Ein Glaube, viele Gesichter: Islam in Zentralasien

aus OWEP 3/2018  •  von Jeanine Dağyeli

Dr. Jeanine Dağyeli ist Zentralasienwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin. Sie stellte auch die Abbildung zur Verfügung.

Zusammenfassung

Die fünf zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan haben eine lange islamische Tradition, die wenig bekannt ist. Die Umbrüche der letzten knapp dreißig Jahre haben nicht nur zu einem Wiederaufleben des religiösen Lebens geführt, sondern auch zu innerislamischen Debatten um die richtige religiöse Praxis.

Von Zentralasien ist in Deutschland nicht oft die Rede. Trotz diverser Anstrengungen, sich als Tourismusziel und Wirtschaftsstandort zu etablieren, sind die fünf ehemals sowjetischen zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan weiterhin kaum bekannt. Wenn sie es doch einmal in die Nachrichten schaffen, dann in den letzten Jahren häufig im Zusammenhang mit Islamismus. Sicherheitsexperten warnten vor etlichen Jahren, junge zentralasiatische Männer seien in großer Zahl nach Syrien und Irak ausgereist, um sich dort dem so genannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen, und leider wurden etliche der weltweit verübten islamistischen Anschläge von Zentralasiaten verübt. Gleichzeitig werden diesen fünf Republiken von Menschenrechtsorganisationen regelmäßig Verstöße gegen die Religionsfreiheit vorgeworfen; der Vorwurf, Islamist zu sein, wird tatsächlich häufig als Vorwand genutzt, um unliebsame Kritiker ins Gefängnis zu bringen. In der Selbstwahrnehmung und Außendarstellung preist Zentralasien dagegen in der Regel die Toleranz der einheimischen Religionsausübung, die stark vom Sufismus, der mystischen Strömung des Islam, geprägt ist.

Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan werden außerhalb der Region häufig als ein einheitlicher Block angesehen; eine Wahrnehmung, die sich auch in der leicht herablassenden Bezeichnung „die Stans“ ausdrückt. Auch wenn diese Staaten eine gemeinsame sowjetische und eine lange gemeinsame Vergangenheit teilen, die sie unter anderem auch mit Afghanistan und der ujghurischen Region Xinjiang in Westchina verbindet, so sind diese Länder doch in den letzten 27 Jahren teils sehr unterschiedliche Wege gegangen, was sich auch in der Art und Weise, in der der Islam betrachtet und gelebt wird, niederschlägt. Um zu verstehen, was Islam heute für Menschen und Politik in der Region bedeutet, hilft es, sich die Umbrüche und Entwicklungen dieser letzten Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der fünf Republiken ansehen.

„Zwischen Marx und Muhammad“

So lautet der Titel eines 1995 erschienenen Buches des indischen Publizisten Dilip Hiro, der symbolisch die Situation in der Umbruchszeit einfing, in der Menschen zwischen einem quasi-religiösen Glauben an den Kommunismus und einer neuerwachenden Begeisterung für die eigene islamische Tradition changierten. Die wirtschaftliche Krise, in die viele Zentralasiaten stürzten, das ideologische Vakuum und eine fast blinde Bereitschaft, alle vermeintlichen Patentrezepte, die von außen kamen – seien es wirtschaftliche, politische, soziale oder religiöse –, als überlegen zu akzeptieren, waren symptomatisch für das Leben in jener Zeit.

Die Suche nach den prägenden Jahren für das heutige Verständnis von Religion und Religionsausübung in Zentralasien führt zurück in die Zeit von Gorbatschows Glasnost und Perestroika. Auch in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken, die innerhalb der Sowjetunion als konservativ und besonders Moskau-hörig galten, war dies eine Zeit, in der bislang Unansprechbares gesagt werden konnte. Im Gegensatz zu den vorherrschenden, auch im Ausland wahrgenommenen Debatten über politische und wirtschaftliche Reformen drehte sich die teils heftige Diskussion in Zentralasien allerdings vorwiegend um den Zustand und die Rolle des eigenen kulturellen Erbes. Zum einen wurde über die kulturelle Hegemonie alles Russischen und die Entfremdung der Zentralasiaten von ihrer eigenen Tradition geklagt, darunter auch – zunächst noch nicht explizit angesprochen – vom Islam. Zum anderen wurden hier bereits die Brüche sichtbar, die zu den angespannten politischen Beziehungen der Länder Zentralasiens untereinander führen sollten. Gleichzeitig gelangte während der 1980er Jahre erstmals seit etwa fünfzig Jahren wieder islamische Literatur nach Zentralasien. Vieles davon kam unter der Hand ins Land; die Bücher und Schriften wurden von den wenigen Pilgern, denen die Haddsch nach Mekka genehmigt worden war, mitgebracht. Sie stammten überwiegend aus Saudi-Arabien und transportierten die dortige wahhabitische Doktrin beziehungsweise ihr nahestehende Auslegungen nach Zentralasien.

Ermutigt durch diese geistige Unterstützung und in einer merkwürdigen, unbeabsichtigten Allianz mit Politikern und Reformern, begannen puristisch gesinnte Islamgelehrte besonders in Usbekistan, wo sich die meisten traditionellen Zentren islamischer Bildung in Zentralasien befinden, gegen „unislamische Praktiken“ im so genannten Volksislam vorzugehen, Praktiken also, die von vielen Menschen in Zentralasien als islamisch angesehen wurden, dies aber in den Augen von Puristen nicht waren. Dazu gehörten und gehören bis heute unter anderem das Pilgern zu lokalen Heiligenschreinen, eine Reihe von Begräbnisritualen und Aussprechen von Fürbitten.

Ob beabsichtigt oder nicht, der Kampf gegen das vermeintlich Unislamische trifft besonders die Religionspraxis von Frauen. 1992 gelang es einer Gruppe von in Saudi-Arabien ausgebildeten Islamisten, die Stadtverwaltung der im Ferghana-Tal gelegenen Stadt Namangan (Usbekistan) zu besetzen und vom damaligen usbekischen Präsidenten Karimov die Ausrufung eines islamischen Staates zu verlangen. Dies setzte ein Fanal: In der Folge wurden dutzende ausländische Missionare, vor allem aus Saudi-Arabien und der Türkei, aus Usbekistan ausgewiesen, Usbekistan begann mit harter Hand gegen all diejenigen vorzugehen, die den Islam anders praktizierten, als von staatlicher Seite sanktioniert. In Tadschikistan war nach dem Bürgerkrieg (1991-1997) zunächst die Partei der Islamischen Wiedergeburt an der Regierung beteiligt, wurde aber unter Präsident Rahmon zunehmend von der Macht verdrängt. 2009 wurde ein repressives Religionsgesetz verabschiedet; Kindern ist zum Beispiel der Moscheebesuch untersagt.

„Den Freunden Gottes einen Besuch abstatten“ – Heiligengräber zwischen Denkmal, Ort der geistlichen Stärkung und Streitfall

Am Schrein von Bahauddin Naqshband in Buchara (Foto: Jeanine Dağyeli)

In Zentralasien existiert eine lange Tradition des Pilgerns zu lokalen Pilgerorten. Häufig handelt es sich bei diesen Orten um (vermeintliche) Gräber von Persönlichkeiten aus der Frühzeit des Islam, angesehenen Sufi-Meistern oder (semi-)legendären Figuren. Sprachlich wird ein klarer Unterschied gemacht zwischen der jedem gesunden, ausreichend vermögenden Muslim – Mann oder Frau – kanonisch vorgeschriebenen Pilgerreise nach Mekka, der Haddsch, und dem Pilgern zu lokalen Pilgerstätten gemacht. Letzteres wird respektvoll „Besuch“ genannt. Bedeutende, über die Region hinaus bekannte Pilgerorte sind zum Beispiel in Buchara (Usbekistan) das Grab von Bahauddin Naqshband (14. Jahrhundert), auf den der weit verbreitete und einflussreiche Sufi-Orden der Naqshbandīya zurückgeht, in Turkestan (Kasachstan) das Grab von Ahmad Yasawi (12. Jahrhundert), Dichter und Sufi, auf den sich der Orden der Yasawiya zurückführt, oder in Osch (Kirgisistan) ein als „Thron Salomons“ (Tachti Sulaymon) bezeichneter Hügel.

Nach orthodoxer Auffassung gibt es im Islam keine Heiligen, die als Fürsprecher zwischen Gott und dem einzelnen Menschen stehen würden. Die Verbindung zwischen Gott und dem Einzelnen ist direkt. Die oft der Einfachheit halber in westlicher Literatur als Heilige bezeichneten Persönlichkeiten werden in Zentralasien „Freunde Gottes“ genannt. Sie gelten also als Menschen, die es durch Frömmigkeit, gute Taten und ähnliches geschafft haben, Gott besonders nahe zu kommen.

Aufgrund dieser Nähe erhoffen sich Pilger besonderes Gehör für ihre Anliegen, wenn sie diese an den Heiligengräbern vortragen und eventuell Gelübde ablegen. Die Pilger kommen aus unterschiedlichen Beweggründen: mal geht es um einen unerfüllten Kinderwunsch, mal um einen Krankheitsfall oder Streit in der Familie, mal um ein Dankgebet für eine bestandene Prüfung. An manchen Gräbern kann man anrührende Beispiele dieser Art von Bitten sehen, etwa in einem Mausoleum in Turkmenistan, in dessen Ecke etwa ein Dutzend winzige, selbstgemachte Babywiegen stehen. Zum Teil liegen kleine Püppchen darin, an die Wiegen ist die Bitte angebracht, Gott möge den Kinderwunsch erfüllen. Auf dem Grab selbst zeugen zahlreiche Kopftücher vom Besuch der Frauen, die mit ihrer Gabe den Heiligen an ihr Anliegen „erinnern“ wollen. Es sind Praktiken wie diese, die sowohl reformorientierten als auch puristischen islamistischen Kräften ein Dorn im Auge sind. An vielen, vor allem größeren Pilgerorten in Usbekistan sind heute Tafeln angebracht, auf denen bestimmte Praktiken wie das Berühren und Küssen des Sarkophags – ein traditioneller Bestandteil des Pilgerns, bei dem die Segenskraft des Heiligen übertragen werden soll – verboten wird. Manche Sarkophage sind bereits durch Absperrvorrichtungen unzugänglich gemacht worden.

Obwohl sowohl Männer als auch Frauen pilgern, liegen die Sorge für die Familie inklusive des Seelenheils verstorbener Angehöriger sowie die Lösung von Konflikten im sozialen Umfeld traditionell im Zuständigkeitsbereich von Frauen. Das ist ein Grund dafür, dass in der Regel mehr Frauen als Männer an den Pilgerorten zu sehen sind und sich dort mit ihren Anliegen an Gott wenden. Da Frauen in Zentralasien im Unterschied zu anderen islamisch geprägten Ländern nicht zum gemeinsamen Gebet in die Moschee gehen, sind Pilgerorte darüber hinaus ein Bereich, in dem sie ihre Spiritualität in der Gruppe ausleben können. Zudem ist Pilgern ein gesellschaftlich anerkannter Grund, sich vorübergehend den familiären Verpflichtungen zu entziehen und eine Auszeit zu nehmen.

Was ist modern, was Tradition?

Häufig ist zu lesen, dass sich Zentralasien rückwärts orientiere und sich die Menschen mit ihrer Hinwendung zum Islam mehr der Vergangenheit als der Zukunft zuwenden würden. Tatsächlich scheint die Rückbesinnung auf den ersten Blick eindeutig: Jugendliche und junge Erwachsene in islamisch konnotierter Kleidung, neue Moscheen, ein boomender Markt für islamische Literatur. Doch scheinen Kategorien wie modern und traditionell anders belegt zu sein. In vielerlei Hinsicht ist es eigentlich der offizielle Diskurs, der die Vergangenheit und die oft nur vermeintlichen Werte der Vorfahren zum Maßstab der Gegenwart erheben möchte.

Unter gläubigen Muslimen in Zentralasien gibt es heute, vereinfacht gesprochen, zwei Richtungen. Die eine orientiert sich an dem traditionell in der Region gelebten Islam mit seiner sufischen Prägung, in dem die „Freunde Gottes“, die Seelen der Verstorbenen und andere übernatürliche Wesen eine wichtige Rolle spielen. Die andere sieht sich eher einer globalen Auslegung und Praxis des Islam verbunden, wie sie über Medien, aber auch durch Arbeitsmigranten, die in Russland, der Türkei und den arabischen Emiraten arbeiten, zurückgespiegelt wird. Es ist kein Zufall, dass sich vor allem junge Menschen von diesen Ausrichtungen des Islam, die sie als modern empfinden, angezogen fühlen. In einer Gesellschaft, in der traditionell das Alter geschätzt wird und Autorität mit zunehmendem Alter steigt, erscheint der individualisierte, über das Internet vermittelte Islam modern und dem traditionellen der Älteren überlegen, deren Wissen zusätzlich mit dem Hinweis entwertet wird, sie hätten doch in der Sowjetzeit nichts über den Islam lernen können. Es ist dieser „neue“ Islam, der den zentralasiatischen Regierungen potenziell gefährlich erscheint. Tatsächlich erhoffen sich manche Menschen etwas von ihm, das ihnen ihre Staaten bislang größtenteils nicht bieten: ein Leben in einer gerechten Gesellschaft, in der Bestechung, Vetternwirtschaft und Wucher nicht möglich sind.