Sarajevo: Erinnerungsort wider Willen

aus OWEP 1/2014  •  von Ulf Brunnbauer

Prof. Dr. Ulf Brunnbauer ist Professor für Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg. Er hat auch die Bilder in diesem Beitrag zur Verfügung gestellt.

Zusammenfassung

Das Attentat vom 28. Juni 1914 wies Sarajevo auf der Landkarte des europäischen Erinnerns den Platz zu, Ort des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs gewesen zu sein. In der Stadt selbst gestaltete sich die Erinnerung an dieses Ereignis ambivalent und konfliktreich, nicht zuletzt aufgrund des Krieges der 1990er Jahre, der Sarajevo erneut zu einem zentralen Erinnerungsort gemacht hat. Der Beitrag diskutiert die symbolische Bedeutung Sarajevos vor dem Hintergrund der Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert.

Im Juni 1868 bereiste der preußische Publizist Franz Maurer Bosnien – eine damals noch osmanische Provinz, welche die Imagination der Mittel- und Westeuropäer besonders anregte, galt sie doch als ein Stück Morgenland in nächster Nachbarschaft. In dem 1870 erschienenen Reisebericht „Eine Reise durch Bosnien, die Saveländer und Ungarn“ beschreibt er seine Eindrücke aus Sarajevo:

„Sarajewo dürfte trotz des kolossalen Raumes, den es bedeckt, doch nicht mehr als 40.000 Einwohner haben, von denen … etwa 6000 Serben, 200 Katholiken, 1600 Juden, 1000 Zigeuner, die übrigen Muhamedaner sind. … Die Lage der Stadt ist reizend und ihr Anblick, besonders von dem Felsen des Forts und von der alten Festungsstadt aus, entzückend schön — das weisse Häusergewirr mit lebendem Grün vermischt liegt wie hingegossen an den Abhängen der Hügel und Berge, Kuppeln und zahllose Minares [Minarette] ragen überall hervor und der stattlich erscheinende Fluss zieht sich wie ein breites Silberband durch das liebliche Chaos hindurch, um im Westen in der weiten Ebene zu verschwinden. Die umgebenden Bergeshänge sind, wo sie nicht nackten Fels zeigen, überall mit frischem Grün bekleidet. … Ausser einigen der grössten Moscheen und mehreren Hans [Karawansereien] von ausserordentlichem Umfange gibt es in Sarajewo kein einziges Gebäude, welches nicht, an sich betrachtet, den architektonischen Schönheitssinn auf das Empfindlichste beleidigte. Am meisten ist dies mit dem auffälligsten Gebäude der ganzen Stadt, mit der serbischen Kathedrale der Fall, welche in barbarischer Geschmacklosigkeit alles nur Mögliche leistet.“1

Von dem anti-slawischen Unterton einmal abgesehen (der sich schon am Beginn des Buches einstellt, wenn Maurer seine Eindrücke aus Prag zu Papier bringt), handelt es sich bei diesem Reisebericht um eine vergleichsweise wenig exotisierende Darstellung einer von den Europäern dieser Zeit als orientalisch wahrgenommenen Stadt. Das Bild einer trotz ihrer Funktion als administratives Zentrum einer osmanischen Provinz nicht besonders großen, mit den zeitgenössischen Errungenschaften urbaner Zivilisation spärlich ausgestatteten Provinzstadt entsteht, deren schöne Lage mit der wenig attraktiven Architektur kontrastiert. Maurers Bericht erweckt auch den Eindruck einer gewissen Unaufgeregtheit, mit der das Leben in der Stadt vor sich hin plätschert. Der osmanische Gouverneur, der serbische Bischof, die anwesenden Konsuln ausländischer Mächte – sie alle haben ausreichend Zeit und Muße, um mit dem ohne jeglichen offiziellen Auftrag Reisenden bei Kaffee und Tabak zu plaudern. Nichts deutete darauf hin, dass nur zehn Jahre später die Stadt Sarajevo wenn schon nicht im Zentrum der Weltpolitik, so doch der „orientalischen Frage“ stand, welche die europäischen Großmächte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts umtrieb und worunter sich letztlich die Frage verbarg, welche Macht sich welche Teile des Osmanischen Reiches als Einflussgebiet sichern konnte.

Auf Sarajevo wartete ein Schicksal, exekutiert von Akteuren, die vielfach nicht aus der Stadt selbst stammten und die Sarajevo zu einem Erinnerungsort wider Willen, aber von europäischem Rang machen würden. Fällt der Name „Sarajevo“, gibt es heute kaum jemanden, der nicht an „1914“ und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sowie an den Bosnienkrieg der 1990er Jahre denkt – während etwa die Erinnerung an die 1984 in Sarajevo ausgetragenen olympischen Winterspiele längst verblasst ist. Die mit der Chiffre Sarajevo verbundenen Erinnerungen (und das mit Erinnern immer einhergehende Vergessen) verweisen auf eine Stadtgeschichte, die in vielerlei Hinsicht symbolisch für die Geschichte Südosteuropas im 20. Jahrhundert steht – eine Epoche, die am Balkan mit den territorialen Neuordnungen im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reiches begann und in der blutigen Auflösung Jugoslawiens endete.

Die historischen Schichten im Stadtbild

Sarajevo heute (Foto: Renovabis-Archiv)

Ein Weg, sich der Geschichte Sarajevos anzunähern und sie sich im Wortsinne anzusehen, eröffnet sich durch die Sichtbarkeit der unterschiedlichen politischen Ordnungen, zu denen die Stadt im Laufe der Jahrhunderte gehört hat. Mehr als andere Städte des Balkans beherbergt Sarajevo, das um das Jahr 1460 von den osmanischen Eroberern gegründet worden ist, heute noch osmanische Baudenkmäler, vor allem eine Reihe von Moscheen aus dem 15. und 16. Jahrhundert sowie die für osmanische Städte typischen Gebäude (Bäder, Karawansereien, überdachter Markt), den alten Bazar im Zentrum der Altstadt (baščaršija), aber auch eine spätosmanische Brauerei (gegr. 1864).

Sehr präsent im Stadtbild Sarajevos ist das archetektonische Erbe der habsburgischen Herrschaft, die mit der Okkupation Bosniens im Jahr 1878 begann. 1908 annektierte Österreich-Ungarn die Provinz.2 Mit der Umgestaltung von Sarajevo, der Hauptstadt der Provinz, wollte die neue Herrschaft nicht nur ihren Machtanspruch, sondern auch ihre Modernisierungsagenda manifestieren. Habsburgische Architekten, wie der Kroate Josip Vančas und der Tscheche Karel Pařik, entwickelten in Sarajevo einen eigentümlichen Baustil, der mitteleuropäische Muster mit einer pseudo-orientalischen Formgebung verband, woraus so bemerkenswerte Gebäude entstanden wie das Landesmuseum, das Rathaus, die Kunstakademie und die aschkenasische Synagoge am Ufer der Miljacka. Auch die elektrische Straßenbahn ist ein österreichisch-ungarisches Erbe – zu ihrer Betriebsaufnahme im Jahr 1895 war sie die erste in der Donaumonarchie.

Aus der Zwischenkriegszeit stammen einige wenige prägnante Gebäude, wie jenes der (heutigen) Nationalbank, die für die jugoslawische Architektur der 1920er und 1930er Jahre, die sich als Teil der europäischen Moderne verstand, charakteristisch ist. Insgesamt manifestiert sich aber in der relativ schwachen Präsenz von Baudenkmälern aus jener Zeit die geringe Bedeutung, die Sarajevo im „ersten“ Jugoslawien, das sehr zentralistisch organisiert war, besaß: Bosnien war politisch und ökonomisch tiefe Provinz.

Geschichte ist jedoch nicht nur in Artefakten, sondern auch in Absenzen präsent. Eine der tragischsten Perioden der Geschichte der Stadt – die Zugehörigkeit Sarajevos (und Bosnien und Herzegowinas) zum so genannten „Unabhängigen Staat Kroatien“ (NDH) – hat zwar kaum architektonische, aber dennoch tiefe Spuren hinterlassen. Der NDH wurde von NS-Deutschland nach dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im April 1941 als Marionettenstaat aus der Taufe gehoben, der von der faschistischen Ustaša beherrscht wurde. Ziel der Ustaša war die Schaffung eines ethnisch reinen Kroatien. Ihre Herrschaft war eine Zeit des Terrors und des Massenmordes an Juden, Roma, Serben und politisch Andersdenkenden. Von der vor dem Krieg mehr als 10.000 Personen großen jüdischen Gemeinde Sarajevos waren nur mehr rund 1.500 Mitglieder am Leben, als Anfang Mai 1945 die jugoslawischen Partisanen Sarajevo befreiten.

Die neue kommunistische Regierung hegte große Umgestaltungspläne für Sarajevo. Aus der verschlafenen, osmanisch-habsburgisch geprägten Provinzstadt sollte eine moderne sozialistische Stadt werden, wie es sich für die Hauptstadt einer jugoslawischen Teilrepublik (Bosnien und Herzegowina) ziemte. Der ursprüngliche Plan, den alten Bazar völlig zu zerstören, wurde von der Stadtregierung zum Glück wieder fallengelassen; außerhalb der Altstadt entstanden zahlreiche Bauwerke im jeweils aktuellen Stil jugoslawisch-sozialistischer Baukunst, darunter emblematische Gebäude wie das Parlamentsgebäude, das Hotel „Holiday Inn“ (1983) und die zwei Hochhäuser der UNIS-Türme (1986) sowie die vorgefertigten Wohnblöcke für die „sozialistischen“ Arbeiter in der rasch wachsenden Stadt (von 1948 bis 1991 stieg die Bevölkerung Sarajevos von rund 117.000 auf 417.000 im engeren Stadtgebiet).

Es gehört zu den traurigen Charakteristika Sarajevos, dass viele der genannten Baudenkmäler erst durch den Akt der Zerstörung im von 1992 bis 1995 andauernden Krieg (wieder) bekannt wurden. Das Parlamentsgebäude wurde von serbischen Truppen ebenso gezielt in Brand geschossen wie die sog. Viječnica, das ehemalige unter den Habsburgern im neo-maurischen Stil errichtete Rathaus, das zu dieser Zeit die Nationalbibliothek beherbergte. Die bewusste Zerstörung von kulturell und politisch wichtigen Orten gehörte zur Strategie der serbischen Truppen in Bosnien, das kulturelle Gedächtnis der Bosnier und die Zeichen ihrer Eigenständigkeit, ja Existenz zu zerstören; die großserbische Vision kostete alleine in Sarajevo mehr als 10.500 Zivilpersonen das Leben, darunter 1.600 Kindern.

Fassade mit Kriegsschäden (Foto: Renovabis-Archiv)

Seit dem Ende des Kriegs in Bosnien erlebt das Stadtbild Sarajevos eine erneute Transformation. Abgesehen von der noch keineswegs abgeschlossenen Beseitigung von Kriegsschäden trug ein Bau-Boom dazu bei, dass auch Sarajevo das typische Antlitz einer postsozialistischen Stadt, mit neuen Shopping Malls, Bankzentralen, Wohnhäusern etc. erhielt, die eine weitere Dimension des Eklektizismus in eine ohnehin schon sehr heterogene Stadtlandschaft einbringen. Mit dem 172 Meter hohen Avaz Twist Tower kann Sarajevo heute den höchsten Wolkenkratzer des Balkans sein eigen nennen.

Sarajevo als symbolischer Ort

Die letalen und letztlich für Europa fatalen Schüsse von Gavrilo Princip auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie Gräfin Chotek am 28. Juni 1914 sollten Sarajevo zu einem Erinnerungsort ersten Ranges, aber mit unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen machen. Während die meisten Europäer fortan Sarajevo als jenen Ort erinnerten, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach (was eine starke Verkürzung ist), und in der österreichischen Erinnerungskultur „Sarajevo“ mit dem Untergang der Monarchie verschmolz, machte das Attentat die Stadt im kollektiven Gedächtnis Serbiens und Jugoslawiens zu einem symbolischen Ort des Freiheits- und Vereinigungskampfes.

Die Praktiken der öffentlichen Erinnerung (bzw. Nichterinnerung) in Sarajevo an das Attentat vom 28. Juni 1914 sind mehrdeutig und spiegeln die Peripetien wider, die Sarajevo und die Region im 20. Jahrhundert durchlebt haben. Österreich-Ungarn ließ drei Jahre nach dem Attentat ein Monument für den ermordeten Thronfolger nahe dem Schauplatz des Geschehens errichten – am rechtsufrigen Fuße der Lateinerbrücke im Stadtzentrum. Das im Dezember 1918 neugeschaffene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien) baute, wenig überraschend, das Monument bereits Ende 1918 wieder ab. Erst zwölf Jahre später brachten Freunde und Mitverschwörer Princips in einer schlichten Zeremonie ohne Staatsgäste am 2. Februar 1930 eine Gedenktafel zu Ehren Princips an, auf der zu lesen stand: „An diesem historischen Ort hat Gavrilo Princip am Vidovdan 15./28. Juni 1914 die Freiheit erkämpft.“3 Die Inschrift ließ somit offen, ob es sich um die Befreiung Serbiens oder Jugoslawiens handelte – in der offiziellen Gedenkpolitik des ersten Jugoslawien wurde stets versucht, den serbischen Nationalismus der Vorkriegszeit in Verbindung mit der Befreiung und Vereinigung der Südslawen zu bringen. Der späte Zeitpunkt der Anbringung der Gedenktafel und die Zurückhaltung der Regierung sind dabei durchaus sinnfällig für den schwierigen und widersprüchlichen Staats- und Nationsbildungsprozess in Jugoslawien, dessen staatliche Vereinigung keineswegs mit einem allumfassenden Einigkeitsgefühl seitens der Bevölkerung einher ging.

Der Zweite Weltkrieg brachte die nächste Zäsur in der offiziellen Erinnerung an das Attentat und fügte insgesamt Sarajevo neue Bedeutungsschichten hinzu. Unmittelbar nach der Einnahme Sarajevos am 17. April 1941 durch die deutsche Wehrmacht demontierten die deutschen Militärbehörden die Gedenktafel und schenkten sie Hitler zu dessen Geburtstag am 20. April (dieser Akt wurde durch Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann dokumentiert).

Am 6. Mai 1945 wurde Sarajevo von den Partisanen befreit; bereits einen Tag später wurde an dem Haus, vor dem Princip seine Schüsse abgegeben hatte, eine neue Gedenktafel angebracht: „Im Zeichen der ewigen Dankbarkeit an Gavrilo Princip und seinen Genossen-Kämpfern gegen die deutschen Eroberer, gewidmet von der Jugend Bosnien-Herzegowinas.“ Damit wurde Princip nun symbolisch eingereiht in den erfolgreichen Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzer, der zu dem historischen Narrativ, ja Gründungsmythos des sozialistischen Jugoslawien werden sollte. Sarajevo und Bosnien insgesamt nahmen in dieser Geschichte und ihrer Darstellung einen besonderen Platz ein; so verewigte der populäre Partisanenfilm „Valter verteidigt Sarajevo“ aus dem Jahr 1972 den lokalen Partisanenanführer Vladimir Perić Valter, der einer der letzten Gefallenen des Partisanenkampfes war. Der Film etablierte ihn als alljugoslawischen Helden und transformierte ihn zu einer mythologischen Chiffre für die Unbesiegbarkeit der Stadt; Sarajevo sollte nicht mehr primär als Ort des Attentates von 1914, sondern als emblematischer Ort des „Volksbefreiungskrieges“ erinnert werden, wobei aber beide Ereignisse durch den Vektor der jugoslawischen Befreiung und Vereinigung verbunden waren.

Die Geschichtspolitik des sozialistischen Jugoslawien gestaltete sich als äußerst ambivalentes und teilweise paradoxes Unterfangen, wollte es denn jugoslawischen Kommunisten und Historikern nicht so recht gelingen, eine Balance zwischen den Geschichten der konstitutiven „Völker“ des Landes einerseits und der gesamtjugoslawischen Perspektive andererseits herzustellen. Einst eindeutig national gefärbte Helden mussten, um offizielle Anerkennung zu erfahren, eine jugoslawische Komponente erhalten; so wurde auch der Attentäter von Sarajevo für den Freiheitskampf der jugoslawischen Völker in Anspruch genommen, wie es die 1952 an besagtem Ort neu angebrachte Gedenktafel etwas verquastet (und in kyrillischen Lettern) zum Ausdruck brachte: „Von diesem Ort hat Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 mit seinen Schüssen den nationalen Protest gegen die Tyrannei und den ewigen Wunsch unserer Völker nach Freiheit zum Ausdruck gebracht.“ Das Haus, vor dem Princip seine Schüsse abfeuerte, wurde zu einem Museum, das affirmativ des Attentats gedachte. Die Lateinerbrücke wurde in Gavrilo-Princip-Brücke umbenannt und an der Stelle, an der Princip während des Attentates gestanden haben soll, wurde eine Steinplatte mit Fußabdrücken ins Trottoir eingelassen.

Trotz dieser versuchten Einordnung Princips in ein progressives, jugoslawisches Narrativ blieb er in der populären Wahrnehmung ein – je nach Perspektive – Held oder Übeltäter und ganz klar als serbisch konnotiert. Während der Belagerung Sarajevos durch serbische Truppen von 1992 bis 1995 wurden daher von der Stadtverwaltung die Gedenktafel zerstört, die symbolischen Fußabtritte entfernt und das Museum geschlossen. Angesichts des Krieges und des eigenen Erlebens der tragischen Konsequenzen von radikalem Nationalismus erfuhr in der kollektiven Erinnerung der nicht-serbischen Bevölkerung Sarajevos die Periode der Habsburgerherrschaft eine Rehabilitation. Nach dem Ende des Krieges eröffnete die Stadt Sarajevo das Museum wieder, allerdings nicht mehr mit einer das Attentat verherrlichenden Ausstellung, sondern als Museum des Lebens in Sarajevo in österreichisch-ungarischer Zeit. Auch eine neue zweisprachige (auf Bosnisch und Englisch) Gedenktafel ließ sie am Ort des Attentats anbringen: „Von diesem Platz ermordete am 28. Juni 1914 Gavrilo Princip den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sofia.“4 Der faktografische Duktus der Inschrift, die den Akt des Mordes mit keinerlei Sinnstiftung versieht, manifestiert klar eine Distanzierung. 2013 gab die Regierung des Kantons Sarajevo bekannt, sogar das seinerzeitige österreichisch-ungarische Denkmal für Franz Ferdinand wieder rekonstruieren zu wollen, was scharfe Kritik nicht nur von serbischer Seite hervorrief.

Im Bewusstsein der Bevölkerung der Stadt tritt jedoch die öffentlich umstrittene Erinnerung an den Ersten Weltkrieg klar hinter jene an den Krieg der 1990er Jahre zurück; Sarajevo war die einzige Stadt in Europa, die nach dem Zweiten Weltkrieg einer jahrelangen Belagerung ausgesetzt wurde. Während der Belagerung und ihrem Ende am 31. Juli 1995 wurde Sarajevo zu einem Symbol nicht nur der serbischen Aggression in Bosnien und Herzegowina, sondern auch des Versagens Europas und der Internationalen Gemeinschaft, die sich jahrelang nicht zu einer militärischen Intervention durchringen konnten. Der Krieg, den die Bewohner Sarajevos durchlebt haben, wird auf absehbare Zeit den zentralen Platz sowohl im Gedächtnis der Stadt und ihrer Bewohner einnehmen – wachgehalten vom eigenen Erleben ebenso wie den vielfältigen Erinnerungsinitiativen in einem Land, dessen politische Trennlinien noch immer entlang der einstigen Fronten des Krieges verlaufen.

Der Krieg markiert dabei nicht bloß die traumatische Erfahrung eines über die Menschen hereingekommenen, ihnen aufgezwungenen Ereignisses, sondern das Ende eines Traums: Sarajevo ist ein Ort, an dem sich Erinnerungen an ein besseres Leben und an eine durch die Ereignisse seit 1991 verschüttete hoffnungsvolle Zukunft festmachen. Sarajevos Vorkriegszeit repräsentiert in den Augen vieler Menschen all das, was Jugoslawien trotz der Defizite des Landes heute zum Gegenstand nostalgischer Wehmut werden lässt: das aus heutiger Perspektive friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher konfessioneller und nationaler Zugehörigkeit; der wirtschaftliche und soziale Aufschwung, den die Stadt bis in die 1980er Jahre erlebte; die kreative Atmosphäre, die Sarajevo unter anderem zu einem Zentrum der jugoslawischen Rockmusik werden ließ; die Anerkennung, die die Stadt und das Land durch die Welt erfuhren – ausgedrückt durch die Vergabe der olympischen Winterspiele 1984 an Sarajevo. Es ist nicht nur für Bewohner Sarajevos kaum begreiflich, wie es sein konnte, dass sie 1984 vor allem die – aus späterer Warte betrachtet – banale Sorge umtrieb, ob die jugoslawischen Skistars Bojan Križaj und Jure Franko eine Medaille bei der Olympiade gewinnen würden, während sie keine zehn Jahre später mit dem blanken Überleben beschäftigt waren. Nur zu verständlich sind daher Nostalgie und der Wunsch nach einer neuen Normalität.

Epilog

Sarajevo ist auch ein Name, dessen Erwähnung in den Kreisen europäischer Politiker bis heute schlechtes Gewissen auslöst und Versöhnungsinitiativen stimuliert; dabei spielen lokale Bedürfnisse und Wahrnehmungen oftmals eine untergeordnete Rolle, angesichts der Tauglichkeit von Sarajevo als Symbol und Ort für große Gesten, mit denen Friede und Europa beschworen werden können.

So wird es unvermeidlich sein, dass im Gedenkjahr 2014 europäische Gedenkbemühungen und lokale Problemlagen kollidieren. Initiativen wie jene der von Frankreich initiierten und der EU mitfinanzierten Stiftung „Sarajevo – das Herz Europas“ und die Sarajevo-bezogenen Aktivitäten im Rahmen der großangelegten französischen „Mission Centenaire“ lenken zwar die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit wieder auf die Stadt; andererseits aber tragen sie ihre eigene Agenda nach Sarajevo mit letztlich fragwürdigen Konsequenzen. In ihrem Anspruch, mit der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gleichzeitig die Versöhnung der Konfliktparteien des letzten Krieges voranzutreiben, stärken diese Initiativen die Politisierung der Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg. Schließlich sind es ausgerechnet die Nationalisten auf allen Seiten in Bosnien und Herzegowina, die eine Verbindung zwischen 1914 und dem Bosnienkrieg herstellen. In einem ethnonational so segregierten Land wie Bosnien und Herzegowina ist dann kaum mehr zu vermeiden, dass nationale Standpunkte bei der Bewertung der Vergangenheit eingenommen werden.

Nicht zum ersten Mal werden der Balkan und insbesondere Sarajevo zum Gegenstand von Aktivismus, der von außen kommt, und zur Projektionsfläche von (inter-)nationalen sowie europäischen Befindlichkeiten. „1914“ wird für Sarajevo regelrecht zur Bürde. Diese Chiffre lädt die Stadt ständig mit einer Bedeutung auf, die letztlich wenig mit dem Schicksal Sarajevos zu tun hat. Hier brechen sich vielmehr nationale Aneignungsversuche zum einen, europäische Sinngebungen zum anderen, Bahn. Sarajevo scheint der undankbaren Rolle des Erinnerungsortes wider Willen nicht entkommen zu können.


Literaturhinweise:

  • Muharem Bazdulj: Priča o jednoj fotografiji: Srećan rođendan, gospodine Hitler. In: Vreme, Nr. 1191, 31.10.2013.
  • Robert J. Donia: Sarajevo. A Biography. London 2006.
  • Ivana Maček: Sarajevo under Siege. Anthropology in Wartime. Philadelphia 2009.
  • Magbul Škoro: Gruss aus Sarajevo. Sarajevo 2005.
  • Holm Sundhaussen: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt. Wien 2014.

Fußnoten:


  1. Franz Maurer: Eine Reise durch Bosnien, die Saveländer und Ungarn. Berlin 1870, S. 347-353. ↩︎

  2. Ausführliche Hinweise zu den historischen Vorgängen und zur aktuellen Lage von Bosnien und Herzegowina bietet das OWEP-Heft 4/2011 mit dem Schwerpunkt „Bosnien und Herzegowina“ ↩︎

  3. Die beiden Daten geben jeweils die gängige julianische sowie die gregorianische Datumsangabe für den Veitstag an. ↩︎

  4. Diese Inschrift ist auch auf der ersten Umschlagseite des vorliegenden Heftes wiedergegeben. ↩︎