„Die Kirche muss eine geistliche, vom Geist erfüllte Kirche sein.“ Ein Gespräch mit Dominik Kardinal Duka OP

aus OWEP 4/2012  •  von Michael Albus

Dominik Duka, geboren am 26. April 1943 in Hradec Králové/Königgrätz, arbeitete nach dem Abitur zunächst als Schlosser und durfte erst nach Ableistung des Militärdienstes ab 1965 Theologie studieren. 1968 trat er geheim in den Dominikanerorden ein und empfing am 22. Juni 1970 die Priesterweihe. In den nächsten beiden Jahrzehnten war er zeitweise als Seelsorger tätig, wurde jedoch vorübergehend wegen seiner geistlichen Tätigkeit inhaftiert. Seit 1986 übernahm er verschiedene Aufgaben innerhalb des Dominikanerordens. Am 6. Juni 1998 wurde er von Papst Johannes Paul II. zum Bischof von Hradec Králové ernannt und empfing am 26. September 1998 die Bischofsweihe. Am 13. Februar 2010 wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Erzbischof von Prag ernannt und am 18. Februar 2012 in das Kardinalskollegium aufgenommen. – Die Fragen stellte Michael Albus.

Herr Kardinal, wie sehen Sie die gegenwärtige Lage der katholischen Kirche in Tschechien?

Dominik Kardinal Duka OP (Foto: Renovabis-Archiv)

Momentan ist die Kirche in Tschechien in einer Situation des Kampfes. Es ist kein Kulturkampf. Aber in Tschechien sind die Fragen des Geldes und des Eigentums immer das Hauptproblem. In dieser Hinsicht gibt es Spannungen im Parlament oder auf anderen politischen Ebenen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht das Hauptthema im Blick auf die Kirche ist.

Die Probleme der römisch-katholischen Kirche in Tschechien sind komplex. Sie haben im 20. Jahrhundert eine wechselvolle Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg sind in Böhmen 25, in Mähren 15 Prozent der Bevölkerung in die tschechoslowakische Kirche eingetreten. Im Zweiten Weltkrieg haben wir nach der Vertreibung der Sudetendeutschen wieder ein Viertel verloren. Also: Schon vor dem kommunistischen Putsch hatte die Kirche im Laufe des 20. Jahrhunderts im Rahmen der tschechischen Nation etwa 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Dann kamen die Verfolgung der Kirche und die Einführung des Atheismus in den Schulen hinzu. Nach der Wende im November 1989 mussten wir wieder bei Null beginnen. Es war eine große und schwere Aufgabe, die Strukturen der Kirche wieder neu aufzubauen: das Ordensleben, das Leben in den Diözesen und Pfarrgemeinden. Und das nun in einer Situation der Freiheit, ohne staatliche Kontrolle.

Hinzu kam in den letzten 20 Jahren die demographische Entwicklung, die massive Überalterung, der einschneidende Rückgang der Geburten. Ich sage ganz offen: Die tschechische Nation stirbt aus. Das hat auch Folgen für die Kirche ...

... Das ist auch ein Problem für die Länder im Westen Europas ...

... Ja, aber das Problem bei uns ist auch, dass im Laufe der letzten 20 Jahre, das muss man offen sagen, der Staat und die staatlichen Institutionen ihre Autorität verloren haben.

Bei der Bevölkerungszählung hat die Hälfte der Bevölkerung keine Antwort auf die Frage der Mitgliedschaft in der Kirche gegeben. Aber nach der Zahl der Taufen können wir sagen, dass 40 Prozent der Einwohner der Tschechischen Republik Christen sind. Etwa 90 Prozent davon sind römisch-katholisch. Das sind ungefähr 3,7 Millionen Menschen. Die anderen kommen aus anderen Kirchen. Es gibt die lange kulturelle Tradition der evangelischen Kirche, vor allem der Böhmischen Brüder. Hinzu kommen momentan die vielen Immigranten aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, aus der Ukraine und Weißrussland. Auf diese Weise ist die orthodoxe Kirche eine starke Kirche, auch mit politischem Einfluss, geworden.

Wir leben in einer Situation der Freiheit. Wir haben gegenwärtig etwa 100 katholische Schulen. Das sind mehr als vor der kommunistischen Diktatur. Diese Schulen sind Eliteschulen, das ist wirklich ein großer Erfolg. Wichtig ist auch die Einrichtung einer funktionierenden Caritas. Unsere Caritas ist eine Pilot-Organisation, etwa mit ihren Hospizen und den Einrichtungen für alte und kranke Leute. In diesen Bereichen wird die Kirche von allen politischen Parteien und Kräften hoch geschätzt. Da haben wir kein Problem.

Wie steht es denn mit den Kontakten zu den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, den Protestanten, den Böhmischen Brüdern, den Juden, den Muslimen, den Buddhisten?

Unsere Verhandlungen mit dem Parlament und mit der Regierung im Rahmen der Vorbereitung des Gesetzes zur Rückgabe von Kirchenbesitz haben uns eine große Chance eröffnet. Es gibt im Augenblick sehr erfreuliche und offene Kontakte mit den evangelischen Kirchen und mit den jüdischen Gemeinden, wie wir sie niemals zuvor in der Geschichte hatten. Die neue Evangelisierung ist nicht nur die Sache der römisch-katholischen Kirche. Wir waren einmal Volkskirche. Heute sind wir fauler als die kleinen evangelischen Kirchen. Viele haben mehr missionarischen Geist als unsere Kirche. In diesem Sinne muss es eine verstärkte Zusammenarbeit geben. Die Bibel ist ein Geschenk des israelitischen Volkes. Nicht nur das Alte Testament, auch das Neue. Alle waren Juden. Das ist unsere Vorlage.

Mit den anderen Religionen in unserem Land gibt es eine akademische Diskussion – ein Verdienst von Václav Havel und Professor Tomáš Halík. Wir müssen allerdings mehr auf der praktischen Ebene zusammenarbeiten, überwiegend mit den Christen aus den orientalischen Kirchen. Auch aus den arabischen Ländern gibt es Christen bei uns. Da suchen wir neue Kontakte. Der Kontakt mit dem Islam ist nicht einfach. Trotzdem haben wir schon eine Begegnung mit den Botschaftern der islamischen Länder organisiert. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir keinen für den Islam repräsentativen Gesprächspartner finden. Zahlenmäßig steht das Problem in Tschechien nicht im Vordergrund. Zu erwähnen sind auch noch die zahlreichen Vietnamesen in unserem Land, von denen etwa 10 Prozent katholisch sind. Wir unterstützen sie, auch finanziell.

Und die Sekten und kleinen Gruppen, der Okkultismus, das sogenannte Neuheidentum?

Es gibt sie. Aber sie haben auch rein zahlenmäßig keine große Bedeutung bei uns. Der Charakter unseres Volkes ist stark vom Skeptizismus geprägt.

Viele haben, zum Beispiel auch in der ehemaligen DDR, gehofft, dass nach dem Ende des Kommunismus, nach der Befreiung vom Druck der brutalen oder subtilen Verfolgung das kirchliche Leben wieder neu aufblühen würde. Diese Hoffnung wurde, wie wir heute sehen, massiv enttäuscht.

Was sind für die Kirche die noch heute wirksamen Folgen des Kommunismus?

Die Situation bei uns ist ganz anders als in der ehemaligen DDR. Die Kirche als eine Institution mit klaren Perspektiven ist nach der Wende schwächer geworden. In den Pfarrgemeinden haben wir Kraft verloren. Aber unsere Leute arbeiten als Professoren in den Universitäten, sie arbeiten in der politischen Administration, im Staat, in der Justiz, sind Seelsorger beim Militär und in den Gefängnissen. In diesem Sinne ist der Einfluss der Kirche stärker geworden.

Ein wirkliches Problem ist die Veränderung der Mentalität der Menschen durch die neuen Technologien. Die jungen Menschen bei uns bleiben in den Städten. Die jüngere Generation besteht aus Menschen, die auf den Gymnasien und Hochschulen waren. Das ist auch für die Priester eine große Herausforderung. Die Pfarrgemeinde mit einem Mann an der Spitze, der alles weiß und richtet, ist vorbei. Gefordert sind neue Formen der Kollegialität und der Zusammenarbeit. Da wächst etwas Neues in einer neuen gesellschaftlichen Situation.

Der verstorbene Kardinal König in Wien hat vor der Wende einmal gesagt, dass der staatlich verordnete Materialismus des Ostens eine ebenso große Bedrohung für die Kirche ist wie der praktizierte Materialismus des Westens. Ist nicht dieser massive Materialismus in Europa DIE große Herausforderung für die Kirche heute?

Ja, aber ich habe den Eindruck, dass immer mehr Menschen spüren, dass der Materialismus keine Gewähr bietet für das Lebensglück. In diesem Sinn bietet die Kirche einen Raum und eine Perspektive. Unser Problem ist, dass wir zu sehr auf kirchliche Statistiken fixiert sind, auf die Zahl der Gottesdienstbesucher etwa. Viele Leute sind trotz ihrer religiösen Überzeugungen nicht bereit, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Da braucht die Kirche dringend eine neue Form des Dialogs mit diesen konkreten Menschen. In diesem Sinne ist die Lage durchaus hoffnungsvoll.

Sie haben in einem Vortrag im Jahre 2010 gesagt, dass die Kontaktsuche mit diesen Menschen im Vordergrund der kirchlichen Arbeit auf allen Ebenen stehen muss. Meine Erfahrung ist, dass sich dann die Frage der Vermittlung in den Vordergrund schiebt. Die Kirche spricht für viele eine alte, verbrauchte Sprache. Die Menschen suchen aber nach neuen, nicht nur sprachlichen Ausdrucksformen. Die Menschen heute sprechen anders, haben andere Vorstellungen. Was ist da zu tun?

Eines muss man nüchtern feststellen: Unsere gegenwärtigen kirchlichen Vorstellungen sind nicht identisch mit den Vorstellungen der jüngeren Generation. Das ist auch für die Priester, die vor und in der Zeit der Wende geweiht wurden, oft ein schwieriges Problem. Ich habe Hoffnung, dass wir da langsam vorankommen. Das Problem des Generationenbruches hat es immer gegeben. Aber heute ist es aufgrund der neuen Technologien und der Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen, so stark und rasant geworden, dass es schwieriger zu bewältigen ist als je zuvor.

Kirche wird von vielen, vor allem Jüngeren, heute wahrgenommen als eine Institution, die nicht will, dass sich wirklich etwas ändert, die beharrt auf überholten Positionen, als eine Institution, der die Lebenskompetenz fehlt. Das lässt sich ablesen an den Diskussionen etwa zur Sterbehilfe oder zur Stammzellenproblematik. Wie nehmen Sie die gesellschaftliche Entwicklung wahr? Was sehen Sie positiv, was negativ?

Unsere Ängstlichkeit in der Kirche hat eine Wurzel darin, dass wir eine Institution der älteren Generation sind. Wir sind ängstlicher als die jungen Leute. Wir wollen keine Abenteuer. In dieser Hinsicht müssen wir vermitteln, dass die Kirche nicht unser „Geschäft“, nicht unser „Betrieb“, nicht unser „Besitz“ ist, sondern dass sie Gott gehört und es ihr unbedingt um die Fragen der Religion und des Glaubens geht. Dass es ihr darum gehen muss, dass Gott in allem gegenwärtig ist. Für diese Wahrnehmung von Kirche müssen wir angesichts der radikalen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen einen Raum und eine Perspektive für ein sinnvolles Lebens bieten. Mir kommt dabei ein Bild in den Sinn: Der heilige Augustinus sieht, dass vor seinem Haus in Hippo in Nordafrika die Vandalen stehen, die alles zerstören wollen. Die anderen Bischöfe sagen: Das ist das Ende der Welt, der Untergang. Aber Augustinus sagt: Nein, liebe Mitbrüder, das ist die Geburt der neuen Welt.

Was ist Ihre Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation in Europa? Tschechien ist ja auch davon betroffen, bekommt ja auch die Quittung dafür, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben.

Es gibt auch in dieser Frage einen Unterschied zwischen den westlichen Ländern und uns. Unser Problem nach einer vierzigjährigen Diktatur ist momentan, dass jede Partei, wenn sie an der Regierung ist, nach dem Muster der kommunistischen Partei verfährt. Sie denkt: Der Staat und das Land sind Eigentum unserer Partei. Das ist wirklich ein zentrales Problem in unserem Land. In den nächsten Tagen werden wir das Fest des Heiligen Wenzel begehen. Im Oratorium zu diesem Tag steht der Satz: „Er hat dieses Land geliebt.“ Die Freiheit ist Gottes Geschenk. Wir dürfen sie nicht verantwortungslos missbrauchen. Die Freiheit gibt uns auch Raum für die Liebe zur Nation, zu diesem Land, zu dieser Gesellschaft – nicht im nationalistischen Sinn. Diese Perspektive der Liebe zum Volk haben unsere Parteien verloren, allerdings nicht alle Politiker.

Wie kann man diese Perspektive zurückgewinnen?

Das ist schwierig. Nehmen wir nur einmal das Thema der so genannten Restitution der kirchlichen Güter, also der Rückgabe von Kirchenbesitz, der uns in der kommunistischen Zeit genommen wurde. Es gibt nun eine Änderung in der staatlichen Finanzierung der Kirche, wir bekommen Entschädigung in Form von Geld, wir bekommen ein paar Immobilien zurück und werden nicht mehr vom Staat bezahlt. Das ist alles. Aber das Problem ist: Es gibt keinen Dialog. Jede Partei spricht nur ihre eigene Sprache und ist nur Fan-Gruppe ihrer Mitglieder, überwindet ihre Sprachbarrieren nicht. Es gibt für sie nur die jeweils eigene Wahrheit. Das ist wie im Fußballstadion: Die Fan-Gruppen kommen nicht in Kontakt miteinander. Sie kennen nur sich.

Ich will noch einmal aus einem anderen Blickwinkel auf die zentrale Frage für die Kirche in Tschechien zurückkommen. Wie ist Ihre Vorstellung von Evangelisierung in einer solchen gesellschaftlichen Situation, wie Sie sie jetzt mehrfach differenziert beschrieben haben? Geht sie in Ihrer Vorstellung über die Institution oder, wie es in der Anfangsphase des Christentums war, mehr über Personen?

Ich bin davon überzeugt, dass auch in unserem Land alle Institutionen schwächer geworden sind. Bei uns haben in der Zeit der Diktatur verschiedene kirchliche Bewegungen auf der Ebene der Laien eine wichtige Rolle gespielt, zum Beispiel „Focolare“, „Charismatische Erneuerung“, „Comunione e Liberazione“. Das war hoffnungsvoll. Aber auch diese Bewegungen haben sich im Laufe der Zeit mehr und mehr institutionalisiert.

Wir müssen die Evangelisierung der Zeit anpassen. Sie kann nur auf der ökumenischen Ebene geschehen. Die kirchlichen Bewegungen und kleinen Gruppen werden darin eingebunden. Auch die Theologen haben und brauchen darin einen Platz. Es hat keinen Sinn, wenn wir das direkt als Institution machen. Solche Evangelisierungskampagnen haben wir schon in mehreren Städten durchgeführt. Für Prag ist so etwas im Jahre 2015 vorgesehen.

Welche vorrangigen Aufgaben sehen Sie für die Kirche in Tschechien? Wie sieht Ihre Prioritätenliste aus?

Das Erste ist, dass die Kirche wieder ihre eigene gesellschaftliche Rolle im Lande entdeckt. Wir haben – das hat eine lange Tradition, die bis in die Monarchie zurückreicht – immer mehr gekämpft für uns als Institution als für die Inhalte oder für die Gläubigen. Wir predigen zwar das bonum commune, das Gemeinwohl, aber in der Wirklichkeit denken wir nur an unsere eigene Position. Das ist Nummer 1 auf meiner Liste. Das Zweite: Die Kirche muss offen sein. Nicht nur die Türen ihrer Gotteshäuser – auch die Gottesdienste müssen eine Einladung sein. Das Dritte ist die Weitergabe des Glaubens, die Katechese. Sie muss geschehen in der Schule und in der modernen Wissenschaft.

Papst Benedikt XVI. hat mehrfach gesagt, dass die Kirche, wenn sie mit der Welt von heute in Berührung kommen will, nicht nur den Kopf braucht, sondern auch ein „hörendes Herz“.

Ja, wir müssen die Menschen annehmen, wie sie sind, und auf sie hören, nicht nur reden und sie zu überzeugen versuchen. Das ist unsere Aufgabe. Die Menschen müssen spüren, dass wir wirkliches Interesse an ihnen haben und ihnen eine Hilfe sein wollen.

Die Kirchen können planen, soviel sie wollen, doch der Glaube sagt uns, dass die Wirklichkeit ein Anderer schafft. Aber wir müssen trotzdem planen, den Blick in die Zukunft richten. Was ist Kardinal Dukas Vorstellung von einer möglichen Zukunft der Kirche?

Die Kirche muss eine geistliche, vom Geist erfüllte Kirche sein. Dazu brauchen wir unbedingt mehr Mut. Mut kommt aus dem Glauben.