Populismus in den Niederlanden

Frans Hoppenbrouwers ist Kirchenhistoriker und arbeitet in der niederländischen Stiftung „Communicantes“, die sich dem Dialog zwischen Kirchen und Einzelpersonen in Ost- und Westeuropa widmet.

Zusammenfassung

Die populistische Karte ist im letzten Wahlkampf in den Niederlanden von fast allen Parteien gezogen worden. Wie aus der folgenden Analyse hervorgeht, ist die Gesellschaft trotz der Wahlniederlage der „Partei für die Freiheit“ um Geert Wilders weiterhin tief gespalten, sodass auch in Zukunft populistische Parolen auf fruchtbaren Boden fallen werden.

Der deutsch-britische Politikwissenschaftler Ralf Dahrendorf sagte einst: „Der Populismus des einen ist des anderen Demokratie und umgekehrt.“ Darin ist wohl sicher ein wenig Wahrheit enthalten. Selbst rücksichtsvolle und prinzipientreue demokratische Politiker müssen sich nach den Bedürfnissen ihrer Anhängerschaft richten. Selbstverständlich muss aber zunächst die Frage beantwortet werden, worin genau die Bedürfnisse der Wähler bestehen und welche davon Politiker befriedigen sollten und welche nicht. Auf keinen Fall soll es darum gehen, Populisten grundsätzlich als niederträchtig und böse darzustellen, weil sie die Wählerschaft bewusst verführen und täuschen – sie haben durchaus eine Botschaft, auch in den Niederlanden.

Die Tatsache, dass Populisten sich befähigt zeigen, „Zorn zu sammeln“ – wie es der niederländisch-deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seinem 2006 erschienenen Buch „Zorn und Zeit1 nennt –, sollte jedoch für etablierte Politiker ein aufschlussreiches Signal sein. Seichte Ideologie, oberflächliche, wenn nicht gar unrealistische Lösungen und Emotionen reichen aus, um Wählerstimmen zu gewinnen. Im Wesentlichen läuft die Ideologie der Populisten auf das folgende Argument hinaus: Eine korrupte und selbstsüchtige Elite genießt ihr Leben auf Kosten des Volkes, verschwendet das Nationalvermögen und muss deshalb entmachtet werden, damit die wahren Träger der Nation ihre Freiheit wiedererlangen können.

Der Triumph des Populismus

Die Schweizer „Neue Zürcher Zeitung“ überschrieb das politische Jahr 2016 mit „Triumph des Populismus“, und inzwischen haben die niederländischen Parlamentswahlen gezeigt, dass die Triumphe der Populisten noch gar nicht beendet sind. Zwar erfüllte Geert Wilders‘ „Partei für die Freiheit“ (PVV) am Wahltag, dem 15. März 2017, nicht die Erwartungen, doch es gelang ihr immerhin, mit ihrem nur eine halbe Seite umfassenden Parteiprogramm „Die Niederlande gehören wieder uns“ 20 Sitze an sich zu reißen. Leider steckt hinter dem niederländischen Populismus aber noch mehr: Die Liste umfasst auch die Sozialistische Partei (SP) – linksgerichtet, gegen Brüssel und internationale Finanzbeziehungen (14 Sitze), die „Partei für die Tiere“ (5 Sitze), „50PLUS“ – für ältere Bürger (4 Sitze), DENK – eine Partei, die sich für die Rechte von Migranten einsetzt (3 Sitze), und das „Forum für Demokratie“ von Thierry Baudet, einem knallharten konservativen Nationalisten und EU-Gegner (2 Sitze). Alle verdienen den Beinamen „populistisch“. Insgesamt 48 von 150 Sitzen der Abgeordnetenkammer werden nun von Populisten eingenommen, und häufig handelt es sich hierbei um Ein-Thema-Parteien.

Ferner sollte beachtet werden, dass auch Mainstream-Parteien nicht vor Populismus zurückscheuen. Dies erwies sich eindeutig beim niederländischen Referendum zum Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine im April 2016, als die regierende Koalition aus Liberalkonservativen (VVD) und Sozialdemokraten (PvdA) entschied, das Ergebnis der Abstimmung als verbindlich anzusehen. Trotz einer Wahlbeteiligung von nur 32 Prozent konnte die „Stimme des Volkes” angeblich nicht ignoriert werden.2 Zudem erlaubte es die Migrationskrise des vergangenen Jahres Politikern jedweder Couleur, gegen die EU, den Islam und den Multikulturalismus und seine manchmal auch negativen und komplizierten Nebeneffekte zu agitieren.

Nicht unwichtig zu erwähnen ist, dass auch Linksparteien bestimmte populistische Themen und Einstellungen übernehmen. Die auf maoistische Wurzeln zurückgehende Sozialistische Partei (SP) kritisierte die Einwanderungspolitik schon 1983 und opponierte gegen den Zustrom ungebildeter und nichtorganisierter Arbeitskräfte als „abgekartetes Spiel“ von Politikern und Kapitalisten, denn Migranten galten damals als nicht gewillt, sich dem „Klassenkampf“ anzuschließen. Kürzlich erschien in der New York Times ein Beitrag über den früheren SP-Parlamentarier Harry van Bommel: Anfang 2016 hat er sich um eine Gruppe angeblich pro-russischer Ukrainer gekümmert, die gegen das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine hetzten und die Rhetorik des Kremls imitierten.3

Mit Sicherheit lag der niederländische Polit-Soziologe Matthijs Rooduijn im Jahr 2013 richtig, als er darauf hinwies, der Populismus spiele in den meisten Parteiprogrammen nur eine untergeordnete Rolle – die tägliche Realität war und ist jedoch eine andere. Migration, Multikulturalismus, der Islam, die „islamische Kultur“ und die EU werden auf gehässige, unpolitische Weise kommentiert. Die Politik für die breite Masse entwickelte sich sogar zu einer Art von „gemäßigtem Wilders“, während einige Parteien dieser Linie nicht folgen und „Wilders-frei“ bleiben, beispielsweise die linksliberalen Grünen („GroenLinks“) und die rechtsliberale D66.

Der populistische Aufstand – warum gerade jetzt?

Populismus ist für die Niederlande eigentlich nichts Neues. Ich denke beispielsweise an den protestantischen Politiker Abraham Kuyper (1837-1920). Unter dem Spitznamen „der Carillon-Spieler der kleinen Leute“ hetzte er zum Beispiel gegen „jüdisch-liberale Interessen“ als eine Gefahr für den einfachen Mann, hörte jedoch damit auf, als er erkannte, dass auf diese Weise keine Wählerstimmen zu gewinnen waren. Ein weiteres Beispiel findet sich in dem durch populistische Stimmungsmache getrübten Verhältnis zwischen der liberalen VVD und der sozialdemokratischen PvdA unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Während die Sozialdemokraten regelmäßig als „Verschwender von Steuergeldern“ dargestellt wurden, verunglimpften diese die Liberalen häufig als eigennützige Kapitalisten. Genau genommen gab es innerhalb der großen Parteien immer verschiedene Herangehensweisen an die Politik, einerseits eher intellektuell und wohlüberlegt, andererseits eher populistisch. Gerade das Emporkommen des politischen Quereinsteigers Pim Fortuyn – „der Islam ist eine rückständige Kultur“ – ließ den Populismus anschwellen. Kurz nach seiner Ermordung am 6. Mai 2002 erreichte seine Partei LPF 26 Sitze im Parlament.

Wenn sich also der Populismus zu allen Zeiten finden lässt, warum gibt es gerade jetzt ein solches gewaltiges Wachstum? Meines Erachtens hat dies zwei Hauptursachen. Erstens veränderte sich im Laufe der letzten schätzungsweise 30 Jahre das ideologische Klima in bedenklicher Weise. Um der populistischen Versuchung zu widerstehen, bedarf es zweitens politischen Mutes und Führungskraft, doch an beidem mangelt es derzeit in den Niederlanden. In folgendem Abschnitt möchte ich einen tiefergehenden Blick auf die Veränderung des ideologischen Klimas seit 1989 werfen.

Es begann mit dem Niedergang des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa, der mit Francis Fukuyamas Optimismus in Bezug auf das „Ende der Geschichte“ zusammenfiel. Wir erinnern uns daran, dass Fukuyama im Jahr 1989 die weltweite Vorherrschaft der westlichen liberalen Demokratie vorhersagte; die Globalisierung wurde begeistert als die entscheidende Triebkraft für die Entwicklung der globalen Zivilisation propagiert. Das gleichzeitige Erscheinen des Internets in unseren Büros und Wohnzimmern war der digitale und dennoch greifbare Beweis dafür. Der islamistische Terrorismus – manifest besonders durch die Terroranschläge des 11. September 2001 – bildete freilich den grausamen Gegenpol zur Globalisierung. Nichtsdestoweniger machte es das „Ende der Geschichte“ (und des Kommunismus) möglich, eine entspanntere Haltung gegenüber ideologischen Unterschieden anzunehmen, was sich dann allerdings im Hervortreten des desorientierten, unentschiedenen, aber auch verängstigten Wählers widerspiegelte.

Der Aufstieg populistischer Parteien hängt auch mit dem Verblassen der markanten Farben der politischen antagonistischen Ideologie zusammen, die lange Zeit von den großen Volksparteien repräsentiert wurde. Der so genannte „Dritte Weg“ in der Sozialdemokratie (verkörpert durch Tony Blair und Gerhard Schröder) veranschaulicht dies auf perfekte Weise. In den Niederlanden bewegte sich die sozialdemokratische PvdA in die Mitte des politischen Spektrums, und der weniger staats- und mehr individuell orientierte „Dritte Weg“ vereinigte sich in der „purpurnen Koalition“ mit der liberalen VVD (1994-2002). Demzufolge fühlte sich eine Vielzahl von Wählern entfremdet und verunsichert. Im Jahr 2002 verlor „Purpur“ knapp 43 von 97 Sitzen. Die Wahlen von 2017 brachten den Niedergang der PvdA mit sich, die sich in der Vergangenheit für die Arbeiterklasse und für benachteiligte Bürger stark gemacht hatte, sich nun jedoch weigerte, die Islam- bzw. Migranten-Karte zu spielen, und als Folge 29 von 38 Sitzen verlor. Die VVD schlug geschickt den Weg in Richtung einer populistischen Agenda ein und verlor lediglich 8 von 41 Sitzen.

Zwischenzeitlich degradierte „Purpur“ die christdemokratische Partei CDA (unter diesem Namen seit 1980), eine seit 1918 regierende Vereinigung dreier christlicher Parteien, zur Nebensache. Bis Mitte der 1990er Jahre verband diese breit ausgerichtete Volkspartei Gläubige und Nichtgläubige aus allen Gesellschaftsschichten. Obwohl die CDA zwischen 2002 und 2012 an der Spitze verschiedener Koalitionen stand und sogar geringe Wahlgewinne erzielte, schrumpfte die Anzahl ihrer Sitze von 48 (1981) auf 19 (2017) – die Säkularisierung schlug voll zu.

Slavoj Žižek, der extravagante neomarxistische Philosoph aus Ljubljana, stellt die Behauptung auf, die Globalisierung bringe das Phänomen einer „Post-Politik“ oder einer „symbolischen Politik“ hervor. Die Epoche der Ideologie ist passé und die Debatten über die gute Gesellschaft sind beendet. Fortan wird das Wechselspiel der globalen Kräfte einer anonymen und sich selbst regulierenden freien Marktwirtschaft darüber entscheiden, was gut für uns ist. Indem sie das Globale ausklammern und sich auf den klaustrophobischen Nationalstaat beschränken, setzen die Populisten auf eindeutige Symbole: Identitätspolitik, Angriff gegen den Multikulturalismus, überlieferte moralische Werte und so weiter.

Populismus als Hilfe für heimatlose Menschen im „Irgendwo“?

Das zweischneidige Schwert der Globalisierung, das Verschwinden der Ideologien, die Säkularisierung und fehlende Wählerschichten bringen uns in eine ziemlich komplexe Situation, die der britische Journalist David Goodhart in seinem 2017 erschienenen Buch „The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics“ zu erklären versuchte. Populisten kümmern sich demzufolge um die Bedürfnisse der „Somewheres“, argumentiert Goodhart, während die Mainstream-Politik lediglich für die „Anywheres“ interessant ist.4 Die „Somewheres“ fühlen sich von der Globalisierung bedroht, weil sie irgendwo in einem lokalen Kontext eingebettet, schlechter gebildet und unflexibler sind und der Unterschicht angehören. Im Gegensatz zu ihnen sind die „Anywheres“ für die heutige Welt gerüstet: sich überall zuhause fühlend, kosmopolitisch, hoch gebildet, flexibel und mobil. Die „Somewheres“ ängstigen sich vor mangelnder Sicherheit ihrer Arbeitsplätze, vor Arbeitslosigkeit, vor der EU, vor dem Wettbewerb mit den Zuwanderern, wegen der Gesundheitsvorsorge, wegen Vergreisung der Bevölkerung und wegen zu niedriger Renten. Zudem schwächt ihrer Meinung nach die Tatsache, dass Zuwanderer die gleichen Rechte wie die anderen Bürger genießen, ohne jemals zur Gesellschaft beigetragen zu haben, das soziale Gefüge. Man mag dies alles „Wohlfahrtschauvinismus“ nennen, solche Sorgen sind aber wirklich in der Welt.

Während Goodharts Vorstellung einer scharfen Zweiteilung der Gesellschaft angemessen zu sein scheint, auch im Blick auf die Niederlande, irrt er sich hinsichtlich der Einschätzung, die Populisten würden den „Somewheres“ ihre Sorgen abnehmen. Gewiss fühlen sich viele Einheimische durch den Zustrom von Migranten in ihre Straßen, Nachbarschaften oder Städte heimatlos und desorientiert. Doch die Niederlande kommen einer Lösung der wirklichen Probleme dieser Menschen nicht näher, wenn die „Anywheres“ für alles, was schief läuft, verantwortlich gemacht werden, wenn die europäische Integration geleugnet wird und die Migranten, die seit 1960 ins Land gekommen sind, schikaniert werden. Gut, Geert Wilders will die EU verlassen. Aber wie will er alleine die nationalen Interessen eines 17 Millionen Einwohner zählenden Landes verteidigen? Und auf welche Weise wird eine Kriminalisierung des Islam oder der islamischen Kultur – Schließung von Moscheen, Koranverbot und Ausgrenzung bestimmter muslimischer Kleidungsregeln – dazu beitragen, dass sich die Menschen heimischer fühlen?

Bei den Wahlen 2017 spielten dann auch die CDA und die VVD die populistische Karte. Die VVD zielte auf Feindseligkeit, Entfremdung und Angst innerhalb der Gesellschaft ab und startete eine dreistufige Wahl-Rakete. Zunächst forderte Premierminister Mark Rutte türkische Einwanderer, die sich mit der niederländischen Kultur schwer tun, in einem staatlichen Fernsehsender auf, „abzuhauen“. Dann kennzeichnete Gesundheitsministerin Edith Schippers die Kluft zwischen den Werten der Niederländer und denen der Einwanderer als Bedrohung für die niederländische Kultur. Zwei Monate vor den Wahlen erschien schließlich eine ganzseitige Anzeige in überregionalen Zeitungen, in der wiederum der Premierminister Migranten aufforderte, „sich normal zu verhalten oder zu verschwinden“.

Risiken einer „Wilders-Politik“

Insbesondere in Wahlzeiten fährt diese „gemäßigte Wilders-Herangehensweise“ („Wilders-Light“) schnelle Profite ein, doch einer rechtsstaatlichen, konstitutionellen und humanen Perspektive ist sie unwürdig, denn Migranten müssen wie alle anderen Bürger ebenso sehr das Gesetz befolgen wie auch ihre Gewissensfreiheit genießen dürfen. Übrigens, wohin würden wir Migranten mit niederländischer Staatsangehörigkeit denn wünschen, wenn sie darin scheitern, die Messlatte der sozialen Achtbarkeit und Anpassung zu erreichen? Überdies ist „Wilders-Light“ zumindest dann mit einem hohen Risiko verbunden, wenn Populisten behaupten, die Mehrheit habe immer Recht, selbst in Zweifelsfällen von Rechtsstaatlichkeit oder bei politischen Kompromissen. Leider wird die populistische Agenda vom Mainstream befürwortet, legitimiert und schließlich übernommen. Diese Strategie ist äußerst gefährlich, weil sie, zumindest in Bezug auf ihre themenorientierte Problemlösungsqualität, das Misstrauen gegenüber den etablierten Parteien steigern wird. Statt Probleme zu lösen, werden Politiker zu Kindermädchen – was uns übrigens zu Pim Fortuyn zurückbringt, der der niederländischen Gesellschaft 1995 die Diagnose bescheinigte, eine „Gesellschaft von Waisenkindern“ zu sein, die Mütter und Väter brauche. Und wenn es stimmt, dass die jüngeren Generationen kosmopolitischer als die älteren sind, dann steht dem Populismus eine glänzende Zukunft bevor. In unserer alternden Bevölkerung wird die populistische Verlockung zweifelslos viele neue Unterstützer finden. Wird der Populismus unsere „neue Normalität“ werden?

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.


Fußnoten:


  1. Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt (Main) 2006. ↩︎

  2. Weiterführende Hinweise finden sich u. A. unter https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/aktuelles/archiv/2016/oktober/1004UkraineReferendum.html (letzter Zugriff: 02.11.2020). ↩︎

  3. Andrew Higgins: „Fake News, Fake Ukrainians: How a Group of Russians Tilted a Dutch Vote“. The New York Times, 16.02.2017. ↩︎

  4. „Somewhere“ wird man in diesem Kontext am besten mit „irgendwo“ übersetzen, „Anywhere“ mit „überall“. Menschen der ersten Gruppe („Somewheres“) benötigen also einen festen Orientierungspunkt, während Menschen der zweiten Gruppe („Anywheres“) sich überall zurechtfinden. – David Goodharts Überlegungen, die auf die Diskussionen zum „Brexit“-Votum in Großbritannien zurückgehen, haben eine heftige Kontroverse ausgelöst und sind nicht unumstritten; vgl. z. B. https://www.thetimes.co.uk/article/the-great-british-dividesomewheres-v-anywheres-s8qm908f0↩︎