Der Gleiwitzer Sender und seine Geschichte

aus OWEP 4/2022  •  von Matthias Kneip

Dr. Matthias Kneip, geboren 1969 in Regensburg, arbeitet als freier Schriftsteller und Publizist. Er ist Mitglied der OWEP-Redaktion und seit 2000 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen Institut in Darmstadt tätig. Zuletzt erschien sein Buch „Polen in Augenblicken“ im Pustet-Verlag.

Zusammenfassung

Der Gleiwitzer Sender zählt aufgrund des fingierten Überfalls durch die Nationalsozialisten am 31. August 1939 zu den bekanntesten Erinnerungsorten der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Er prägt die oberschlesische Landschaft und gilt als höchste Holzkonstruktion der Welt. Jedes Jahr zieht die Sehenswürdigkeit Hunderte von Touristen an.

Ein architektonisches Meisterwerk

Wer als Besucher die Silhouette des Gleiwitzer Sendeturms aus der Ferne erblickt, fühlt sich unweigerlich an den Pariser Eiffelturm erinnert. Die Gestalt des Turmes, der erst 30 Jahre nach seinem französischen Vorbild erbaut wurde, drängt diesen Vergleich auf. Den Gleiwitzern ergeht es wahrscheinlich umgekehrt. Sie fühlen sich an ihren Sendeturm erinnert, wenn sie dem Turm in Paris gegenüberstehen. Die bauliche Verwandtschaft ist verblüffend und liegt doch auf der Hand. Nur diese spezifische, nach oben spitz zulaufende Form verbindet den geringsten Bauaufwand eines Turmes mit der größtmöglichen Höhe.

Das gilt für den Eiffelturm und für den Sender. Doch im Gegensatz zum Pariser Vorbild offenbart sich zur Überraschung der meisten Besucher der Gleiwitzer Turm aus der Nähe betrachtet nicht als Stahlkonstruktion, sondern als Holzbauwerk. Mit seinen 118 Metern Höhe gilt dieser Sendeturm aus Lärchenholz sogar bis heute als höchste Holzkonstruktion der Welt.

Der erste Rundfunksender in Gleiwitz wurde am 15. November 1925 unweit des heutigen Standortes errichtet. Er sendete damals noch über eine 94 Meter lange T-Antenne, die zwischen zwei 75 Meter hohen Stahltürmen befestigt war. Produziert wurden dort vor allem Programme, mit denen die regionale oberschlesische Kultur popularisiert wurde und die Bindung der Oberschlesier an die deutsche Sprache und Kultur gestärkt werden sollte.

Infolge der Abstimmung und der darauffolgenden Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen 1921 war ein Kampf um die nationale Zugehörigkeit der Bevölkerung entbrannt, der mit allen Mitteln, also auch auf dem Gebiet der Schule oder der Medien, zwischen beiden Ländern ausgetragen wurde. Als die ursprüngliche Sendeleistung dieser Station nicht mehr ausreichte, erbaute man vom 1. August 1934 bis zum 23. Dezember 1935 an der damaligen Tarnowitzer Landstraße (heute ulica Tarnogórska 129) einen neuen Sender.

Bei diesem wurde die Antenne senkrecht angelegt und, um Störungen zu vermeiden, der Turm außen herum aus Holz gebaut. Sein Schöpfer war Oberingenieur Paul Meltzer (1869–1953), der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seiner Darmstädter Firma MEDA als Pionier im Holzbau zahlreiche Sende- und Aussichtstürme sowie andere Holzbauten konzipierte.

16.000 Messingschrauben fügen bis heute die Balken des Turmes aus Lärchenholz zusammen. Zwei Mal im Jahr werden sie nachgezogen, damit der Turm noch viele Jahre stabil gehalten und an andere Nutzer vermietet werden kann. Zahllose moderne Satellitenschüsseln und Antennen hängen deshalb wie Parasiten an dem gewaltigen Holzbau und profitieren von seiner Höhe. Der neue Sender wurde vor allem dazu genutzt, die Sendungen auszustrahlen, die im alten Studio weiterhin produziert wurden.

Nebensender mit Verstärkerfunktion

Außerdem diente der Sender überwiegend als Relaisstation für die Schlesische Funkstunde A.G., eine private Hörfunkgesellschaft mit Sitz in Breslau. Deren Sendegebiet umfasste das Gebiet der damaligen Oberpostdirektionen von Breslau, Oppeln und Liegnitz. In Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten büßte der Breslauer Sender seine Eigenständigkeit ein und wurde im Zuge der Gleichschaltung in „Reichssender Breslau“ umbenannt. Nicht zuletzt die Tatsache, dass der Nebensender in Gleiwitz nur eine Art Verstärkerfunktion innehatte und kein eigenes Programm ausstrahlen konnte, sollte sich für die Nationalsozialisten noch als fatal erweisen. Der fingierte Überfall zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verlief keineswegs so, wie die politische Führung sich das vorgestellt hatte. Als Schüler hat man in der Regel eine merkwürdige Vorstellung vom deutschen Überfall auf den Gleiwitzer Sender am 31. August 1939. Man stellt sich zwei oder drei Moderatoren mit Kopfhörern an einem Mischpult vor, die fröhliche Scherze machen und ab und zu Schallplatten wechseln. Plötzlich stehen als Polen getarnte deutsche Soldaten in der Tür, uniformiert, mit Gewehren im Anschlag, die in den Raum stürmen, die Moderatoren erschießen und ihre Provokation auf Polnisch in den Äther brüllen: „Achtung! Achtung! Hier ist der Sender Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischen Händen.“ Die Frage, ob die deutschen Provokateure polnisch konnten, und wenn, woher, stellt sich in der Regel ebenso wenig, wie die Frage nach der geografischen Lage des Senders.

Wer heute den kleinen Saal am Fuße des riesigen Holzturms betritt, mag im ersten Moment die imaginären Moderatoren wieder vor Augen haben. Im Raum befinden sich noch immer das Steuer- und Kontrollsystem von damals, eine Lüftungsanlage, die Senderanlage sowie ein Kontrollpult. Eigentlich fehlen nur ein Plattenspieler und ein Regal für die Schallplatten, dann könnte man meinen, hier wäre mal Musik in den Äther gespeist worden. Doch Musiksendungen wurden hier nie produziert, denn die Deutschen hatten versehentlich den falschen Sender überfallen. Diese Station diente von Beginn an nur als Verstärkerstation der Hauptstation, die sich vier Kilometer weiter entfernt befand. Hier gab es lediglich ein provisorisches Mikrofon für Sturmwarnungen oder Katastrophenschutz. Eine originale Siemensuhr von damals, die an der Wand hängt, zeigt auf acht Uhr, jene Stunde, in der der Überfall am 31. August 1939 stattfand.

Bereits in den Tagen vor Kriegsbeginn war es im deutsch-polnischen Grenzgebiet Oberschlesiens zu mehreren Zwischenfällen gekommen, die von deutschen Gruppierungen inszeniert wurden. Sie sollten Grenzverletzungen durch Polen als Vorwand für einen deutschen Angriffskrieg liefern. Schon am 22. August 1939, eine Woche vor dem Überfall auf den Gleiwitzer Sender, hatte Hitler vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht erklärt: „Die Auslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht“.1

Noch zwei Wochen früher, am 10. August desselben Jahres, hatte der Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers der SS Reinhard Heydrich bereits den Befehl gegeben, auf ein entsprechendes Codewort hin auf den Sender in Gleiwitz einen fingierten Anschlag zu verüben. Daraufhin reiste SS-Sturmbannführer Alfred Naujock nach Gleiwitz und quartierte sich bis zum entsprechenden Befehl im Gleiwitzer Hotel „Haus Oberschlesien“ ein.

Ein Überfall, der anders verläuft als geplant

Als Naujock, der bereits Erfahrung mit Geheimaufträgen, politischen Morden und Bombenanschlägen hatte, am Nachmittag des 31. August 1939 im Hotel einen Anruf erhielt mit dem Codewort „Großmutter gestorben“, war dies das Signal für seinen Einsatz. Mit fünf oder sechs SS-Männern stürmte er gegen 20 Uhr abends in den kleinen Senderaum, nachdem die in die Aktion eingeweihten Pförtner bereits ihre Posten verlassen hatten.

Ob Naujocks Männer dabei in Zivil gekleidet waren oder polnische Uniformen trugen, ist umstritten. Im Sender selbst wurden vier Mitarbeiter überwältigt und gefesselt in einen der Räume im Keller gebracht. Die geplante Einspeisung des Überfalls in das Sendeprogramm erwies sich allerdings als problematisch. Zu spät erkannten die SS-Männer, dass von diesem Senderaum kein eigenes Programm ausgestrahlt werden konnte – und es daher auch keinen entsprechenden Arbeitsplatz gab.

So mussten sie zunächst mit einiger Mühe das laufende Programm unterbrechen und sich dann mittels eines Gewittermikrofons, das für Notfälle zur Verfügung stand, dazwischenschalten. Kein Wunder also, dass die Nachricht schon nach wenigen Worten abbrach. Wegen technischen Versagens.

In Berlin wartete man vergeblich auf das erhoffte Ergebnis, das den Vorwand für den Kriegsausbruch liefern sollte. Doch für die nationalsozialistische Propaganda reichten die wenigen Wortfetzen, die ihren Weg im Umfeld des Senders nach draußen fanden. Schon um 22.30 Uhr berichtete der Reichsrundfunk über den Überfall auf den Sender und andere Provokationen im deutsch-polnischen Grenzgebiet, die als propagandistische Begründung des Kriegs ausreichen sollten.

Naujocks fingierter Überfall hatte also seinen Sinn erfüllt, auch wenn diese gänzlich schlecht vorbereitete Aktion weniger Aufmerksamkeit erzielte als gewünscht. Mit dem Leben bezahlt hat diese Provokation der polnische Oberschlesier Franciszek Honiok, der im Vorfeld gefangengenommen und mit einer Spritze betäubt worden war. Ob er bereits vor der Aktion verstarb oder erst am Tatort, konnte nie geklärt werden. Als angeblicher Täter sollte seine Leiche zurückbleiben, wodurch er zum ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs wurde.

Der Gleiwitzer Sender nach 1945

Nachdem die sowjetische Armee im Januar 1945 Gleiwitz besetzt hatte, wurde die Stadt zwei Monate später der polnischen Verwaltung übergeben. Der einstige „Gleiwitzer Sender“ nahm 1946 sein Programm wieder auf, diesmal allerdings als „Radio Katowice“, da die deutsche Armee den eigentlichen Sender in Kattowitz zerstört hatte. Zwischen 1950 und 1956 wurde die Gleiwitzer Anlage auch genutzt, um den Empfang westlicher Sender wie Radio Freies Europa, die „Stimme Amerikas“ oder die BBC zu stören. In den 1970 Jahren baute man in den Räumen des Senders Anlagen für Fernsehstationen. Obwohl die Idee, in den Räumlichkeiten des Senders ein Museum zu errichten, bereits 1963 aufkam, dauert es bis zum Jahr 2005, bis das Museum Gleiwitz hier die Abteilung für Rundfunkgeschichte und Medienkunst eröffnen konnte.

Ein eindrucksvoller Dokumentarfilm vermittelt den Besucherinnen und Besuchern in einem kleinen Kinosaal die Geschehnisse von damals. Die ausgestellten technischen Geräte ermöglichen ihnen eine authentische Zeitreise in die Vergangenheit. Ausgestellt ist auch jenes Gewittermikrofon, das insbesondere bei deutschen und polnischen Schulklassen auf reges Interesse stößt. Was sollte man als Gast aus Deutschland heute in dieses Mikrofon sprechen, wenn es denn funktionierte? Eine Phrase auf die deutsch-polnische Freundschaft? Eine Entschuldigung?

Doch kein Film, kein Mikrofon, keine technische Anlage vermag mit dem Anblick des draußen stehenden Holzturms zu konkurrieren, dessen riesige Silhouette seine Geschichte weithin über die Stadt hinaus sichtbar macht.

Im Innern des Konstrukts hängt noch immer jener Draht, der den eigentlichen Anlass für den Turmbau und die ganze Station um ihn herum lieferte. Ein unscheinbarer, dünner Metalldraht. Wer an ihm emporschaut, blickt zugleich in die Geschichte zurück, an den Anfang des Zweiten Weltkriegs und auf die Entwicklung einer deutsch-polnische Geschichte, die trotz allem am Ende ein solches Museum möglich machte.


Fußnote:


  1. ns-archiv.de: Ansprache Adolf Hitlers, Aufzeichnung Generaladmiral Boehm. In: Jo hannes Hohlfeld (Hrsg.): Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Band V, Berlin 1953, S. 74–81. Abgerufen am 13. September 2015. ↩︎