Die polnisch-deutsche Krise: gibt es einen Ausweg aus der Sackgasse?

aus OWEP 4/2004  •  von Wojciech Pięciak

Der Verfasser ist Leiter des Ressorts Ausland in der Redaktion der katholischen Krakauer Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ und Verfasser mehrerer Bücher über Deutschland und die polnisch-deutschen Beziehungen.

Die Lage ist ernst. Wie ernst, das möge folgende Tatsache zeigen: im Frühjahr 2004 erschienen in vier angesehenen deutschen Zeitschriften – den Monatszeitschriften „Außenpolitik“ und „Osteuropa“, im historischen Zweimonatsheft „Deutschland Archiv“ und in „Ansichten“ (dem Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts) – Artikel, deren Verfasser einen Kollaps in den polnisch-deutschen Beziehungen diagnostizierten. Diese Schlussfolgerung, obwohl gleichzeitig von gut informierten und Polen wohlgesonnenen Personen formuliert, wäre für sich noch nichts Ungewöhnliches, denn dass sich Polen und Deutschland voneinander entfernen, ist offensichtlich. Ungewöhnlich und beunruhigend ist etwas anderes: die Lektüre aller vier Analysen hinterließ den Eindruck, als wären ihre Autoren ratlos, wie dieser Kollaps zu überwinden wäre, und ohne größere Hoffnung, dass dies in kurzer Zeit gelingt.

Doch die polnisch-deutsche Krise zieht weitere Kreise. Die emotionalen Streitigkeiten betreffen nicht mehr nur das Projekt eines Vertriebenen-Mahnmals in Berlin oder die Interpretation der Geschichte, nicht nur die Außenpolitik (Irak, EU-Verfassung) oder die Wirtschaft (Druck Deutschlands auf die Erhöhung der Unternehmenssteuern in Polen). Die Krise der Eliten überträgt sich auch auf die Bevölkerungen – wie das Janusz Reiter, ehemaliger Botschafter Polens in Deutschland, sagte: Die Deutschen haben heute völlig aufgehört, die Polen zu verstehen, während die Polen völlig das Vertrauen zu den Deutschen verloren haben.

Aber weshalb? Schließlich kennzeichnen Meinungsunterschiede nicht nur die polnisch-deutschen Beziehungen; es genügt auf die Deutschen und Briten zu schauen. Und dennoch sind die britischen und deutschen Eliten fähig, in einer Sprache zu kommunizieren, und die Streitigkeiten schlagen in keinen „Stellungskrieg“ um, dessen Temperatur zur Überlegung nötigt, ob der auf alle mögliche Art und Weise in den vergangenen 15 Jahren bei vielfältigen politischen „Sonntagsreden“ durchdeklinierte Prozess der polnisch-deutschen Versöhnung tatsächlich vollzogen wurde.

Ursache und Symptom

Aber vielleicht ist es so, dass die zwischen Polen und Deutschland in den letzten Jahren strittigen Fragen – wiederholen wir nur jene berühmtesten: Irak, Zentrum gegen Vertreibungen, EU-Verfassung – nicht die Ursache der Krise sind (wie man gemeinhin denkt), sondern ihr Symptom. Der Unterschied ist hier um so wesentlicher, denn wenn die zweite Antwort zuträfe, müsste man die faktischen Ursachen anderswo suchen.

Zum Beispiel darin, dass nach 1945 in Deutschland (Westdeutschland, nach 1990 im vereinten Deutschland) nie eine gesellschaftlich-politische Debatte über die Politik gegenüber Polen stattgefunden hat, auch über die Geschichte nicht; eine Debatte, die dann eine Umsetzung in Politik oder gesellschaftliches Bewusstsein gefunden hätte. Die Deutschen (die Westdeutschen, später die vereinten Deutschen) debattierten über ihr Verhältnis zu den Juden, zu den Franzosen, zu den Amerikanern – aber nicht zu den Polen.

Es trifft zu: Vor 1989 gab es in Deutschland einige Momente, in denen es schien, dass sich solch eine Diskussion entwickeln wird, z. B. 1965 nach der Veröffentlichung der evangelischen Denkschrift und des Briefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Mitbrüder. Aber die Diskussion, die damals begann, betraf im Grunde wenn nicht eine „Nische“, so doch nur eine schmale gesellschaftliche Gruppe – und sie veränderte wenig (man denke an die – in polnischen Augen enttäuschende – Antwort der deutschen Bischöfe an die polnischen Oberhirten). Und sowohl die Diskussionen von 1965 als auch die berühmte Ost-Debatte Anfang der Siebziger (vor der Ratifizierung der von Brandt mit der UdSSR, Polen und der Tschechoslowakei geschlossenen Verträge durch den Bundestag) hatten ein gemeinsames Merkmal oder – vom polnischen Gesichtspunkt – ein Manko: Immer wenn vor 1989 in der (west-)deutschen Diskussion über den „Osten“ ein polnischer Faden auftauchte, dann als Ableitung der Politik gegenüber der UdSSR (abgesehen von Aktivitäten solcher Gruppen wie Pax Christi oder Aktion Sühnezeichen-Ost). Und dann, nach 1989/1990, erkannten die Eliten beiderseits der Oder rasch, dass die Versöhnung und die von Krzysztof Skubiszewski (dem ersten nichtkommunistischen Außenminister Polens) verkündete polnisch-deutsche „Interessengemeinschaft“ etwas Selbstverständliches sei.

Heute jedoch sind diese Selbstverständlichkeiten zu Ende, auch in Polen, wo – nachdem das Land seine nach 1989 wichtigsten Ziele (NATO und EU) erreichte – eine gewisse Konfusion hinsichtlich der weiteren Prioritäten der Außenpolitik einsetzte.

Was kann man jetzt tun? Zuerst muss man sich daran gewöhnen, dass in den polnisch-deutschen Beziehungen eine „neue Sachlichkeit“ (Henning Tewes) begonnen hat und nichts mehr automatisch sein wird. Sodann kann man sich darum bemühen, dass die Krise wenigstens etwas Schöpferisches hervorbringt (in der Psychologie gibt es dazu einen Begriff: „schöpferische Zerstörung“).

Nur wie? Hören wir, was ein gewisser Gary Smith – Direktor des Berliner Büros der American Academy (einer der vielen Institutionen aus den USA, die in der deutschen Hauptstadt ein politisches Lobbying betreiben) – dem „FAZ“-Reporter antwortete, als dieser nach einem Rezept für die Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen fragte („FAZ“ vom 29.06.2004). In Zukunft, so Smith, werde zwischen Deutschen und Amerikanern nichts mehr selbstverständlich sein und man dürfe nicht die Hoffnung haben, dass Deutschland und die USA weiterhin „natürliche Partner“ seien. Aber weil er, Smith, Optimist sei, sehe er die Situation als Chance. Für den Anfang schuf er in seiner Academy ein Diskussionsforum und organisierte Begegnungen der Eliten, z. B. deutscher und amerikanischer Analytiker des Nahen Ostens. Hat das etwas gebracht? Das sei weniger wesentlich. Wichtiger sei, dass Deutsche und Amerikaner einen Ort für das Gespräch hätten. Das Thema aber werde sich stets finden lassen ...

Könnte ein polnischer Gary Smith nicht eine ähnliche Diskussion veranstalten, z. B von polnischen und deutschen Analytikern zum Thema Ukraine? Nein, leider. Denn in Berlin gibt es weder einen polnischen Smith noch eine solche polnische Academy. Es besteht nur das Polnische Kulturinstitut (aktiv, aber mit begrenzten Möglichkeiten und mit dem Schwerpunkt Kultur) sowie eine mit zwei Personen besetzte Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften (arm und am Rande Berlins). Dagegen gibt es keine polnische Institution – weder eine, die sich mit der Gegenwart, noch eine, die sich mit der Geschichte beschäftigt –, die ein Pendant zu Dutzenden amerikanischen, jüdischen, französischen, britischen, ja sogar russischen Zentren wäre. In den zurückliegenden 15 Jahren ist keine polnische Regierung und keine polnische nichtstaatliche Institution auf den Gedanken gekommen, dass man Geld ausgeben müsste, um in Berlin solch eine polnische Akademie zu schaffen. Das wäre ein kleiner Schritt. Aber man muss irgendwie anfangen ...

Preußische Treuhand und die Folgen

Eine solche polnische Institution in Berlin könnte sich nicht nur mit einer vorpolitischen Arbeit beschäftigen, sondern auch mit Geschichte. Denn die Geschichte bleibt weiterhin Streitpunkt zwischen Polen und Deutschen – sogar mehr als vor 15 Jahren.

Man kann lange nach Erklärungen suchen, warum das so ist (und ob es ein polnisch-deutsches Phänomen ist – oder ein Teil eines umfassenderen Prozesses einer „Rückkehr der Geschichte“, die in verschiedenen Ländern Europas zu beobachten ist). So oder so, man muss die folgende Tatsache anerkennen: Nicht nur der polnische, sondern auch der britisch-amerikanische Diskurs über Geschichte entfernt sich vom deutschen historischen Diskurs. Wobei aber – im Unterschied zu den britisch-deutschen und amerikanisch-deutschen Beziehungen – im Fall der Polen und Deutschen die historische Diskussion zusätzlich einen „zweiten Boden“ hat: die Frage der deutschen Ansprüche gegenüber Polen (und einer eventuellen polnischen Antwort). Die Tatsache, dass solche Ansprüche in Deutschland von einer kleinen Gruppe angemeldet werden (die Preußische Treuhand und im Falle der Tschechen die so genannte Sudetendeutsche Initiative), kann die Polen (und Tschechen) nicht trösten. Denn selbst wenn es nur einer kleinen Gruppe vor irgendeinem – polnischen oder europäischen – Gericht gelingt, einen rechtlichen Präzedenzfall zu erzielen, wird es dann ohne Bedeutung sein, ob da eine Person oder tausend geklagt haben.

Jemand könnte darauf antworten: Recht ist Recht, wenn das Gericht (in Straßburg oder Warschau) einem deutschen Kläger Recht gibt, dann müsse Polen den deutschen Vertriebenen das Eigentum wiedergeben oder zumindest eine Entschädigung zahlen.

Aber das ist nur scheinbar so einfach. In Wirklichkeit würde solch ein Urteil die Hölle entfesseln: Es zwänge Polen zu Reparationsforderungen an Deutschland für Kriegszerstörungen. Der Wert solcher Reparationen ginge zweifellos in die Hunderte Milliarden Euro oder noch mehr, denn so groß waren die materiellen Verluste, die Polen in den Jahren 1939-1945 davontrug. Deutschland hat dafür nie gezahlt. Dagegen ging – man beachte das! – 1990 die Kohl-Regierung von der (offen nie geäußerten) Voraussetzung aus, dass die Übernahme der deutschen Ostgebiete durch das „westverschobene“ Polen eine Form von Reparationen war. Für alle Bundesregierungen war das eine bequeme, aber nicht faire Lösung – denn gleichzeitig standen die Bundesregierungen auf dem Standpunkt, dass die Frage privater Ansprüche von Deutschen gegenüber Polen offen sei; sie, die Bundesregierung, könne auf solche Ansprüche nicht verzichten. Beachten wir jedoch, dass ein solcher Standpunkt in zweifacher Hinsicht unehrlich ist – erstens unehrlich gegenüber Polen (das sich vielleicht Ansprüchen der Preußischen Treuhand stellen muss), zweitens unehrlich gegenüber den deutschen Vertriebenen, die nach 1945 mit ihren privaten Vermögen de facto für jene Schäden „bezahlten“, die der deutsche Staat dem polnischen Staat zugefügt hat.

Die Lage Polens wird zusätzlich durch die Tatsache verschlimmert, dass es kürzlich vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gezwungen wurde, den eigenen Vertriebenen – d. h. den Polen, die nach 1944-1945 von der UdSSR aus den polnischen Ostgebieten (Kresy) vertrieben wurden, Entschädigung zu zahlen. Andererseits steht Polen vor der Perspektive, dass es gezwungen werden kann, an die deutschen Vertriebenen zu zahlen.

Diese – unter historischem, moralischem und politischem Gesichtspunkt – kuriose Situation resultiert daher, dass Polen in den Jahren 1945-1989 kein souveräner Staat war. Gleich nach 1945 wurde es von Moskau gezwungen, Verträge mit den Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland zu schließen, kraft deren die Last von Zahlungen an die vertriebenen Polen nicht den Sowjets, sondern Warschau aufgebürdet wurde. Andererseits zwangen die gleichen Sowjets in den fünfziger Jahren die Regierung in Warschau, auf Kriegsreparationen zu verzichten, die Polen theoretisch aus dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, hätte einfordern können (der Kreml wollte nicht, dass nach dem Juni 1953 der Aufbau der DDR belastet wird). Deshalb meinen heute viele polnische Juristen, dass Polen theoretisch die Reparationsfrage heute neu eröffnen könnte.

Den eigenen Vertriebenen und zugleich den vertriebenen Deutschen eine Entschädigung zu leisten – das kann Polen heute nicht (zumal es 1945 nicht über die Gestalt seiner Grenzen entscheiden konnte). Konfrontiert mit deutschen Ansprüchen, kann die polnische Regierung keinen anderen Ausweg haben, als eigene Ansprüche an den deutschen Staat zu stellen.

Hier würde nur eins die Lage entschärfen: wenn der deutsche Staat die privaten Ansprüche der deutschen Vertriebenen übernehmen und in einer gesetzlichen Form regeln würde. Ob das möglich ist? Bisher behauptete jede Bundesregierung: nein, denn das könnte jeden Bundeshaushalt sprengen. Jetzt aber, nach der Rede von Bundeskanzler Schröder in Warschau (anlässlich des 60. Jahrestages des Warschauer Aufstands), begann in Deutschland eine längst fällige deutsch-deutsche Debatte über dieses Problem. Möge sie nur rasch eine Lösung bringen! Denn sollte die Preußische Treuhand Erfolg haben, dann könnte sich erweisen, dass der seit Jahren andauernde deutsch-polnische Streit um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) nur ein unschuldiges Vorspiel war ...

Die neue deutsche Erinnerungskultur

Was keineswegs bedeutet, dass der Streit um das Projekt des „Zentrums“ nicht wichtig ist. Im Gegenteil.

Gehen wir einige Jahre zurück. Seit dem Ende der neunziger Jahre verbreitet sich in Deutschland ein Phänomen: die Erinnerung an die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die Debatte über die Initiative des Bundes der Vertriebenen ist nur ein (und wohl nicht das wichtigste) Element dieses Phänomens. Um es kurz zu sagen: die deutsche kollektive Erinnerung wird heute aufs Neue geschaffen, und dies ist eine Erscheinung im Maßstab der ganzen Gesellschaft. Sie umfasst vier grundsätzliche Themen, in denen Deutsche als Opfer die Erfahrung fast jeder Familie spiegeln: 20 Millionen unterm Bombenhagel, 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, 2 Millionen vergewaltigte Frauen, 10 Millionen Kriegsgefangene.

Wohl für alle sichtbar wurde dieses Phänomen nach dem Kosovo-Krieg und avancierte in den folgenden Jahren zum Kanon des politisch und historisch „Korrekten“. Oder anders: zu dem, was sowohl in der öffentlichen Meinung akzeptiert ist wie auch in der veröffentlichen Meinung und damit auch in der vorpolitischen Sphäre. Mehr noch: Diese Tendenz umfasst nicht nur rationell-intellektuelle Überlegungen, sondern auch (wenn nicht vor allem) gesellschaftliche Emotionen.

Heute lässt sich schwer sagen, welche Form diese neue deutsche Erinnerung annehmen wird. Trotzdem kann man heute schon einige Thesen aufstellen. Zunächst: Die „deutsche Frage“ ist aktuell. Diesmal geht es nicht um Staatsgrenzen, sondern um die Grenzen der Erinnerungs-Landschaft, die nach 1990 entsteht. Heute ist es für jeden offensichtlich, dass die Wiedervereinigung keine mechanische Vergrößerung der Bundesrepublik um die ehemalige DDR war (wie anfänglich viele meinten), sondern dass eine neue Qualität entstand: ein vereinigtes Volk, das nicht nur seine Außenpolitik neu definiert, sondern auch die Identität. Prof. Dr. Zdzisław Krasnodębski, Soziologe und Deutschlandkenner, stellte sogar die These auf, dass wir erst jetzt – vereinfachend gesagt – das „wahre Gesicht“ der Deutschen erkennen: nicht nur ihre Prioritäten in der Außenpolitik, sondern auch ihre kollektive Erinnerung, die sich ohne Einschränkungen der Jahre vor 1990 ausdrücken kann.

Neue Grenzen, neue Paradigmen, eine neue Sprache – das sind Schlüsselfragen in Bezug auf historische Diskussionen, deren gemeinsamer Nenner es war, „zum Denken an die Deutschen als Opfer zurückzukehren“. Vom polnischen Gesichtspunkt aus ist die umstrittenste Erscheinung dieser „Rückkehr“ die BdV-Idee, in Berlin etwas zu errichten, was „Zentrum gegen Vertreibungen“ heißen soll, was aber in Wirklichkeit, selbst wenn die Organisatoren diese Intentionen nicht haben, mit der Zeit zu einem Mahnmal der deutschen Vertriebenen wird.

Weshalb beunruhigt das Projekt des „Zentrums“ die Polen? Auch deshalb, weil sie sehen, dass die Grenzen der neuen deutschen Erinnerung mehr oder weniger nur in Bezug auf eine Sphäre definiert werden: auf den Holocaust, d. h. auf die Einstellung zu den Juden (aber nur zu den toten, nicht mehr zu den lebenden, wovon die in Deutschland immer allgemeiner werdende Kritik an Israel zeugt).

Während jedoch der Holocaust ein festes Element ist – im Unterschied zu den fünfziger Jahren, als darüber geschwiegen wurde –, sind eigentlich alle anderen Erinnerungssphären offen. Darunter auch die Erinnerung an die polnisch-deutsche Geschichte: die Art, wie über sie gesprochen wird, was akzentuiert, was wahrgenommen wird.

Vom polnischen Gesichtspunkt aus – genauer: vom Gesichtspunkt der Polen aus, die die polnisch-deutsche Versöhnung für eine weiterhin aktuelle Aufgabe halten – heißt die Frage nicht, ob sich die Deutschen an ihre Opfer erinnern dürfen. Entgegen der (leider wohl verbreiteten) Überzeugung in Deutschland spricht die Mehrzahl der Polen den Deutschen gar nicht das Recht auf solche Erinnerung und Trauer ab; es gab viele Umfragen, die das belegen. Mehr noch: Recht hatte der Historiker Arnulf Baring, der sagte, wenn von Geschichte die Rede sei, litten die Deutschen an einer „emotionalen Störung“, und sie gewönnen das Gleichgewicht erst, wenn es ihnen – nach Übernahme der historischen Verantwortung für NS-Verbrechen – gestattet werde, auch an die eigenen Opfer zu erinnern.

Aber auf diesem Weg (um eine solche Metapher zu gebrauchen) kann es unterschiedliche Wegweiser geben, und die neue Erinnerung, die (erneut, wenn auch anders als vor 40 Jahren) die eigenen Opfer integriert, kann verschiedene Gesichter haben. Die Frage lautet jedoch nicht – wiederholen wir das, denn es ist wichtig – „ob“, sondern „wie“ die Deutschen sich erinnern. Und dass es vom polnischen Gesichtspunkt aus fatal wäre, wenn ein solches Denken, wie es Erika Steinbach präsentiert, in den Rang dieser neuen Normen erhoben würde.

Wenn man das BdV-Projekt als Teil der offiziellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik akzeptiert – und darum geht es ja dem BdV, nicht um den Bau eines weiteren Heimatmuseums –, dann würde dies in polnischen Augen eine historische „Adelung“ des BdV bedeuten. Das wäre so, als würde die Bundesregierung einer solchen Organisation recht geben – mit dieser und keiner anderen Vergangenheit und mit dieser Einstellung gegenüber den östlichen Nachbarn sowie mit der aggressiven Politik, die der BdV jahrzehntelang führte, was darin zum Ausdruck kam, dass man das Recht der Polen auf ein Leben in sicheren Grenzen untergrub und jenen Steine in den Weg legte, die in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren für die Versöhnung wirkten. Bevor der BdV mit dem Bau seines „Zentrums“ beginnt, sollte er seine eigene Vergangenheit 1945-1990 kritisch aufarbeiten.

Polen und die neue Gedenk-Landschaft

Polen ist das Land, dem gegenüber die Deutschen ein besonderes Verantwortungsgefühl haben sollten. Es geht nicht nur um die in den Jahren 1939-1945 begangenen Verbrechen, sondern um langfristige Folgen deutscher Politik gegenüber Polen im Laufe der vergangenen 300 Jahre, bis hin zum Jahr 1989 (und gewissermaßen bis zum 1. Mai 2004, d. h. zum Beitritt Polens zur EU).

Janusz Reiter schrieb: „Entgegen den in Polen vorwiegenden Vorstellungen ist Politik nicht nur ein Spiel der Interessen. Es gibt in ihr auch eine Sphäre moralischer und historischer Gründe. Dies betrifft besonders Deutschland. Nach der Vereinigung wich es nicht von dem Wege ab, den die westliche Bundesrepublik gegangen war. Gleichzeitig aber verwandelten die Vereinigung, der Sturz des Kommunismus und der Generationswechsel das deutsche Bewusstsein, indem sie auch der deutschen Politik größere Freiheit gaben.“ Wenn das vereinigte Deutschland größere politische Freiheit erhält, ist die Frage unausbleiblich, wie es davon Gebrauch macht. Darauf kann man kaum antworten, ohne auf die Geschichte zurückzugreifen. Auch deshalb sind die deutschen Diskussionen, die nach 1990 geführt werden – wie Reiter nachweist –, „im Grunde ein Streit um die Zukunft“. Indes wird in Europa noch lange das Prinzip verpflichtend sein: „Sage mir, was du über Geschichte weißt, und ich sage dir, wo du hinwillst.“

Doch das Wissen über Polen ist heute in Deutschland verschwindend gering, auch das Wissen über Geschichte. Deshalb ist das Projekt „Zentrum gegen Vertreibungen“ für die Polen auch aus folgendem Grund wichtig: Wenn es zustande käme, wenn ein solches „Zentrum“ nach dem BdV-Konzept entstünde, dann werden zwei Orte symbolisch das deutsche Erinnern in Berlin kennzeichnen. In 50 Jahren werden beide – als Holocaust-Mahnmal sowie als Mahnmal der deutschen Vertriebenen – eine Eigendynamik entwickeln und die Vorstellungswelt künftiger Generationen formen. Sie werden das Zentrum Berlins dominieren, das auch eine „Erinnerungs-Landschaft“ ist, bestehend aus einer Reihe nach 1990 entstehender Denkmäler und Museen.

Polen ist in dieser „Landschaft“ nicht präsent. Daneben, wie gesagt, ist das Wissen darüber, was im besetzten Polen zwischen 1939 und 1945 geschah (und das Wissen über die polnisch-deutschen Beziehungen in den vergangenen 300 Jahren) in Deutschland gering, sogar bei den Eliten. Das ist kein Ausdruck polnischer Obsession, sondern Feststellung einer Tatsache. Bezeichnend ist, dass sie in den letzten Jahren eigentlich von allen polnischen Deutschlandkennern festgestellt worden ist (sowohl linken als auch konservativen; sowohl denen, die den Deutschen geneigt sind, als auch denen, die Distanz gegenüber den Deutschen pflegen).

Man kann sich über die Ursachen eines solchen Zustands Gedanken machen, aber es ist eine Tatsache, dass im deutschen Eigenbewusstsein sowie in der öffentlichen Debatte Polen und die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen im 20. Jahrhundert fast abwesend sind. Und nicht nur das. Die deutschen Eliten kennen auch das zeitgenössische Polen kaum. Während in Polen in letzter Zeit die Zahl der Deutschlandkenner gewachsen ist (die Gruppe von Politologen oder Historikern, die das heutige Deutschland kennen, ist recht zahlreich), während nach 1989 in Polen eine Vielzahl von Arbeiten über Deutschland (auch über Vertreibung) erschienen ist, ist es in Deutschland anders: hier erstreckt sich – außer einer schmalen Gruppe von ausgezeichneten Polen-Kennern – eine Wüste, die durch Stereotypen ersetzt wird.

Ein kleines Beispiel: Als im Sommer 2003 in den deutschen Medien ironisch darüber berichtet wurde, dass Polen „seine“ Zone im Irak erhält, da erinnerte sich niemand daran, wie das 1945 war, als Frankreich – der Staat, der während des Zweiten Weltkriegs kaum kämpfte, dessen Armee 1945 unvergleichlich kleiner war als die an verschiedenen Fronten stehenden polnischen Einheiten, ein Staat, der mit den Deutschen kollaborierte (es geht nicht nur um Vichy, sondern auch um französische Firmen, die für Geld Bunker in der Normandie bauten, vor denen dann am D-Day junge Amerikaner starben) – 1945 nicht nur „seine“ Zone im besetzten Deutschland erhielt, sondern auch das Recht auf Besitz von Atomwaffen und einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Um eine unschöne deutsche Redewendung zu paraphrasieren: Die Franzosen kamen im Jahre 1945 zu ihrer Großmachtstellung wie eine Jungfrau zum Kind ... Im Vergleich zu dieser „Leistung“ ist die Tatsache, dass Polen „seine“ Zone im Irak erhielt, in der Tat eine mehr als bescheidene „Errungenschaft“ (auch wenn man Gefahren, hier und dort, berücksichtigt).

Polen als Prüfstein

Kein anderer als Adam Krzemiński – der in Deutschland bekannte und den Deutschen wohlgesonnene polnische Deutschlandkenner – stellte kürzlich die These auf, das Verhältnis Deutschlands zu Polen werde zum Prüfstein für die neue deutsche „Erinnerungs-Politik“ im 21. Jahrhundert. Nicht das Verhältnis zum Holocaust, der ein Axiom sei, sondern gerade zu Polen. Weshalb Polen? Weil Polen, so Krzemiński in der Wochenzeitung „Das Parlament“, als erstes Opfer der deutschen Aggression Widerstand leistete und vom ersten bis letzten Kriegstag Mitglied der Anti-Hitler-Koalition war. Polen erlitt auch die relativ größten menschlichen und materiellen Verluste unter den Kriegsteilnehmern. Indes nimmt Polen in der heutigen deutschen Erinnerung einen peripheren Platz ein. Krzemiński erinnerte an Worte des Historikers Hans-Ulrich Wehler, der gesagt hatte, die deutschen Abiturienten und Studenten wüssten von den sechs Millionen ermordeten Juden, aber „wenn wir ihnen sagen, dass während des Krieges jeder fünfte Pole sein Leben verlor und dass bereits am Anfang des Krieges 800.000 Polen aus den von Deutschen besetzten Gebieten vertrieben wurden, dann stoßen wir auf Unwissenheit und Erstaunen“.

In diesem Sinne hatte Marek Edelman, der letzte noch lebende Anführer des Aufstands der Warschauer Juden von 1943, recht, wenn er in einem Interview sagte, bevor die Deutschen in Berlin ihren Vertriebenen ein Denkmal setzten, sollten sie zuerst die polnischen Opfer beweinen.

Anderenfalls wird die heutige Verbitterung Władysław Bartoszewskis sowie Marek Edelmans zum „Erkennungszeichen“ der neuen deutschen Erinnerung. Dann aber wird man das Werk der polnisch-deutschen Versöhnung tatsächlich von neuem beginnen müssen.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.