Mein Weg als orthodoxer Christ in Weißrussland

(Erfahrungsbericht)
aus OWEP 3/2009  •  von Andrej Mironov

Andrej Mironov (geb. 1976) stammt aus Weißrussland und ist ebenfalls Stipendiat des Ostkirchlichen Instituts Regensburg.

Ziel meines Beitrages ist nicht ein detaillierter Bericht über die Traditionen und gottesdienstlichen Besonderheiten der Weißrussischen Orthodoxen Kirche (WOK), denn das würde eine wissenschaftliche Abhandlung erfordern. Ich möchte den Leser vielmehr mit der Geschichte „meiner“ Kirche bekannt machen, ihm aber auch meine Eindrücke und Überlegungen während meines kurzen Aufenthaltes in Deutschland mitteilen.

Mir scheint, dass bei weitem nicht jeder Deutsche weiß, was die WOK ausmacht. Am 6. Januar 2009 entschloss ich mich beispielsweise, gemeinsam mit meinen Mitstudierenden aus dem Ostkircheninstitut Regensburg nach München zu reisen, um Christi Geburt in einer orthodoxen Gemeinde zu feiern. Der Weg von Regensburg nach München dauert etwas mehr als eine Stunde. Unsere Mitreisenden im Zug waren eine Frau und ein Mädchen, wahrscheinlich ihre Tochter. Unterwegs entspann sich ein kleines Gespräch, im Verlaufe dessen wir erzählten, dass wir nach München unterwegs seien, um Weihnachten zu feiern. Unsere Mitreisende war über diese Information sehr verwundert, weil sie davon ausging, dass Weihnachten längst vorüber sei. Sie wusste nicht, dass vier der 15 orthodoxen Ortskirchen – die russische, die georgische, die serbische und die Jerusalemer Kirche – Christi Geburt nach dem Julianischen Kalender begehen, der um 13 Tage vom Gregorianischen Kalender abweicht.

Was genau ist die WOK? Im Wesentlichen ist die orthodoxe Kirche Weißrusslands ein Teil der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), deren Jurisdiktion sich auf viele Staaten der ehemaligen UdSSR erstreckt. Bis 1989 existierte die weißrussische Kirche nur als Eparchie (Bistum); in diesem Jahr wurden dann ein weißrussisches Exarchat, also eine selbstständige kirchliche Verwaltungsstruktur innerhalb der ROK, und ein Heiliger Synod der WOK ins Leben gerufen, der eine weitgehende kirchliche Selbstständigkeit erhielt. Vorsteher dieser Kirche ist Metropolit Filaret (mit weltlichem Namen Kyrill Warfolomejewitsch Wachromejew), der sie schon über 30 Jahre lang weise leitet. Metropolit Filaret genießt eine große Autorität in der gesamten christlichen Welt; man kennt ihn als aktiven Verfechter des interreligiösen Dialogs und der friedensstiftenden Mission der Kirche.1

Nach dem Zerfall der UdSSR wurde Weißrussland zu einem unabhängigen Staat, die Kirche verblieb jedoch im Schoß der ROK. Während der letzten 18 Jahre wurden im Land sowohl viele Kirchen und Klöster gebaut als auch die geistlichen Lehranstalten erneuert, in denen junge Menschen eine kirchliche Bildung erhalten können. Im Jahre 1989 wurde das Minsker Geistliche Seminar neu eröffnet, 1996 eine Akademie gegründet, in der Spezialisten auf dem Gebiet der Theologie ausgebildet werden. Anzumerken ist dabei die positive Rolle des Staates, aber auch die Förderung seitens der Kirche, die die Baumaßnahmen teilweise oder zur Gänze finanziert.

Zu Beginn der neunziger Jahre entstanden in Weißrussland zahlreiche Sekten sowohl christlicher als auch östlich-mystischer Ausrichtung. Auf Bitten der Gläubigen verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Tätigkeit dieser neuen religiösen Organisationen zum Teil einschränkte. Das Gesetz legt fünf traditionelle Konfessionen in der Republik Weißrussland fest. Von den Gläubigen sind ca. 80 Prozent Orthodoxe, ca. 14 Prozent bezeichnen sich als Katholiken, die übrigen 6 Prozent verteilen sich auf die Repräsentanten einer Mehrzahl protestantischer Strömungen, des Islam und des Judentums. Zu den beiden letzten Religionen bekennen sich kleinere ethnokonfessionelle Gruppen weißrussischer Bürger, die seit langem auf dem Territorium der Republik leben. Unter der Vielzahl der protestantischen Bewegungen traditionellen Bekenntnisses ist für Weißrussland nur die evangelisch-lutherische Kirche bedeutsam, die im 16. Jahrhundert starken Einfluss hatte. Heute sind die Evangelischen durch 14 Gemeinden vertreten, die im Wesentlichen weißrussische Deutsche und Letten vereinen. Die Evangelischen führen keine aktive Mission durch, sondern bleiben meist unter sich.

Die Kirche in Weißrussland hat aber auch Probleme. Eines davon stellt meines Erachtens der geringe Bezug junger und aktiver Menschen zur Kirche dar. Mir scheint allerdings, dass die katholische Kirche vor einem ähnlichen Problem steht. Wenn ich deutsche Kirchen besuche, bemerke ich im Wesentlichen Menschen der mittleren und älteren Lebensjahre, die Jugend ist hingegen nur gering vertreten. In Weißrussland bilden Frauen, ältere Männer und Kinder, deren Eltern sie mit sich in die Kirche nehmen, den Hauptteil der Kirchgänger in den Dörfern, den Gebietszentren und den Kleinstädten. Wenn sie heranwachsen, gehen die Jugendlichen dann oft nicht mehr in die Kirche. Sie suchen etwas anderes. Eine der Hauptaufgaben in der Zukunft wird darin bestehen, sie wieder zu gewinnen und ihnen christliche Werte zu vermitteln, die sie dann ihren Kindern weitergeben können. Die christliche Kontinuität der Generationen ist ein äußerst wichtiger Prozess, und wenn sie abbricht, dann wird es für die Gesellschaft schwer, sich selbst zu finden. Dieses Problem lastete auf unserer Kirche und Gesellschaft zur Zeit der atheistischen Herrschaft und nach deren Fall, als viele Werte, die von der Regierung propagiert worden waren, in sich zusammenstürzten und an ihre Stelle nichts trat außer Leere.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich rund 80 Prozent der Bewohner Weißrusslands selbst für orthodox halten, jedoch die Zahl derjenigen, die regelmäßig zur Kirche gehen und an den kirchlichen Sakramenten teilnehmen, bedeutend geringer ist. Dennoch kann man in der Gemeinschaft der gläubigen Menschen Weißrusslands das in den letzten Jahren auftretende paradoxe Phänomen beobachten, dass häufig nicht die Eltern ihre Kinder, sondern die Kinder ihre Eltern zur Kirche bringen. Dieses Phänomen erkläre ich mir damit, dass die heutige junge Generation des Landes bereits zu anderen Werten erzogen wurde – sie denkt freier, um vieles weiter und mutiger. Die Erwachsenen dagegen sind in einem atheistischen Staat erzogen worden, wo es unangenehme Folgen und Probleme nach sich zog, über seinen Glauben zu sprechen und sich zu ihm zu bekennen. Man lehrte sie schon von der Schulbank an, dass Religion „Opium für das Volk“ sei, und jetzt fällt es ihnen meistens schwer, ihre Sicht auf das Leben neu zu bewerten und zu verändern.

Ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür. Mein jüngerer Bruder und ich wurden in einem schon recht reifen Alter getauft, ich war damals fast 14. Das war im Jahre 1989, als sich die Politik des Staates in ihrem Verhältnis zur Kirche ein wenig zum Besseren veränderte und meine Eltern sich entschieden, uns taufen zu lassen. Mein Bruder und ich wurden getauft, aber nicht religiös erzogen, d. h. nach dem Sakrament der Taufe beschäftigte sich niemand mehr mit uns, niemand lehrte uns christliche Werte. Ich beendete bald die Schule, dann das Technikum, diente in der Armee, arbeitete in der Fabrik, aber mein bewusster Eintritt in die Kirche erfolgte erst im Alter von 24 Jahren, d. h. zehn Jahre nach der Taufe. Das bedeutete nicht, dass ich in all den seither vergangenen Jahren nicht die Kirche besucht hätte. Hin und wieder ging ich, wie auch viele meiner Freunde, in die Kirche, stellte eine Kerze auf, erbat irgendetwas von Gott, aber ein kirchliches Leben zu leben, daran dachte ich nicht. Die Geschichte meines bewussten Kircheneintrittes begann erst, nachdem mein Freund mich gebeten hatte, Pate seines Sohnes zu werden. Ich habe mich lange geweigert, gab dann aber trotzdem mein Einverständnis. Ich dachte und denke auch jetzt noch, dass die Patenschaft eine große Verantwortung vor Gott bedeutet. Der Pate ist dazu verpflichtet, sich um die geistliche Erziehung seines Patenkindes zu kümmern, und das ist manchmal nur sehr schwer einzuhalten. Während des Taufsakramentes ging etwas mit mir vor, offenbar hatte Christus mein Herz berührt, und ich fühlte eine große Gnade.

Danach veränderte sich mein Leben. Ich begann, die Kirche zu besuchen und die orthodoxe Lehre und die Geschichte der Kirche aufmerksam zu ergründen. Nach vier Monaten fand die erste Beichte statt. Ich war auf dem Weg zur Kirche, aber meine Gedanken flüsterten mir ein, dass ich irgendwie nicht das Richtige tue, dass ich genauso bin wie alle anderen Menschen und es nicht nötig hätte zu beichten. Mit Gottes Hilfe verjagte ich diese Irritationen und ging in die Kirche. Dann hatte ich meine erste Beichte und nach ihr noch viele andere, aber diese war eine ganz besondere und wird es immer bleiben. An sie werde ich mich das ganze Leben lang erinnern. Nach der Beichte schlug mir der Geistliche vor, im Gottesdienst vorzulesen. Dieser Vorschlag verwunderte und erfreute mich sehr. Ich erinnere mich, wie ich damit begann, die ersten gottesdienstlichen Texte zu lesen. Meine Hände waren schweißnass vor Erregung, und das Herz schlug so, als hätte ich einen Hundertmeterlauf zurückgelegt. Das war nicht leicht, man musste in kirchenslawischer Sprache lesen, die man heute im alltäglichen Leben nicht verwendet, obwohl sie das Fundament der gegenwärtigen slawischen Sprachen darstellt, des Russischen, Weißrussischen, Ukrainischen, Bulgarischen, Serbischen, Makedonischen usw. Im Jahre 2002 trat ich in das Seminar ein, nach dessen Beendigung ich mich zum Studium an der Geistlichen Akademie entschloss. Zur Zeit bin ich Student des zweiten Kurses der Akademie, aber parallel studiere ich auch hier in Deutschland. Das bietet mir die Möglichkeit, mit eigenen Augen die westliche Kultur und die kirchlichen Traditionen der katholischen Kirche kennenzulernen und mit dem Leben der orthodoxen Gemeinden im Ausland bekannt zu werden.

Nachdem ich in Regensburg eingetroffen war, erfuhr ich, dass es hier eine Gemeinde der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA) gibt. Ich danke Gott, aber auch den verstorbenen Patriarchen Aleksij II. und Metropoliten Lavr dafür, dass sich mithilfe ihrer großen Bemühungen ein historisches Ereignis vollzogen hat: die Vereinigung der ROK und der ROKA, mit der die Grundlage für die Beendigung einer kirchlichen Tragödie geschaffen wurde, die sich nach dem bolschewistischen Umschwung von 1917 abgespielt hatte. Dieses bedeutsame Ereignis erlaubte es den Emigranten aus der ehemaligen UdSSR, die Gottesdienste der ROK zu besuchen und vollwertig an den Sakramenten teilzunehmen.

In Deutschland bildet die Russische Orthodoxe Kirche eine kleine Insel heimatlicher Kultur und orthodoxer Geistlichkeit, die die Emigranten und jene, die zeitweilig hier leben, unterstützt. In der Kirche können Kinder und Erwachsene ihre Muttersprache hören und miteinander verkehren. Und das ist sehr wichtig, besonders, wenn der Emigrant in eine neue Umgebung mit ihren Traditionen und Besonderheiten gelangt. Bei einigen Menschen vergehen Jahre, um sich an die westliche Kultur zu gewöhnen und sie besser kennenzulernen, aber mit Hilfe der Kirchengemeinde kann das fließend geschehen, ohne größere psychologische Erschütterungen.

Der Glaube spielt eine große Rolle in meinem Leben, auch wenn mir im Moment die kirchliche Anbindung fehlt, weil ich mich in einer anderen Kirchentradition befinde. Mit Hilfe dieser kann ich jedoch hier im Ausland meinen geistlichen Hunger wenigstens im Ansatz stillen. So hege ich die Hoffnung, dass mein kleiner Bericht dem Leser helfen konnte, mit der östlichen Kirchentradition besser vertraut zu werden. Ich wünsche der orthodoxen Kirche hier im Ausland, aber auch der katholischen Kirche eine geistliche Stärkung und Gottes Hilfe beim Zeugnis des Evangeliums in der heutigen Welt.

Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.


Fußnote:


  1. Er ist der Verfasser des einführenden Beitrags in diesem Heft (oben S. 163 f.). ↩︎