschechoslowakei nach 1918 viele Rechte und Privilegien verlor. Von den kommunistischen Machthabern wurde dieser Tatbestand nur bestätigt und systematisiert. Das vorliegende Gesetz zur Restitution kirchlicher Güter bildet in den Augen der Unterzeichner der Petition eine Gefährdung der Grundlagen der historischen tschechoslowakischen und der heutigen tschechischen Staatsordnung, weil es den Kirchen eine unabhängige, wirtschaftlich verankerte Machtposition einräumt.

Die Schatten von Nationalismus und Kommunismus sind lang, und aus diesem Grund gibt es auch zwanzig Jahre nach Ende des Kommunismus noch immer keinen Ausgleich zwischen Staat und Kirche. Ob der Versuch der heutigen tschechischen Regierung in dieser Hinsicht erfolgreich sein wird, ist eher fraglich.

Die Nationalisierung der Kirchen nach 1918

Allerdings lasten die Folgen von Nationalismus und Kommunismus nicht nur auf der tschechischen Gesellschaft. Auch die Kirchen tragen historischen Ballast mit sich, der ihr Handeln prägt. Ein Teil dieser Belastung hängt mit der Beziehung zwischen Volk und Staat zusammen. Nach der tschechoslowakischen Staatsgründung 1918 entstanden aus der evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses (A. B.) und Helvetischen Bekenntnisses (H. B.) – so lauteten die offiziellen Bezeichnungen in der Donaumonarchie – verschiedene neue evangelische Kirchen. Als erste wurde die „Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder“ (EKBB) gegründet, die sich als Erbe der böhmischen Reformation verstand und sich auf die Bruderunität1 berief. Aus Sicht des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Masaryk, der selbst zur evangelischen Kirche übertrat, stellte die Bruderunität den Höhepunkt der tschechischen Nationalgeschichte dar. Die evangelischen Christen waren nach dieser Geschichtsinterpretation identisch mit der Nation: Wenn die Reformation blühte, erlebte auch das Volk seine Selbsterfüllung, und wenn die evangelischen Christen wegen ihres Glauben litten, drohte der Untergang der Nation. Die neue Kirche – in ihrer Theologie überwiegend liberal und reformiert – wollte eine tschechische Kirche für das tschechische Volk sein.

Eine zweite evangelische Kirche, die aus ähnlichen Motiven entstand, war die „Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien“ (DEK). Nicht nur aus theologischen Gründen, sondern auch um damit die nationale Zugehörigkeit auszudrücken, bekannte sie sich zur deutschen Reformation. In der zahlenmäßig starken deutschsprachigen Volksgruppe der Tschechoslowakei war sie eine kleine Minderheitskirche, die sich anfangs nur mühsam mit dem Untergang der Donaumonarchie abfinden konnte. Ihre Beziehungen zum neuen Staat waren schwierig, was sich hauptsächlich in Konflikten über die offizielle Staatssprache (Tschechisch) und die kirchliche Sprache (Deutsch) ausdrückte.

Wichtig ist, dass die Reorganisation der kirchlichen Landschaft nach dem Ende der Donaumonarchie aufgrund der gleichen Motivation stattfand wie die staatliche Neugestaltung. So wie neue Nationalstaaten entstanden, wurden auch ethnisch definierte evangelische Kirchen gegründet. Ein weiteres Beispiel der Einheit von Volk und Glauben ist die 1920 entstandene „Tschechoslowakische Hussitische Kirche“, die allerdings nicht zu der evangelischen Tradition gerechnet werden kann. Sie identifizierte sich noch exklusiver als die tschechisch- oder deutschsprachigen evangelischen Christen mit der Nation und wollte nicht nur nationale Kirche sein, sondern versuchte sogar, eine nationale Religion zu entwerfen.

Mit der Konsolidierung der neuen Kirchen wurden die Grenzen der nationalistischen Begeisterung rasch deutlich. Die Abschwächung der nationalistischen Abgrenzungen hing mit der Intensivierung der ökumenischen Ausrichtung der einzelnen Kirchen zusammen. Mitgezogen in den mächtigen Strom eines politischen, gegen die römisch-katholische Kirche gerichteten Antiklerikalismus, pflegte die EKBB ihr antikatholisches Profil noch bis in die Mitte der 1920er Jahre. In der gleichen Zeit wuchs eine neue Generation von Theologiestudenten und Pfarrern im Rahmen der internationalen christlichen Studentenbewegung YMCA (Young Men‘s Christian Association) heran. Ihre ökumenischen Erfahrungen führten zu einer größeren Offenheit gegenüber anderen christlichen Traditionen.

Ähnlich entwickelte sich die DEK, der allerdings eine einheimische führende theologische Persönlichkeit fehlte. Ihre vorsichtige ökumenische Offenheit wurde in den 1930er Jahren durch die Auswirkungen des Kirchenkampfes, der nach 1933 innerhalb des Deutschen Reiches einsetzte, zunichte gemacht. Viele Pfarrer der jüngeren Generation, die ihre Ausbildung in Deutschland absolvierten, waren begeistert von der Theologie des Volkstums im Anschluss an Paul Althaus und andere Theologen, einige sogar von der Bewegung der „Deutschen Christen“. Diese Begeisterung stieß allerdings auf Ablehnung der Kirchenleitung, die eine Radikalisierung wie in der evangelischen Kirche in Österreich befürchtete. In den ersten Kriegsjahren verließen die Anhänger der „Deutschen Christen“ enttäuscht die Kirche. In der gleichen Zeit bot die Kirchenleitung Pfarrern aus dem „Altreich“, die sich wegen ihrer Zugehörigkeit zur „Bekennenden Kirche“ in Schwierigkeiten befanden, systematisch ein kirchliches Dach über den Kopf. Dazu gehörte auch ein Pfarrer mit teils jüdischer Herkunft.

Die tschechischsprachigen Kirchen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ wandten in der Beziehung zur Besatzungsmacht unterschiedliche Strategien an. Die kleineren Kirchen versuchten, sich von der Politik fern zu halten, was ohne Loyalitätserklärungen allerdings kaum möglich war. Nicht wenige Mitglieder der EKBB waren im Widerstand aktiv. Einige bekannte Persönlichkeiten aus dem Umfeld der ökumenischen Studentenbewegung wurden hingerichtet.

Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Befreiung der Tschechoslowakei im Mai 1945 führte zu einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft, der politischen Verhältnisse und der kirchlichen Landschaft. Die kommunistische Partei der Tschechoslowakei – vor dem Krieg am Rande des politischen Lebens – wurde mit der Machtübernahme 1948 zur zentralen Gestaltungskraft im Lande. Mit der Liquidierung der DEK im Kontext der Vertreibung der deutschen Volksgruppe intensivierte sich die Rivalität zwischen der EKBB und der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche, der letztlich als „politisch zuverlässigerer“ Kirche ein Großteil des Besitzes der DEK vom Staat übereignet wurde.

Das kommunistische Regime stellte die Kirchen vor ein teuflisches Dilemma der Entscheidung zwischen Anpassung und Ablehnung und beabsichtigte mit seiner Kirchenpolitik die völlige Kontrolle über das kirchliche Leben. In der Tschechoslowakei führte dies zu einer totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit der Kirchen vom Staat, der diese durch die Sicherheitspolizei (StB) und durch ein Büro (später Sekretariat) für Kirchenfragen kontrollierte. Im Grunde genommen hatten die Kirchen drei Möglichkeiten:

  • Sie weigerten sich öffentlich, mit dem Regime zusammenzuarbeiten. Die römisch-katholische Hierarchie wählte am Anfang der 1950er Jahre diese Strategie, mit der Konsequenz der Internierung von Bischöfen, der Schließung aller Klöster und zahlreicher Schauprozesse gegen Vertreter der Kirche. Langfristig führte dies zu einem Verlust der verwaltenden und theologischen Führungsschicht der Kirche und letztlich zu einer geschlossenen konservativen Kirche, die nicht imstande war, die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu rezipieren.

  • Eine andere Möglichkeit war der Rückzug in die kirchliche und theologische, jedoch ausdrücklich unpolitische Arbeit. Ein Teil der tschechischen evangelischen Christen wählte diese Haltung, meist motiviert durch eine pietistische Tradition. Sie waren allerdings von Zeit zu Zeit gezwungen, ihre Loyalität gegenüber dem Regime zu bekunden oder sich an so genannten „Friedensaktivitäten“ zu beteiligen.

  • Die dritte Möglichkeit bestand in der theologisch gerechtfertigten Akzeptanz des kommunistischen Regimes, die sich in der Betonung der Verwandtschaft im Kampf gegen soziales Unrecht ausdrückte. Am weitesten ging hier die Tschechoslowakische Hussitische Kirche, aber auch die Führung der EKBB betonte die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit. Hieraus resultierte 1958 die Gründung der „Christlichen Friedenskonferenz“ als eine ergänzende und konkurrierende ökumenische Friedensbewegung zum Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen.

Zwischen evangelischen und katholischen Christen gab es kaum eine öffentliche Solidarität außer bei denjenigen, die sich als politische Häftlinge in Gefängnissen oder Zwangsarbeitslagern getroffen hatten.

In den sechziger Jahren beteiligten sich die Kirchen aktiv am Aufbruchsprozess, der 1968 im „Prager Frühling“ seinen Höhepunkt erreichte. Die römisch-katholische Kirche und die EKBB riefen zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche auf, um eine uneingeschränkte Beteiligung der Kirchen am öffentlichen Leben zu erreichen. Die Zerschlagung des „Prager Frühlings“ und der darauf folgende Abbau der Reformen – der so genannte „Normalisierungsprozess“ – konnten die kritischen Geister in den Kirchen allerdings nicht völlig unterdrücken. Zahlreiche Pfarrer und Mitglieder der EKBB weigerten sich, ihre politischen Standpunkte aufzugeben, und begründeten dies mit der politischen Theologie von Josef L. Hromádka, des bedeutendsten evangelischen Theologen der Tschechoslowakei. Sie standen damit im Gegensatz zur Kirchenleitung, die sich gleichfalls unter Berufung auf Hromádka an die neuen Umstände anpassen wollte. 1977 führte dies zu einer harten Auseinandersetzung zwischen Pfarrern, die die Menschenrechtserklärung in Form der „Charta 77“ unterzeichneten, und der Kirchenleitung. Vielen Pfarrern wurde die Ausübung ihres geistlichen Amtes vom Staat verboten, auch die eigene Kirche und die internationale Ökumene ließ sie im Stich.

Die Kirchen nach der „Wende“

Auch die Kirchen wurden 1989 von der „Wende“ und den sich überschlagenden Ereignissen überrascht. Aufgrund der Bedeutung von Kardinal František Tomášek, der schon in den achtziger Jahren unter dem Einfluss des polnischen Papstes Johannes Paul II. dem Regime gegenüber immer kritischer wurde, spielte auf nationaler Ebene nur die römische-katholische Kirche eine bedeutendere Rolle. Auf lokaler Ebene fungierten evangelische Pfarrer und Gemeinden als Moderatoren im Prozess des Machtwechsels.

Unter den tschechischen Christen gab es große Hoffnungen, dass viele Mitbürger zur Kirche zurückfinden würden. Unmittelbar nach der Wende war tatsächlich ein erhöhtes Interesse an Religion und Kirche zu beobachten, das jedoch rasch abnahm, als deutlich wurde, dass die Kirchen nicht ausreichend auf die neue gesellschaftliche Situation vorbereitet waren. In den neunziger Jahren kamen dann zwei großen Fragenkomplexe auf die Kirchen zu, die bis heute nicht gelöst sind. Zum einen geht es um die Frage der Rolle und Schuld der Kirchen und ihrer Vertreter in der kommunistischen Vergangenheit. Lange Zeit haben sich die Kirchen als Opfer der kommunistischen Diktatur präsentiert, ohne die Frage der eigenen Verantwortlichkeit zu reflektieren; dies hat der Glaubwürdigkeit der Kirchen in der Öffentlichkeit geschadet. Zum anderen handelt es sich um die Problematik der Restitution des kirchlichen Besitzes und, damit verbunden, der Trennung von Staat und Kirche. Hier haben die Kirchen in ökumenischer Zusammenarbeit eine gemeinsame Position erreicht, die – wie eingangs bemerkt – in der Öffentlichkeit und der Politik scharf kritisiert wird. Aufgabe der Kirchen wird es sein, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie auch im Falle einer Restitution der tschechischen Gesellschaft dienen wird und kann.


Fußnote:


  1. Vgl. dazu auch die Hinweise im Beitrag von Tobias Weger, S. 247 (der gedruckten Ausgabe). Die bedeutendste Persönlichkeit der Bruderunität war Jan Amos Komenský. ↩︎