Jugend in Bulgarien: wirtschaftliche Sackgassen und religiöse Wahlmöglichkeiten

Dr. Galina Goncharova lehrt neue bulgarische Kulturgeschichte an der Hl.-Kliment-Ochridski-Universität Sofia. Sie hat zahlreiche Publikationen u. a. über die (post)sozialistischen religiösen Praktiken, Generationsdiskurse und Tod und Trauerbewältigung veröffentlicht; aktuelle Forschungsschwerpunkte: Oral History, Jugendkultur, Religionssoziologie. – Dr. Teodora Karamelska lehrt Soziologie an der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia. Sie ist Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift „Soziologische Probleme“; ihre Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten der Religionssoziologie und qualitativen Sozialforschung.

Zusammenfassung

Wie stellen sich junge Leute in Bulgarien ihre Rolle in der Gesellschaft und ihren beruflichen Weg vor? Wie können sie Einfluss auf politische Entwicklungen nehmen, und welche Rolle spielt die Religion in ihrem Lebensentwurf? Zur Beantwortung dieser Fragen diskutiert der Beitrag unterschiedliche Strategien der jungen Bulgaren, die in einer Situation extremer politischer und wirtschaftlicher Probleme aufwachsen, was auch Konsequenzen für die Religiosität der jungen Generation hat.

Junge Bulgaren auf der Flucht vor Armut und Arbeitslosigkeit

„Wir leben in einer armen Gegend, die meisten Jugendlichen fliehen inzwischen aus unserer Stadt, da es hier fast keine Entwicklungsperspektiven gibt. Die Gehälter sind niedrig, die Lebenshaltungskosten hoch. Mein Vater ist Elektrotechniker, momentan hält er sich in Belgien mit meiner Mutter auf. Eine Schwester habe ich auch, die da verheiratet ist. Und ich habe mir versprochen: Solange ich Theaterprojekte in Razgrad habe, bleibe ich hier, von dann an bin ich mir nicht sicher ...“1 So beginnt unser biografisches Interview mit dem jungen Schauspieler Ahmed aus Nordostbulgarien – der Region mit einer der höchsten Arbeitslosenquoten im Lande (8,3 Prozent).2 Trotz aller EU-Programme zur Förderung hochwertiger Beschäftigung befinden sich die Jugendlichen mit ethnischem Minderheitshintergrund und diejenigen mit niedrigem Bildungsniveau immer noch in der so genannten Risikogruppe: Nach den letzten Angaben der Nationalen Beschäftigungsagentur sind über 48.000 Bulgaren im Alter bis 29 Jahre erwerbslos, die Arbeitslosigkeit unter die Jugendlichen mit Hauptschulabschluss beträgt 44,8 Prozent. Über die Gefahr ihrer nachhaltigen sozialen Exklusion warnt auch die jüngste Datenerhebung von UNICEF: 2015 sind 20 Prozent der Bulgaren zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos und befinden sich zugleich in keiner Ausbildung.3

Während diese Jugendlichen eher geringe Chancen für eine qualifizierte Beschäftigung haben, betrachten andere gleichaltrige Bulgaren das Bildungskapital als das sicherste Mittel, ihre berufliche und persönliche Entwicklung im Ausland zu ermöglichen. Eine erneuerte Steigerung der Bildungsmigration lässt sich in der Altersgruppe der 20-29Jährigen beobachten. Praktisch jeder achte von ihnen hat vor, in absehbarer Zeit zu emigrieren, wobei Großbritannien, die Niederlande, Dänemark, Deutschland und Frankreich die beliebtesten Ziele sind. Diesbezüglich äußerte eine bulgarische Mathematiklehrerin: „Die Kinder sind auf der Suche nach einer besseren Ausbildung im Westen. Die meisten Schüler aus den deutschsprachigen Klassen in unserer Fachoberschule gehen weg. Nicht alle aber schaffen es, sich zu integrieren, einige können sich nicht anpassen.“4 Nicht zufällig gibt es daher immer mehr Beispiele für Rückwanderung, besonders nach der Wirtschaftskrise von 2008. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Oft ist die Bereitschaft zu einem dauerhaften Aufenthalt im Ausland gering oder gleich mit starkem Heimweh verbunden, vielfach besteht aber auch der ernsthafte Wunsch, zur wirtschaftlichen Entwicklung Bulgariens beizutragen. Eine 29-jährige Bulgarin, die Politikwissenschaften, Wirtschaft und Jura in Deutschland absolviert, sich danach gegen ein Promotionsstudium in der Schweiz entschieden hat und nach Sofia zurückgekehrt ist, beschreibt die Verwendung der Migrationserfahrung als soziales Kapital folgendermaßen: „Nach dem Lernstress im Studium habe ich mich erschöpft gefühlt. Und dann habe ich gelesen, dass eine Stelle für EU-Experten im Außenministerium ausgeschrieben ist, und ich habe mir gesagt: Das ist ein passender Job für mich! Bis heute bedauere ich diese Entscheidung nicht … Mein Leben wäre sicherlich anders verlaufen, wenn ich in die Schweiz gegangen wäre, ein bisschen Optimismus für das eigene Land zu zeigen, ist aber auch nötig.“5

Studentenproteste vor dem Parlament in Sofia, Sommer 20136

Obwohl die bulgarischen Jugendlichen keine homogene Gruppe bilden, lässt sich feststellen, dass je besser ausgebildet, sozial mobiler und zufrieden im Job sie sind, desto größer auch ihr bürgerliches Engagement ist, insbesondere wenn es um Umweltschutz oder Kampf gegen Korruption geht; so haben viele im Sommer 2013 gegen die Verstrickung von Staatsgewalt und Oligarchie demonstriert. Der Widerstand gegen eine Regierung, die jegliche Legitimität verloren hatte, motivierte sogar eine Gruppe von Studierenden, das Hauptgebäude der Universität von Sofia 26 Tage lang zu besetzen. „Wenn die bulgarische Schule kritisch eingestellte und nicht politisch apathische Bürger ausgebildet hätte, hätten wir längst keine Probleme mehr mit Korruption“, erzählt der 24-jährige Ivajlo Dinev, einer der Blockadeführer.7

Obwohl solche Initiativen eine große Resonanz in den Medien erfahren, bleiben sie eher die Ausnahme. Die kollektive Unzufriedenheit der Jugendlichen wandelt sich selten in dauerhaftes Engagement um, nicht zuletzt da das konventionelle politische Handeln längst kompromittiert ist. Laut der letzten Angaben der European Values Study (EVS) ist die Politik kein attraktives Thema für junge Leute zwischen 18 und 24 Jahren: Auf die Frage „Besprechen Sie politische Fragen mit Ihren Freunden?“ antworten 53,5 Prozent von ihnen „manchmal“, 33,4 Prozent – „niemals“. Öffentlich präsent, aber eher destruktiv, sind nur die Anhänger antiglobalistischer und nationalistischer Parteien. Mit Parolen wie „Rettung der Nation“ und „Wiederherstellung des alten Großbulgariens“ lehnen sie jede historisch-kritische Interpretation der Vergangenheit ab und wenden sich gegen „die Fremden“ – bulgarische Türken und Roma, Amerikaner, Muslime und Flüchtlinge.

Zwischen expressivem Individualismus und traditionellen Religionen

Die zunehmende Individualisierung in der Postmoderne zeigt sich exemplarisch in der unterschiedlichen Einstellung von drei Generationen Bulgaren zur Religion als Ressource für Bewältigung der existenziellen Grenzsituationen wie etwa den Tod.8 Obwohl die atheistische kommunistische Propaganda sich bemühte, die orthodoxe Kirche zu diskreditieren, genießt diese nach wie vor hohes Ansehen in den älteren Generationen, besonders auch im Blick auf Tod und Bestattung. Die junge Generation hingegen folgt einer anderen Logik bei der Prägung ihrer postmortalen Identität: Ähnlich wie das Konsumverhalten oder die Freizeittätigkeiten sind die Vorstellungen über das Ende des Lebens ein Feld der individuellen Gestaltung geworden. Da das Leben nicht mehr als „Schicksal“, sondern als „Wahl“ wahrgenommen wird, darf jeder für selbst entscheiden, wie er sich nach dem Tod durch eine Reihe von Umwandlungen „weiterentwickeln“ wird; so glauben nach Angaben der EVS 33 Prozent der Bulgaren zwischen 18 und 24 Jahren an eine Wiedergeburt. Das institutionalisierte Christentum wird als „provinziell“ oder „vormodern“ betrachtet, als eine Begrenzung der subjektiven religiösen Erfahrung.9 An seine Stelle treten häufig hinduistische und buddhistische Spiritualität, Neopaganismus und New Age, vielfach eine Mischung aus verschiedenen Traditionen und Glaubensinhalten.

Der Verfall der kirchlichen Religiosität und die Selbstermächtigung in Bezug auf das eigene „Human Design“ führen unter anderem zu einem moralischen Relativismus: 40 Prozent der bulgarischen Jugendlichen sind der Meinung, dass die Bewertung in „Gut“ und „Böse“ sich nicht eindeutig definieren lässt und letztlich von den jeweiligen Umständen abhängt (EVS 2008). Deswegen ist es nicht überraschend, dass Begriffe wie „Fleischwerdung Gottes“, „Auferstehung der Toten“ oder „Heilsgüter“ für sie weitgehend sinnlos geworden sind. Als fremd und abstrakt werden ebenso die Vorstellungen von Paradies und Hölle wahrgenommen – und wenn man überhaupt daran glaubt, dann hat dieser Glaube kein christlich-theologisches Fundament. Paradies und Hölle werden nicht mehr mit einem universellen Schicksalsort der Menschengemeinschaft gleichgesetzt, sondern als Sehnsuchtsorte für die eigene symbolische Unsterblichkeit: „Wenn überhaupt ein Himmelreich existiert, möchte ich da allein verweilen. Oder ich wünsche mir, dass nicht die ganze Menschheit dort anwesend ist, sondern nur diejenigen, die ich liebe oder deren Nähe ich selbst zulasse.“ Im Trend ist außerdem eine neue eklektizistische, von der zeitgenössischen Bildkunst und von Fantasy-Romanen beeinflusste Trauerkultur: „Anstelle einer Erdbestattung ziehe ich die Kremation vor. Alle Freunde von mir werden sich nach meinem Tod versammeln, um zu tanzen, natürlich ohne schwarze Kleidung. Sie werden Popcorn essen und Musik hören“.10

Außer denjenigen, die Wert auf ihr „believing without belonging“ legen, gibt es natürlich auch noch andere junge Bulgaren, die sich vom kirchlichen Christentum oder der islamischen Umma (Gemeinschaft) nicht distanzieren.11 Sie weigern sich nicht, sich als „religiös“ zu bezeichnen, und empfinden das traditionelle religiöse Leben weder als „unakzeptabel“ noch als „autoritär“. Im Gegenteil: Die den religiösen Gemeinschaften 2002 gesetzlich zuerkannten Rechte interpretieren sie als Möglichkeit, das während des Kommunismus Verpasste nachzuholen. Lebendige Jugendgemeinschaften bestehen u. a. bei der bulgarisch-katholischen Kirche (Unierte), der Altkalendarischen Kirche, der evangelisch-methodistischen Kirche und den Siebenten-Tags-Adventisten. Zum Teil lässt sich ihre Attraktivität für die Jugendlichen mit der Verbreitung von New Age-Kulten vergleichen, da sie als eine Alternative zum verlorenen Vertrauen in die orthodoxe Kirche verstanden werden und die Suche nach neuen Formen von Spiritualität befriedigen.

Die sich als „orthodox“ bezeichnenden Bulgaren in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren machen der EVS zufolge 53,9 Prozent aus. 49,7 Prozent der Befragten besuchen die Gottesdienste nur an bestimmten Kirchenfesten, 68 Prozent nehmen sich überhaupt keine Zeit für Gebet oder Meditation. Gleichzeitig lässt sich jedoch ein intensives Internet-Interesse an der Orthodoxie beobachten. Webseiten wie „Dveri na pravoslavieto“ oder „Pravoslavie.bg“ genießen größte Popularität, nicht zuletzt wegen der dort angebotenen Diskussionsmöglichkeiten. Der junge Jurist Boyan Stefanov, Mitglied der freiwilligen informellen Gruppe „Orthodox Youth“, bemerkt dazu: „Normalerweise treffen wir uns nicht nur im Internet, sondern auch nach der Liturgie. Wir laden üblicherweise einen Priester oder Theologen ein, um mit ihm Themen aller Art – wie z. B. Homosexualität oder Zusammenleben ohne Trauschein – zu erörtern“.12

Neben der Verlegung religiöser Debatten ins Internet oder in kleinere Foren gibt es noch einen weiteren eher indirekten Beweis für die Verengung des intellektuellen Geisteshorizonts der Jugendlichen in Bulgarien: die niedrige Anzahl der Bewerber zur Aufnahme in die Priesterseminare und in die Theologischen Fakultäten. Die jungen Muslime haben ebenso Schwierigkeiten, zuverlässige religiöse Autoritäten zu finden – der Berufsweg zum Geistlichen hat sich als Folge des sozialistischen Erbes und des Misstrauens gegenüber der institutionalisierten Religion marginalisiert. Damit schließt sich der Kreis: Das Internet schafft eine neue intellektuelle Elite, die ihre spirituelle Suche in geschlossenen Mikrogemeinschaften befriedigt. Wie sich vor diesem Hintergrund die Religiosität der orthodoxen Jugend weiterentwickeln wird, bleibt insofern eine offene Frage.


Fußnoten:


  1. Das Interview wurde im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts MICROCON geführt. ↩︎

  2. Laut Angaben des Nationalen Instituts für Statistik für 2015, http://www.nsi.bg/en. – Die Gesamteinwohnerzahl Bulgariens liegt bei ungefähr 7,2 Millionen Menschen. ↩︎

  3. Der durchschnittliche Wert für die EU liegt bei 12,9 %; vgl. „Assessment of the status and analysis of the profile of adolescents and young people not in employment, education or training“ (UNICEF, 2015). ↩︎

  4. Interview mit Tzvetelina Popova, Sofia. ↩︎

  5. Vanya Ivanova: Return Migration in Concepts, Policies and Personal Stories. In: Soziologicheski Problemi 1-2/2012, S. 251. ↩︎

  6. Das Foto mit den protestierenden Studenten stellten die Autorinnen zur Verfügung. ↩︎

  7. Zitat bei dem Journalisten Ivan Bedrov (http://www.svobodata.com/page.php?pid=12853↩︎

  8. Die hier vorgestellten Ergebnisse stammen aus unserem laufenden Forschungsprojekt „Generationale utopische Vorstellungen über das Leben nach dem Tod“. ↩︎

  9. Laut EVS sind 25,6 % der Jugendlichen der Meinung, dass die Bezeichnung „religiöse Glaubensgemeinschaft“ für das institutionalisierte Christentum nicht zutreffend ist. ↩︎

  10. Zitate aus Fokusgruppen mit Studierenden der Kulturwissenschaften an der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia, Oktober 2015. ↩︎

  11. Laut einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung finanzierten repräsentativen Umfrage bezeichnen sich drei Viertel der Bulgaren zwischen 14 und 27 Jahren als Christen, 16 % als Muslime. Vgl. Petar-Emil Mitev, Sijka Kovacheva: Young people in European Bulgaria: a Sociological Portrait. Sofia 2014, S. 76 (abrufbar unter http://www.fes.bg/files/custom/Young_People_in_European_Bulgaria.pdf). ↩︎

  12. http://www.seminar-bg.eu/spisanie-seminar-bg/broy9/item/400-pravoslavna-mladezh-ne-e-formalna-organizatziya.html (letzter Zugriff: 30.01.2020). ↩︎