OWEP 4/2024
Schwerpunkt:
Der Kosmos des Films
Editorial
Mit Filmen aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa verbinden viele Menschen vor allem düstere Bilder und ein verlangsamtes Erzählen. Um wieviel größer die Vielfalt des Kinos im Osten Europas ist, wollen wir in dieser Ausgabe zeigen. Der Slawist Ulrich Schmid blickt zurück auf die Geschichte sowjetischer Filme und erinnert daran, dass sogar der Diktator Stalin ein leidenschaftlicher Kinoliebhaber war. Bei nächtlichen Filmvorführungen im Kreml liefen sogar manchmal US-Western.
Die russische Kinolandschaft hat sich seit dem Ende der Sowjetunion mehrfach neu erfunden, vor allem ein erfolgreiches Arthouse-Kino. Aber im heutigen Russland unter Präsident Putin sind nahezu alle künstlerischen Freiräume wieder verschwunden. Filmkritikerin Daria Badior beschreibt die Herausforderung des Krieges für die Filmszene in der Ukraine, wo viele Regisseure und Schauspieler inzwischen selbst an der Front ihr Land verteidigen. Auch in Georgien spiegelt die Filmszene viele politische Konflikte im Land wider. Das umstrittene NGO-Gesetz gefährdet einige Filmprojekte, die auf europäische Koproduktionen angewiesen sind.
Seit 1991 widmet sich das FilmFestival Cottbus jedes Jahr dem aktuellen Filmschaffen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Programmchef Bernd Buder umreißt im Interview die besondere Qualität osteuropäischer Filme, die ihre Zuschauer selten belehren, aber nah dran sind an deren Realität. Der Filmkritiker Jörg Taszman reist seit vielen Jahren zum legendären Festival in Karlsbad und lässt uns an seinen Erlebnissen teilhaben. Der Artikel von Helena Srubar widmet sich der Kinderfilmserie Pan Tau und beschreibt, wie sich mitten im Kalten Krieg eine ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen dem WDR und dem tschechoslowakischen Studio entwickelte.
Für viele Leser unerwartet dürfte sein, dass in der bulgarischen Hauptstadt Sofia heute das drittgrößte Filmstudio Europas steht. Dort werden inzwischen viele Blockbuster gedreht, sodass Hollywood-Stars wie Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger dort öfter einflogen. Das osteuropäische Kino ist also längst Teil des internationalen Filmgeschäfts geworden – auch für Streamingdienste wie Netflix oder Apple TV.
Inhaltsverzeichnis
Das Unsichtbare auf der Leinwand
Ulrich Schmid
In der Sowjetunion war schon der Diktator Stalin ein leidenschaftlicher Kinoliebhaber. Die Entwicklung des Films spiegelte seither die Themen der Zeit und der Gesellschaft wider. Neben dem patriotischen Monumentalkino gibt es bis heute auch anspruchsvolle Produktionen, die Diskussionen auslösen.
In the Soviet Union, even the dictator Stalin was a passionate cinema lover. Since then, the development of film has reflected the issues of the time and society. In addition to patriotic monumental cinema, there are also sophisticated productions that still provoke discussion today.
Kino ohne erhobenen Zeigefinger. Ein Gespräch mit Filmkurator Bernd Buder
Gemma Pörzgen
Der Kurator und Filmjournalist Bernd Buder ist seit 2015 Programmdirektor des Filmfestivals Cottbus (FFC). Es ist seit seiner Gründung 1991 eines der weltweit führenden Festivals, wenn es um das aktuelle Filmschaffen in Mittel-, Ost-, und Südosteuropa geht und findet jedes Jahr im November statt. Viele osteuropäische Filme feiern in Cottbus ihre deutsche oder sogar weltweit erste Aufführung. Mit dem Filmkurator Bernd Buder sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.
Curator and film journalist Bernd Buder has been the programme director of the Cottbus Film Festival (FFC) since 2015. Since its foundation in 1991, it has been one of the world's leading festivals when it comes to current film production in Central, Eastern and South-Eastern Europe and takes place every year in November. Many Eastern European films celebrate their German or even world premiere in Cottbus. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke to film curator Bernd Buder.
Ukrainisches Kino in Zeiten des Krieges
Daria Badior
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt die ukrainische Gesellschaft und damit auch die Filmkünstler, ihren Standort und ihre Aufgaben neu zu bestimmen. Neben der Verarbeitung von Traumata stellt sich für viele Künstler die Frage, wie sich ihre Kunst diese Erfahrungen aneignen kann und darf.
The Russian war of aggression against Ukraine is forcing Ukrainian society, and therefore also film artists, to redefine their position and their tasks. In addition to dealing with trauma, many artists are faced with the question of how their art can and may appropriate these experiences.
Der belarussische Film im Exil. Ein Gespräch mit Regisseur Aliaksei Paluyan
Gemma Pörzgen
In seinem eindrucksvollen Film „Courage“ dokumentierte der belarussische Regisseur Aliaksei Paluyan die friedlichen Proteste im Sommer 2020 gegen den Wahlbetrug von Staatschef Alexander Lukaschenko in seiner Heimat. Paluyan gelang es im Herbst 2020, das Filmmaterial gerade noch rechtzeitig außer Landes zu bringen, bevor die Grenzen abgeriegelt wurden. Sein Film ist ein bewegendes, politisches Zeitdokument, das mit vielen Preisen bedacht wurde. Paluyan lebt seit 2012 in Deutschland und studierte Regie in Kassel. Über die Lage belarussischer Filmemacher sprach mit ihm OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.
In his impressive film ‘Courage’, Belarusian director Aliaksei Paluyan documented the peaceful protests in the summer of 2020 against the election fraud perpetrated by head of state Alexander Lukashenko in his home country. In autumn 2020, Paluyan managed to get the film footage out of the country just in time before the borders were sealed off. His film is a moving, political contemporary document that has won many awards. Paluyan has lived in Germany since 2012 and studied directing in Kassel. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke to him about the situation of Belarusian filmmakers.
Das russische Programmkino unter Wladimir Putin
Olga Shakina
Die russische Kinolandschaft hat sich seit dem Ende der Sowjetunion mehrfach neu erfunden. Besonders das unabhängige Arthouse-Kino spiegelt die Höhen und Tiefen der gesellschaftlichen und politischen Transformation wider. Unter Präsident Wladimir Putin sind nahezu alle künstlerischen Freiräume verschwunden, und das hat auch Einfluss auf das breite Publikumskino.
The Russian cinema landscape has reinvented itself several times since the end of the Soviet Union. Independent arthouse cinema in particular reflects the highs and lows of the social and political transformation. Under President Vladimir Putin, almost all artistic freedom has disappeared, and this has also had an impact on popular cinema.
Herausforderungen für die georgische Filmszene
Gemma Pörzgen
Das Filmland Georgien blickt auf eine großartige Tradition zurück. Schon in der Sowjetzeit kamen viele der besten Filme aus der kleinen Republik im Südkaukasus. Auch heute hat das georgische Kino einen hervorragenden Ruf, aber die Filmszene ist wie das Land politisch gespalten und polarisiert.
Georgia can look back on a great film tradition. Even during the Soviet era, many of the best films came from this small republic in the South Caucasus. Georgian cinema still has an excellent reputation today, but the film scene, like the country, is politically divided and polarized.
Partys, Stars und Filme im Kurort Karlovy Vary
Jörg Taszman
Das Internationale Filmfestival Karlovy Vary in Tschechien gilt als eines der bedeutendsten Filmfestivals in Mittel- und Osteuropa. Der böhmische Kurort zieht Anfang Juli einheimische und internationale Filmfans ebenso an wie Hollywood-Stars. Gezeigt werden jedes Jahr rund 200 Filme aus aller Welt.
The Karlovy Vary International Film Festival in the Czech Republic is considered one of the most important film festivals in Central and Eastern Europe. At the beginning of July, the Bohemian spa town attracts local and international film fans as well as Hollywood stars. Around 200 films from all over the world are shown every year.
Pan Tau und der Erfolg tschechoslowakischer Kinderserien
Helena Srubar
Tschechoslowakische Kinderserien der 1970er und 1980er Jahre, die in Koproduktion mit dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) entstanden sind, erfreu(t)en sich in der Bundesrepublik großer Beliebtheit. Sie waren im geteilten Europa des „Kalten Krieges“ ein bemerkenswerter Kulturimport von Ost nach West. Diese Zusammenarbeit hatte über den „Eisernen Vorhang“ hinweg mehr als ein Vierteljahrhundert Bestand.
Czechoslovakian children's series from the 1970s and 1980s, which were co-produced with Westdeutscher Rundfunk (WDR), enjoyed (and still enjoy) great popularity in West Germany. In the divided Europe of the „Cold War“, they were a remarkable cultural import from East to West. This collaboration lasted for more than a quarter of a century across the „Iron Curtain“.
Filmkunst in Polen als Ausdruck gesellschaftlicher Debatten
Andrzej Kaluza
Filme aus Polen sind in Deutschland nur vereinzelt bekannt. Dabei greifen sie wichtige Themen auf, sorgen im eigenen Land für kritische Debatten und finden in der Heimat ein großes Publikum. Auch der Streamingdienst Netflix hat das längst erkannt und produziert viele polnische Filme.
Films from Poland are only occasionally known in Germany. Yet they address important topics, provoke critical debate in their own country and find a large audience at home. The streaming service Netflix has long since recognized this and produces many Polish films.
US-Blockbuster aus Bulgarien. Ein Gespräch mit Geschäftsführer Yoriv Lerner
Gemma Pörzgen
Das Nu Boyana Filmstudio blickt in Bulgarien auf eine lange Tradition zurück. In sozialistischer Zeit gegründet, war es über Jahrzehnte in staatlicher Hand, bis die US-Produktionsfirmen Nu-Image und Millennium Film das Studio 2006 erwarben und unter neuem Namen modernisierten. Heute werden in der bulgarischen Hauptstadt Sofia vor allem große Blockbuster und Actionfilme mit Hollywood-Stars wie Sylvester Stallone gedreht. Das Nu Boyana Studio gilt als das drittgrößte Studio in Europa und liegt am Stadtrand malerisch unterhalb des Vitosha-Gebirges. Mit dem Geschäftsführer Yoriv Lerner sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen in Sofia.
In Bulgaria, the Nu Boyana film studio looks back on a long tradition. Founded during the socialist era, it was in state hands for decades until the US production companies Nu-Image and Millennium Film acquired the studio in 2006 and modernized it under a new name. Today, major blockbusters and action films with Hollywood stars such as Sylvester Stallone are mainly shot in the Bulgarian capital Sofia. The Nu Boyana Studio is considered the third largest studio in Europe and is located on the outskirts of the city in a picturesque setting below the Vitosha Mountains. OWEP editor-in-chief Gemma Pörzgen spoke to managing director Yoriv Lerner in Sofia.
Kasachischer Überraschungserfolg im Kino
Edda Schlager
Mit Qash gelang dem gefeierten kasachischen Musikvideo-Regisseur Aisultan Seit ein erfolgreiches Spielfilmdebüt. Sein Film spielt vor dem Hintergrund der großen Hungersnot in den 1930er Jahren und hat in Kasachstan die Debatte über die sowjetische Vergangenheit und das schwierige Verhältnis zu Russland maßgeblich mitgeprägt.
Qash is the successful feature film debut of acclaimed Kazakh music video director Aisultan Seit. His film is set against the backdrop of the great famine in the 1930s and played a key role in shaping the debate in Kazakhstan about the Soviet past and the difficult relationship with Russia.
Summary in English
Many people associate films from Eastern, Central and South-Eastern Europe primarily with gloomy images and slowed-down storytelling. In this issue, we want to show how much greater the diversity of cinema is in Eastern Europe. Slavicist Ulrich Schmid looks back at the history of Soviet films and reminds us that even the dictator Stalin was a passionate cinephile. At nightly film screenings in the Kremlin, even US westerns were sometimes shown.
The Russian cinema landscape has reinvented itself several times since the end of the Soviet Union, above all as a successful arthouse cinema. But in today's Russia under President Putin, almost all artistic freedom has disappeared again. Film critic Daria Badior describes the challenge of the war for the film scene in Ukraine, where many directors and actors are now defending their country on the front line. Also, the film scene in Georgia reflects many political conflicts relevant to this country. The controversial NGO law is jeopardizing some film projects that rely on European co-productions.
Every year since 1991, the FilmFestival Cottbus has dedicated itself to current filmmaking in Central, Eastern and South-Eastern Europe. In an interview, program director Bernd Buder outlines the special quality of Eastern European films, which rarely lecture their viewers, but are close to their reality. Film critic Jörg Taszman has been travelling to the legendary festival in Karlovy Vary for many years and shares his experiences with us. The article by Helena Srubar is dedicated to the children's film series Pan Tau and describes how an unusual collaboration developed between the TV broadcaster WDR and the Czechoslovakian studio in the middle of the Cold War.
Many readers may be surprised to learn that the Bulgarian capital Sofia is now home to the third largest film studio in Europe. Many blockbusters are now filmed there, with Hollywood stars such as Sylvester Stallone and Arnold Schwarzenegger flying in frequently. Eastern European cinema has therefore long since become part of the international film business – including for streaming services such as Netflix or Apple TV.