OWEP 4/2011
Schwerpunkt:
Bosnien und Herzegowina
Editorial
Kaum eine Region in Europa ist so stark von Gegensätzen und Konflikten geprägt wie der so genannte „Balkanraum“. Und innerhalb dieses südosteuropäischen Raumes ist es besonders das Land Bosnien und Herzegowina, das ein großes Spannungspotenzial in sich trägt. Die Gründe dafür sind vielfältig und liegen – historisch betrachtet – sicher ebenso sehr in der inneren Zersplitterung wie auch in der Fremdbestimmung durch externe Großmächte. Das vorliegende Heft will die unterschiedlichen Faktoren, die zu dem geführt haben, was Bosnien und Herzegowina heute ist, aufzeigen, aber auch die Frage stellen, wie es mit dem Land weitergehen kann.
Der Krieg von 1992 bis 1995 – häufig kurz Bosnienkrieg genannt – hat tiefe Spuren hinterlassen, die noch an vielen Stellen im Lande begegnen und mancherorts auf nicht aufgearbeitete Unversöhntheiten und Traumata hinweisen. Das Verhältnis der hier lebenden Ethnien untereinander, vor dem Krieg eher von starker Durchmischung und guten Beziehungen gekennzeichnet, ist gegenwärtig mehr durch Separation als Kooperation geprägt. Und doch wäre letztere so notwendig!
Deutlich wird in einigen Beiträgen: Es geht derzeit kaum etwas wirklich voran in Bosnien und Herzegowina, das „System Dayton“ hat zwar einen Krieg beendet, aber nicht wirklich geholfen, die ethnischen Spannungen und politischen Antagonismen zu überwinden – und es hat zu wirtschaftlicher Agonie geführt. So steht die Frage im Raum, ob für die weitere Entwicklung nicht doch eine grundlegende Verfassungsreform erforderlich wäre, ebenso wie eine klare Perspektive bezüglich der europäischen Integration des Landes.
Hingewiesen sei noch auf elf kleine Informationskästen, die sich über das Heft verteilt finden. Darin geht es u. a. um „Fußball als Spiegelbild des Landes“ und um „nationalistische“ Bildungspolitik, um die „bosnischen Pyramiden“ und die „Bosnische Kirche“ sowie schließlich um das „und“ im Landesnamen. In ihrer thematischen Vielfalt spiegeln auch diese Beiträge etwas vom bunten und spannungsvollen Charakter des Landes wieder.
Die Redaktion
Kurzinfo
Bosnien und Herzegowina – ein Land oder zwei Länder? Schon die ungewöhnliche Namensform deutet auf ein im wahrsten Sinn des Wortes kompliziertes Gebilde hin, dessen Geschichte, mehr aber noch gegenwärtige Situation wie eine Aneinanderreihung von Paradoxien wirkt. Das Land im Herzen des ehemaligen Jugoslawiens bildet einen Vielvölkerstaat im Kleinen und war zuletzt Schauplatz des blutigsten der Kriege, die sich nach 1990 auf dem westlichen Balkan abgespielt haben. Dessen Folgen wirken bis heute lähmend auf die Entwicklung und verstellen den Blick auf das, was Bosnien und Herzegowina auch ist: ein Land reicher kultureller Traditionen und faszinierender Landschaften. Das vorliegende Heft will versuchen, ihm ein wenig gerecht zu werden.
Mit der provokanten Titelzeile „betont gegensätzlich oder betonte Gegensätze?“ eröffnet der in Zürich lebende Journalist und Historiker David Roth die Abfolge der Textbeiträge. Er bietet einen historischen Überblick vom späten Mittelalter und der beginnenden osmanischen Herrschaft bis in die Gegenwart, wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung der Republik Bosnien und Herzegowina innerhalb Jugoslawiens und seit der Unabhängigkeit 1992 liegt. Mit dem Vertrag von Dayton (1995) endeten die militärischen Konflikte, ohne jedoch bisher zu einer dauerhaften Versöhnung der Volksgruppen zu führen. Das Zusammenleben der verschiedenen Völkerschaften analysiert dann Dr. Katrin Boeckh, Privatdozentin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, noch genauer und weist nach, dass es von den ersten Volkszählungen im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart kaum möglich gewesen ist, exakte Zahlen des serbischen, kroatischen und „muslimischen“ Bevölkerungsanteils zu erheben. Verlässlichere Daten liefern Statistiken, die sich auf die Religionszugehörigkeit beziehen.
Der Vertrag von Dayton hat zwar äußerlich Frieden gebracht hat, ist zugleich jedoch – so die These des in Sarajevo lebenden Politikwissenschaftlers Saša Gavrić – die Ursache für den poltisch-gesellschaftlichen Stillstand. „Dayton“ verordnete dem Land eine weltweit einmalige Verfassungsstruktur mit insgesamt 14 Parlamenten und 14 Regierungen für kaum mehr als vier Millionen Menschen. Viele Entscheidungen werden nur schleppend gefällt oder kommen, da sie sich widersprechen, gar nicht zur Durchführung; auch werden Minderheiten an der Ausübung ihrer Bürgerrechte behindert, was sich als ein Hindernis auf dem Weg zur europäischen Integration Bosnien und Herzegowinas erweist. Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen, die Frage der (Wieder-)Einbindung des Landes in größere Strukturen, die zugleich verhindern soll, dass Bosnien und Herzegowina erneut zum bloßen Objekt seiner unmittelbaren Nachbarn wird. Die internationale Gemeinschaft ist, wie der Politikwissenschaftler Tobias Flessenkemper, der als politischer Berater in Bosnien und Herzegowina tätig ist, ausführt, seit den neunziger Jahren auf unterschiedlichen Ebenen im Land tätig und trägt durch z. T. widersprüchliche Maßnahmen mit dazu bei, dass notwendige Schritte auf dem Weg in die Europäische Union eher verzögert als gefördert werden.
Neben Albanien ist Bosnien und Herzegowina der einzige Staat Europas mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, die der Kultur und Geschichte einen prägenden Stempel aufgedrückt hat. Die an der Ruhr-Universität Bochum lehrende Islamwissenschaftlerin Dr. Armina Omerika beschreibt die Entwicklung des Islams, erörtert seine Rolle für das Selbstverständnis der „Bosniaken“ und geht auch auf die für die Zukunft der gesamten Region wichtige Frage ein, ob sich die muslimische Gemeinschaft moderat entwickeln wird („Euro-Islam“) oder ob sich künftig vermehrt fundamentalistische Tendenzen zeigen werden. Solche Entwicklungen wirken sich natürlich auch im Schul- und Bildungswesen aus, dessen Struktur in vielfacher Hinsicht die politische Struktur des Landes wiederspiegelt. In einem weiteren Beitrag gibt Saša Gavrić Einblicke in ein System, das u. a. zu „zwei Schulen unter einem Dach“ geführt hat. Er leitet übrigens eine Nichtregierungsorganisation (NGO) in Sarajevo; diese spielen bis heute für den Aufbau des Landes eine wichtige Rolle. Dr. Rupert Neudeck, Gründer und langjähriger Sprecher des deutschen Not-Ärzte-Komitees Cap Anamur, bietet einen Überblick über die Tätigkeit von NGOs und Bürgerinitiativen in Bosnien und Herzegowina.
Politische und wirtschaftliche Eckdaten über Bosnien und Herzegowina sowie Hinweise zu den kirchlichen Strukturen bietet die Länderinformation, die Herbert Schedler, Projektreferent bei Renovabis, zusammengestellt hat. Sein Beitrag enthält auch knappe Hinweise zur Projektarbeit von Renovabis. Darauf folgt ein Interview mit Selim Beslagić, dem früheren Bürgermeister von Tuzla, dem es während des Bosnienkrieges gelungen ist, zwischen den verschiedenen Volksgruppen ein friedliches Miteinander zu erhalten. Er äußert sich zur heutigen Lage in der Stadt und Möglichkeiten der künftigen Entwicklung. Eine Reportage über die katholischen „Schulen für Europa“ und ihre Bedeutung für das Miteinander der verschiedenen Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina steht am Ende der Hauptbeiträge. Prof. Dr. Michael Albus, Mitglied der Redaktion, reiste im Frühjahr 2011 nach Sarajevo und führte dort und an mehreren anderen Orten Gespräche mit Schülern und Lehrern; er sprach auch mit Weihbischof Dr. Pero Sudar, der mit zu den Initiatoren dieses Projekts zählt.
Abgeschlossen wird das Heft mit einer Übersicht von Veröffentlichungen über Bosnien und Herzegowina.
Das Heft enthält eine Neuerung: Erstmals wurden elf Kästen mit Kurzinformationen zu bestimmten Themen über die Texte verstreut eingefügt. Sie lockern das Erscheinungsbild auf und behandeln in geraffter Form Themen wie „Ein ‚und‘, das nicht nur verbindet“, „Die bosnischen Pyramiden“, „Medjugorje“ oder „Fußball als Spiegelbild des politischen Zustandes“.
Als Beilage ist außerdem das Jahres-Inhaltsverzeichnis für 2011 beigelegt. Noch ein Hinweis auf das kommende Heft: Im Februar 2012 wird Heft 1 des nächsten Jahrgangs erscheinen, das sich mit Beiträgen aus zehn Ländern zum Thema „Zweifel an Europa?“ befassen wird.
Dr. Christof Dahm