„Unsere Zukunft liegt in unseren Händen.“ Jugendliche Straftäter in der Republik Moldau

(Fallbeispiel)
aus OWEP 2/2014  •  von Emilia Moraru

Emilia Moraru ist als Psychologin und Diplom-Pädagogin in der Stiftung „Regina Pacis“ tätig.

Zusammenfassung

Die Republik Moldau, eines der ärmsten Länder Europas, hat bis heute mit den Folgen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche der neunziger Jahre zu kämpfen. Viele Familien sind zerfallen, Kinder und Jugendliche geraten leicht auf Abwege. Der Beitrag beschreibt die Arbeit der Stiftung „Regina Pacis“, die sich zum einen um entwicklungsgestörte Kinder kümmert, zum anderen aber auch besondere Förderungsmaßnahmen für junge Straffällige entwickelt hat.

Eine trostlose Gegenwart

Seit Mitte der neunziger Jahre ist die Gesellschaft der früheren Sowjetrepublik Moldau einem ständigen Wandel unterworfen. Die sozial-ökonomische Situation des Landes wirkte sich auf alle Lebensbereiche und gesellschaftlichen Schichten, vor allem aber auf die Verwundbarsten, die Kinder und Jugendlichen, aus. Auf der Suche nach Veränderung entscheiden sich viele junge Menschen, ins Ausland zu gehen, was dazu führt, dass immer weniger Familien gegründet werden und die Geburtenzahlen sinken. Viele Erwachsene verlassen auf der Suche nach Arbeit ebenfalls das Land, die Kinder bleiben oft unversorgt zurück, was zu schwerwiegenden Folgen für ihre Entwicklung führt.

Armut und das Unvermögen, ein Teil der Gesellschaft zu werden, gelten als die größten Probleme junger Menschen in der Republik Moldau. Trotz Universitätsabschluss finden viele derer, die im Land bleiben, keinen Arbeitsplatz, was ihrem Selbstwertgefühl schadet und manche leider auch auf die schiefe Bahn bringt (oft verbunden mit Gewalterfahrung, Drogenabhängigkeit und sexuellem Missbrauch). Wenn es Arbeitsplätze gibt, klagen die jungen Menschen über zu niedrige Löhne und unattraktive Arbeitsbedingungen, die kaum Chancen auf eine Entwicklung bieten, zumal die Entwicklung der Republik Moldau insgesamt nicht sehr gut aussieht.

Angesichts dieser Voraussetzungen gehört der Schutz gefährdeter Gesellschaftsschichten zu den Prioritäten der Sozialpolitik. Die Lage der verarmten Bevölkerung – nicht nur der jungen Menschen – muss auf der Agenda zentraler und lokaler Behörden stehen. Zweifelsohne brauchen auch Kinder, deren Eltern im Ausland leben, ebenso wie alte und behinderte Menschen ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit vonseiten der Zivilgesellschaft.

Ein neues Phänomen in der Republik Moldau bilden die Straßenkinder. Ihre Präsenz ist Zeichen für eine Krisensituation, die im Bereich der sozialen Absicherung von Familien und Kindern dringlicher Lösungen bedarf. Es ist traurig, dass eine solche Erscheinung in unserer modernen Gesellschaft einen Platz hat, die gekennzeichnet ist durch eine Vielzahl luxuriöser Autos, doppelgeschossiger Häuser und hochentwickelter Technologien. Das Phänomen der Straßenkinder resultiert aus der Gleichgültigkeit der Erwachsenen, der Eltern, ja der gesamten Gesellschaft. Dem verwaisten Kind gelingt es nicht, sein Verhalten aktiv und dynamisch an die sozialen Anforderungen anzupassen, da wegen des Fehlens der Eltern ein Mangel an sozialer Kommunikation herrscht. Verschärft wird seine Lage durch die alltägliche Gewalt, die Notwendigkeit, auf der Straße zu betteln, und letztlich durch die fehlende Anpassung an soziokulturelle Normen.

Die Arbeit der Stiftung „Regina Pacis“ für gefährdete Jugendliche

Aufgrund all dieser Herausforderungen gründete das römisch-katholische Bistum Chişinău im Jahr 2000 die Stiftung „Regina Pacis“, in der ich tätig bin. In diesen Jahren galt der „Handel“ mit osteuropäischen und moldawischen Frauen, die in Westeuropa und Asien sexuell ausgebeutet werden, als eines der größten Probleme. Es bestand also die Notwendigkeit zur Entwicklung von Gegenmaßnahmen, um dieses Phänomen zu unterbinden. So wurden beispielsweise Aufklärungskampagnen gestartet und die Zusammenarbeit staatlicher Institutionen mit den Familien der betroffenen Opfer in Dialogforen intensiviert. „Regina Pacis“ begann mit moralischer und materieller Fürsorge für alle Betroffenen, also verwaiste Kinder, Jugendliche, arme Menschen, Opfer des Menschenhandels und Auswanderer.

„Regina Pacis“ bietet Unterkünfte, Versorgung und Bildungsmaßnahmen für derzeit sechzehn Kinder, neun Mädchen und sieben Buben zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Diese Kinder und Jugendlichen kommen aus sozial gefährdeten Familien, von Eltern, denen das Sorgerecht entzogen wurde, oder von solchen, die ihre Kinder verlassen haben. Betrachtet man die Besonderheiten des jeweiligen Alters, so bildet gerade der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden, die Adoleszenz, eine Phase grundlegender körperlicher und seelischer Veränderungen. In dieser Zeit prägen sich Selbstwertgefühl und Selbstwahrnehmung aus und persönliche Wertsetzungen finden statt; es ist das Alter des Suchens, der Offenheit, auch einer gewissen Nervosität gegenüber dem Kommenden. Eigene Positionen bilden sich heraus, das Interesse für abstrakte und konkrete Problemstellungen reift heran.

Emilia Moraru und einige ihrer Schützlinge (die Aufnahme wurde von der Autorin zur Verfügung gestellt)

Wer, wenn nicht die eigenen Eltern, sollten den Pubertierenden in dieser Zeit nahe sein, um sich über ihre Erfolge zu freuen, bei Misserfolgen mit ihnen zu leiden, Gefühle der Liebe, des ersten Kusses, von Glücks- und auch Unglücksmomenten mit ihnen zu teilen? Kinder bedürfen der Ermutigung, der moralischen Unterstützung, des Zuhörens oder sogar des Streits, falls etwas schief laufen sollte. Nur so werden sie es lernen, Barrieren zu überwinden und Probleme zu lösen, die ihnen das Leben in den Weg stellen wird. Solche Momente erleben die Kinder und Jugendlichen in der Stiftung „Regina Pacis“ in Chişinău nicht mit ihren biologischen Eltern, sondern zusammen mit den multidisziplinär ausgebildeten Mitarbeitern. Dort wirken Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, zusammen, um eine je individuelle Therapie zusammenzustellen und umzusetzen. Das erste Jahr ist in der Regel das schwierigste.

In der therapeutischen Arbeit traten beträchtliche Probleme vor allem bei Kindern auf, die negative Erfahrungen mit ihren Liebsten machen mussten, die verlassen, misshandelt oder vergewaltigt wurden oder statt in die Schule zum Betteln auf die Straße geschickt wurden. Ihr Verhalten ist von Hass, Aggressivität, Gewaltbereitschaft und Neid geprägt, auch von mangelndem Interesse an der Schule und überhaupt einem Vertrauensmangel in Bezug auf das Morgen und auf ihre Zukunft. Die häufigsten unter vielen Fragen lauten stets „Warum ich?”, „Warum wurde ich verlassen?“, „Warum passiert mir all das?” Es ist nicht einfach, diesen Kindern zu helfen, aber wir konnten doch Therapien entwickeln; Schritt für Schritt gelang es uns, die Ursachen zu analysieren, indem wir das Vertrauen der Kinder gewannen.

Nach dem Sprichwort „Die Entlein werden im Herbst gezählt“ nun kurz die Bilanz der Arbeit: Zehn junge Menschen wurden in die Gesellschaft eingegliedert und fanden eine Arbeit, zwei Mädchen machten ihren Abschluss an der Fachschule Nr. 8 für Schneiderinnen, zwei junge Männer machten Abschlüsse an den Fachschulen Nr. 6 und Nr. 9 zum Schlosser bzw. Elektriker, und weitere zehn Jugendliche studieren inzwischen an den Hochschulen von Chişinău.

Der Einsatz von „Regina Pacis“ für straffällige Jugendliche

Seit 2011 ist „Regina Pacis“ auch ein zuverlässiger Partner des moldawischen Justizministeriums und leistet einen Beitrag zur Entwicklung mehrerer Projekte und Initiativen, die die Verbesserung der Bedingungen von Gefangenen in Strafvollzugsanstalten und ihre Reintegration in die Gesellschaft über Berufsausbildungsprojekte anstreben.

Insbesondere den Strafvollzugsanstalten für Minderjährige und Frauen in Lipcani und Rusca und jener in Chişinău gilt eine große Aufmerksamkeit. Nach einer Besichtigung der drei Anstalten durch die Geschäftsführung der Stiftung „Regina Pacis“ entschied sich die Leitung der Stiftung, an Initiativen mitzuwirken, die die Lebensbedingungen minderjähriger und weiblicher Häftlinge verbessern sollen. Die Unterstützung kam insgesamt 268 Frauen in der Strafvollzugsanstalt Nr. 7, 42 Minderjährigen in der Strafvollzugsanstalt Nr. 2 und 50 Frauen in der Strafvollzugsanstalt Nr. 13 zugute.

Leider – das muss ich ausdrücklich erwähnen – werden bis heute in der Republik Moldau Strafvollzugssysteme aus sowjetischer Zeit fortgeführt, die modernen Vorstellungen nicht mehr entsprechen. Die Regierung hat inzwischen einige Modifizierungen eingeleitet, u. a. die Unterbringung minderjähriger Straffälliger in separaten Strafvollzugsanstalten und die Neueinrichtung der Strafvollzugsanstalt Nr. 10 (Goian). Gegenwärtig befinden sich dort 38 Minderjährige im Alter von 16 bis 18 Jahren. Die maximale Aufnahmekapazität beträgt 60 Gefangene.

Junge Häftlinge in der Bibliothek der Strafvollzugsanstalt Goian (Foto: Ilie Zabica, Direktor der Stiftung „Regina Pacis“)

Dank der Unterstützung von „Regina Pacis“ konnte in der Strafvollzugsanstalt Goian eine großzügig ausgestattete Bibliothek mit entsprechenden Büchern und Lehrmaterialien eingerichtet werden, die die geistige Entwicklung der Gefangenen gewährleistet. Sie dient als Lese- oder Studierraum für die Minderjährigen. Die Finanzierung erfolgte durch eine Zuwendung, die wiederum auf einer Partnerschaftsvereinbarung zwischen dem Justizministerium und der Stiftung „Regina Pacis“ basiert. Hauptziele dieser Vereinbarung sind die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Durchführung von Umschulungs- bzw. Fortbildungsmaßnahmen.

Die Kinder- und Jugendkriminalität geht in der Republik Moldau einher mit dem Phänomen des Schulabbruchs. 85,7 Prozent aller inhaftierten Minderjährigen sind nicht in das Bildungssystem eingebunden. Die Mehrzahl stammt aus sozial gefährdeten oder kinderreichen Familien, viele haben nur ein Elternteil oder sind Waisen, weil die Eltern im Ausland arbeiten oder bereits verstorben sind. Mit Unterstützung von Renovabis hat „Regina Pacis“ speziell für diese gefährdete Gruppe junger Menschen ein ambitioniertes Projekt mit dem Titel „Unsere Zukunft liegt in unseren Händen“ entwickelt, das die kostenlose Berufsausbildung (mit Abschlussprüfung und entsprechendem Zeugnis) für inhaftierte Minderjährige und die Verbesserung ihres Integrationsprozesses umfasst.

Als „best practice“ für diese und andere Maßnahmen in unseren Strafvollzugsanstalten dient das Modell der Justizvollzugsanstalt Adelsheim in Baden-Württemberg (Deutschland). Die dortige erfolgreiche Arbeit mit jugendlichen Straftätern ist für uns ein Vorbild.

Ausblick

Wir sind uns bewusst, dass wir niemals die seelischen Wunden heilen werden, die die vergitterten Fenster verursachen und die Insassen von ihren Liebsten trennen, aber zumindest lenken wir sie von negativen Gedanken ab, ermutigen sie und bieten ihnen Unterstützung und Ratschläge. Dies gelingt uns, indem wir ihnen anbieten zu lernen. Ich bin voll und ganz davon überzeugt, dass das Projekt „Unsere Zukunft liegt in unseren Händen“ einen positiven Einfluss auf das Verhalten der Minderjährigen haben und jedem einzelnen Inhaftierten Möglichkeiten bieten wird, ein Selbstwertgefühl aufzubauen und seinen Weg in Beruf und Gesellschaft zu finden.

Heute ist die Stiftung „Regina Pacis“ stolz auf die Ergebnisse ihrer Arbeit, die nicht zuletzt durch die Unterstützung des Staates und vieler anderer Träger möglich geworden sind. Diese Erfolge tragen zum Wohl der Gesellschaft bei und sind ein Ansporn für den täglichen Einsatz unseres Teams.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.