Albaniens Weg zur Religiosität: Glaube im Wandel

aus OWEP 2/2016  •  von Enika Abazi

Prof. Dr. Enika Abazi ist z. Zt. am Paris Peace Research Institute tätig. Zuvor arbeitete sie an der European University in Tirana als Leiterin des Zentrums für Balkanstudien.

Zusammenfassung

Mit dem Ende des Kommunismus in Albanien lebten die traditionellen Glaubensbekenntnisse wieder auf. Allerdings ist das Bild, das die Religionsgemeinschaften gegenwärtig zeigen, sehr diffus: Neben den traditionellen Bekenntnissen haben sich neue Formen von Religiosität herausgebildet; zugleich findet, wie die Autorin anhand von Gesprächen aufweist, besonders in der muslimischen jüngeren Generation eine starke Rückbesinnung auf die Religion im Sinne von Identitätsstiftung statt.

I.

Seit der Machtübernahme durch das kommunistische Regime 1944 waren Schmähung, Erniedrigung, Verfolgung und sogar Hinrichtung von Geistlichen überall in Albanien und gleichgültig, ob muslimisch, römisch-katholisch oder orthodox, an der Tagesordnung. Das Eigentum der Religionsgemeinschaften wurde beschlagnahmt und verstaatlicht (1946), Kirchen und andere Einrichtungen geschlossen und in Lagerhäuser, Turnhallen, Werkstätten oder Kulturzentren umgewandelt. Die kommunistische Regierung erklärte Albanien zum „ersten atheistischen Staat der Welt“ (1967). Das albanische Volk wurde gezwungen, seine Religion zu vergessen, seine Überzeugungen und seine Lebensweise zu verändern.

Das Konzept, Religion als etwas Unnützes und Unwissenschaftliches – und grundsätzlich Rückständiges – einzuordnen, hatte Folgen für alle Lebensbereiche. Häufig wird Marxismus mit einer Religion verglichen und manchmal sogar als säkulare Religion bezeichnet. Im Falle Albaniens lassen sich zahlreiche pseudoreligiöse Elemente der Staatsideologie festmachen: das Versprechen von Gerechtigkeit und bedingungsloser Loyalität, die Verwendung von Opfergaben oder die politische Indoktrination anstelle religiöser Unterweisung. Das Sakrale wurde durch säkulare und diesseitige Götter, wie zum Beispiel die kommunistische Partei und ihre Führerschaft, verdrängt, Ikonen wurden durch Porträts des Parteivorsitzenden ersetzt. Für die junge Generation galt, dass sie ihr ganzes Leben der kommunistischen Ideologie widmen sollte. Verstärkt wurde der Kampf gegen die Religion wegen der Verbindungen der Kirchen zum Ausland, die der auf Abschließung bedachte kommunistische Staat als zusätzliche Bedrohung ansah.

Nach dem Ende des Kommunismus waren die Menschen frei, ihren Glauben öffentlich zu bekunden, obwohl den meisten Besuchern der Moscheen und Kirchen ihre Religion fremd geworden war. 25 Jahre später hat sich die Situation verändert. Der Staat schuf die gesetzlichen Grundlagen zur freien Entfaltung des religiösen Lebens durch entsprechende Gesetze, die u. a. Rückgabe des kirchlichen Eigentums beinhalteten und die Rechte der vier offiziell bestehenden Religionsgemeinschaften bestätigten.1 Verschiedene Umfragen zeigen, dass 90 Prozent der jungen Albaner an Gott glauben und sich zumindest mit einem der traditionellen Bekenntnisse identifizieren.2 Zusätzlich machten die Umfragen deutlich, was aufgrund der historischen Erfahrungen kaum überraschend war: Die Albaner insgesamt sind in religiöser Hinsicht sehr tolerant und sprechen sich ganz überwiegend für ein friedliches Miteinander der Bekenntnisse im Staat aus.

II.

Will man die Veränderungen auf dem Feld der Religion nach der Liberalisierung in Albanien verstehen, ist es aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, nur die traditionellen Glaubensgemeinschaften in den Blick zu nehmen. Der Befund ist widersprüchlich: Einerseits garantieren die Gesetze die Ausübung religiöser Vollzüge im öffentlichen Raum für die vom Staat als traditionell anerkannten Religionen. Andererseits machen sich aber neue Rituale und religiöse Praktiken autonomer religiöser Gemeinschaften breit, die teils parallel zu den traditionellen entstanden sind, teils aber auch in bewusstem Widerspruch zu diesen.

Die traditionellen Religionen üben keinen Reiz auf die Jugend aus. Die meisten Umfragen belegen, dass derzeit etwa 80 Prozent der Jugendlichen zwar an Gott glauben, aber keine bestimmte Religion praktizieren.3 Stattdessen sehnen sich viele nach einem Urgrund und einem großen Gesamtentwurf für ihr Leben, mit dem sie sich identifizieren können und der ihnen Auswege aus der allgemeinen Unsicherheit bietet. Gegenwärtig mühen sich tausende junge Menschen in Albanien unentwegt damit ab, eine Arbeit zu finden (zwei von drei jungen Albanern sind arbeitslos) – viele müssen sich mit unbezahlten Praktika abfinden und werden Landzeitarbeitslose oder Migranten; Religion hat dann eine Art von Zufluchtsfunktion. Einer meiner Studenten drückt es so aus: „Das Wertechaos, das Faustrecht und die Orientierungslosigkeit innerhalb der albanischen Gesellschaft lassen viele junge Menschen Trost in der Religion finden.“ Andere Jugendliche finden wiederum in den Ideen jener Religionen Zuflucht, die von den traditionellen abweichen und radikale Elemente enthalten. Diese Entwicklung trifft jedoch nicht nur für Albanien zu. Natürlich wird sich der westliche Balkan nicht in ein europäisches Zentrum des Dschihadismus, des „Heiligen Krieges“, verwandeln, wie es einige internationale Medien düster prophezeien. Dennoch beinhaltet die durch die Golfstaaten finanzierte religiöse Indoktrinierung ein durchaus ernstzunehmendes Gefahrenpotenzial – man beachte folgende studentische Einschätzung: „Die Politik von heute hält weiterhin das Märchen von der religiösen Harmonie aufrecht, das es nur deshalb noch gibt, weil radikale Ansichten untersagt sind. Wenn es jedoch – was unvermeidbar ist – sehr bald zu Spaltungen kommen wird, müssen wir uns auf ein Zusammenleben mit jenen vorbereiten, die anders als wir sind. Doch heute versucht niemand, solch ein Umfeld zu schaffen.“

Ganz offensichtlich belegt die junge Generation Albaniens angesichts des durchlässigen und zugleich ziemlich kontroversen gesellschaftlichen Umfelds Religion und Religiosität mit ganz unterschiedlichen Deutungen. Daher soll es im Folgenden nicht darum gehen, den religiösen „Kommunitarismus“ der Albaner, also die nach traditionellen Denkmustern besonders stark verwurzelte Religiosität innerhalb von Familie und Sippe zu untersuchen, sondern den Weg des einzelnen jungen Albaners hin zu einer religiösen Identität zu beschreiben. Als Quellen dazu dienen Interviews und Angaben in den sozialen Netzwerken.

III.

Jugendliche aus gemischtreligiösen Familien in den größeren Städten verhalten sich in gewisser Weise „protestantisch“ hinsichtlich ihrer Kritik an religiösen Formen; ihr Gottesbild trägt manchmal pantheistische Züge, das „göttliche Wesen“ ist oft mit keiner spezifischen Konfession verbunden, die Beziehung zu ihm bedarf keiner Gebete. Es liegt auf der Hand, dass für diese jungen Menschen nicht die Religion als solche zählt, sondern ihre Religiosität und somit ihre Beziehung zu Gott. Einer der interviewten Studenten beschreibt den Beginn seiner Beziehung zur Religion wie folgt: „Bis vor kurzem kannte ich nicht einmal die Religionszugehörigkeit meiner besten Freunde oder meiner Partnerin … Religion verkörpert hauptsächlich die Familie und ist weit entfernt von traditioneller Zugehörigkeit. Die meisten meiner muslimischen Freunde besuchten christliche Orte der Verehrung, wie beispielsweise die Kirche von Shna Ndout (für viele Albaner die ‚Kirche der Wunder‘), oder christliche Freunde feiern regelmäßig Bayram mit ihren muslimischen Kollegen.4 … Ein religiöser Feiertag war nicht mehr als ein Moment der Freude.“

In letzter Zeit gibt es auch andere Stimmen, aus denen durchaus eine personalisierte Gottesbeziehung erkennbar wird wie bei dieser Studentin mit gemischtreligiöser Herkunft (katholisch und muslimisch): „Ich glaube an eine persönliche Verbindung mit Gott. Da ich diese emotionale Verbindung selbst bestimme und auch auf ein Leben nach dem Tod vertraue, definiere ich einen Großteil meiner moralischen Prinzipien, die mich meines Erachtens zu einem guten Menschen machen und für die ich vielleicht im nächsten Leben belohnt werde, selbst“. Ein weiterer Student beteuert: „Ich bin tiefgläubig, praktiziere jedoch keine bestimmte Religion. Ich respektiere alle Religionen. Mein Glaube an Gott beeinflusst jede meiner Entscheidungen, denn er ist nicht bloß eine Sicht-, sondern eine Lebensweise.“

Es gibt eigentlich keinen großen Unterschied zwischen dem Verhalten der oben genannten Gläubigen und dem von Atheisten. Liest man die folgenden Aussagen, so begreift man die Gründe ihrer Wahl und die Bedeutung, die sie der Religion zuschreiben: „Als ich aufwuchs, glaubten meine Eltern trotz unseres muslimischen Glaubens an jede Religion. Alles was ich tat, wurde nach ihren moralischen Maßstäben beurteilt; typisch also für Religion. Doch ich hasste es, für alles irgendwie bewertet zu werden. Im Laufe der Jahre verblasste mein Glaube an etwas Überirdisches, umso mehr, als ich begann, mich mit Philosophie zu beschäftigen. Mir wurde klar, dass Religion lediglich ‚Opium des Volkes‘ ist, wie es schon Marx gesehen hat. Heute bin ich Atheist, der einzige in meiner Familie und unter meinen Verwandten. Ich glaube, dass die Dreiheit von Religion, Tradition und Brauchtum zur Rückständigkeit der Menschheit führt.“ Ein weiterer Atheist gesteht: „Ich glaube seit drei Jahren nicht mehr an etwas Übersinnliches, folglich hat die Religion keinen Einfluss auf mein Alltagsleben. Anders als die irrationale Religion weist mir die Vernunft den Weg. Innerhalb der Familie orientieren sich allerdings alle Handlungen an der Religion.“

In jüngster Zeit steigt die Zahl der praktizierenden Gläubigen besonders unter den Muslimen. Dennoch schreiben diese Jugendlichen ihren Gebeten eine eher pragmatische Bedeutung zu. So stellt im Rahmen eines Facebook-Austauschs ein praktizierender Muslim fest, dass „der Mensch durch seine Anbetung Gott, Gottes Gunst und Belohnung durch Wohlstand gewinnt; Gott belohnt seinen dankbaren Diener … Ich sehe nichts Verwerfliches in der Eigennützigkeit der Anbetung Gottes. Egoistisch sind wir ohnehin.“ Dafür bekam er auf Facebook viele Likes.

IV.

Die oben genannten Fälle dürften, um Worte des französischen Soziologen Émile Durkheims zu verwenden, die grundlegendste und elementarste Form von Religion darstellen. Allerdings bleiben Zweifel bestehen: Letztlich sind sie kein Ausdruck eines religiösen Gemeinschaftsgefühls, sondern eher einer leicht diffusen Empfindung für Moral, die auch „ohne Himmel“ auskommen kann. All das könnte eine Folge des jahrzehntelangen Kommunismus sein. Heute gibt es zahlreiche Gründe, warum die Mehrzahl der Jugendlichen die Religion für sich entdeckt. Für die Generationen, die während des Kommunismus geboren wurden, gab es keinerlei Möglichkeit, sich mit Religion auseinanderzusetzen; die meisten Albaner kannten weder Gebete noch Orte der Andacht und bekamen niemals einen religiösen Text vor Augen. Es ist schwierig, jungen Menschen unter diesen Umständen eine Glaubensordnung zu übermitteln – im besten Fall werden rudimentäre religiöse Weltanschauungen der Großmütter weitergegeben. Diese Tatsache wird durch aktuelle Umfragen untermauert, wonach 80 Prozent der Menschen fast nichts über den Islam wissen. Erschwerend kommt hinzu, dass es in den Schulen keinen Religionsunterricht gibt und die öffentliche Debatte sich weiterhin mit Fragen des Säkularismus und der Rolle der Religion im öffentlichen Raum befasst.

In den vorgestellten Fallbeispielen klingt die Rolle der Religion für die nationale Identität nur sehr verhalten an. Dies ändert sich allerdings neuerdings, speziell unter jungen Muslimen, was weniger damit zu tun hat, dass die meisten Albaner traditionell Muslime sind; vielmehr macht sich ein Bruch zwischen dem überlieferten „moderaten“ Islam und neuen Vorstellungen bemerkbar, die im 19. Jahrhundert aus der Auseinandersetzung der Albaner mit den aus dem Westen kommenden Ideen von Menschenrechten und Demokratie entstanden sind. Es ist zu beachten, dass der Islam in Albanien keineswegs nur der Glaube der armen Landbevölkerung ist; vielmehr bekennen sich auch viele hochgebildete Personen zu ihm. Es geht ihnen darum, „das (universelle) Islambild zu schützen“, das sie in einer Rückbesinnung auf die Zeit der osmanischen Herrschaft zu erkennen glauben, und dieser „ursprünglichen muslimischen Identität der Albaner“ gegenüber dem traditionellen Islam, dem Nationalismus und dem „staatlich-säkularen Katholizismus“ den Vorrang zu verschaffen. Solche Vorstellungen sind in der Albanischen Muslimischen Gemeinschaft weit verbreitet und unterscheiden sich erheblich von denen der „einfachen“ Muslime, die zahlenmäßig größer und teilweise im Islamforum organisiert sind.5

Viele junge Albaner fühlen sich von dieser Bewegung angezogen, was allerdings Folgen für ihr Weltbild hat: Die Osmanen, die von den albanischen Nationalisten ebenso wie von der kommunistischen Geschichtsschreibung als Eroberer bezeichnet wurden und die man für die Rückwärtsgewandtheit des Landes verantwortlich gemacht hat, erfreuen sich nun einer großen Beliebtheit als Vorbilder für eine aufgeklärte muslimische multikulturelle Gesellschaft. Plötzlich wird der säkular eingestellte Albaner als antidemokratisch, autoritär, islamfeindlich und als ein sklavischer Lakai des politischen Establishments und der hegemonialen Spiele des Neoimperialismus angesehen.

Die Bewegung gewinnt einen Großteil ihrer Energie aus der Tatsache, dass die Albaner in einer feindselig eingestellten Umgebung aufgrund der Islamisierung und des osmanischen Multikulturalismus überlebten. Für viele Menschen ist es überaus verlockend, das islamische Glaubenssystem einem post-nationalistischen Diskurs zu unterziehen und es gewissermaßen im Kontext der Menschenrechte zu verteidigen. Obwohl es als modern gilt, die Religion gegen die Demokratie einzutauschen, ist dieses „Handelsgeschäft“ zum Scheitern verurteilt, da es vorgibt, eine Sache für eine andere zu sehen. In einem Land jedoch, in dem ein Wertewandel stattfindet, verkauft es sich gut.

V.

Zusammenfassend könnte man festhalten, dass die albanische Jugend gewissermaßen in einer mehrdeutigen Welt lebt, in der sich ererbte Glaubensinhalte, die nur noch bedingt ernst genommen werden, mit theologischem Pragmatismus mischen. Auf naive Weise entwickeln die jungen Leute daraus ein für sie persönlich „richtiges“ Weltbild, das ihnen dann so etwas wie Trost und Unterstützung bietet. Hinsichtlich neuer Herausforderungen ist die Jugend anfällig für radikale postmoderne religiöse Strömungen, die sie entweder ignoriert oder aber als verlockend (und sogar als demokratisch) empfindet.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.


Fußnoten:


  1. Es handelt sich dabei um die Albanische Muslimische Gemeinschaft (Sunniten), die römisch-katholische Kirche Albaniens, die Autokephale orthodoxe Kirche Albaniens und den Bektashi-Orden in Albanien, eine dort seit 1946 eigenständige muslimische Gemeinschaft. ↩︎

  2. Nach der letzten Volkszählung (2011) verteilen sich die Bekenntnisse in Albanien (bei ca. 2,8 Millionen Einwohnern) wie folgt: 56,7 % Muslime, 10 % Katholiken, 6,8 % Orthodoxe (http://www.instat.gov.al/en/census/census-2011/census-data.aspx). Siehe außerdem: Albanian Youth 2011 Survey (verfügbar unter http://library.fes.de/pdf-files/bueros/albanien/10056.pdf) und Albanian Youth 2015 Survey (verfügbar unter http://www.fes-tirana.org/media/publications/.../t-150915-albanien-youth-eng.pdf). 2015 bezeichneten sich 78 % der Jugendlichen als dem Islam nahestehend, 17 % dem Christentum (Zahlen für 2011: 60 % bzw. 21 %). ↩︎

  3. Vgl. Albanian Youth Survey 2011 und 2015 (wie Anm. 2). ↩︎

  4. In Shna Ndout wird der Hl. Antonius von Padua verehrt; Bayram („Feiertag“) bezieht sich hier auf das muslimische Opferfest oder das Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  5. Nach Angabe der Autorin vom 14.04.2016 handelt es sich beim Islamforum im Unterschied zur Albanischen Muslimischen Gemeinschaft nicht um eine staatlich registrierte offizielle Vertretung, sondern eher um einen lockeren Kulturverband. ↩︎