Frieden und Kooperation: Das geopolitische Wunder der deutsch-französischen Annäherung

aus OWEP 2/2020  •  von Claire Demesmay

Dr. Claire Demesmay ist Politikwissenschaftlerin und leitet seit 2009 das Frankreich-Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP); aktuelle Publikation zum Thema: Nicole Colin und Claire Demesmay (Hrsg.): The Franco-German Myth Going Global. Post-War Reconciliation in International Perspectives. Springer-Verlag 2020 (erscheint in Kürze).

Zusammenfassung

Die deutsch-französische Zusammenarbeit, eine der Grundlagen des europäischen Einigungsprozesses, wird heute als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Dabei bedurfte es dazu der Überwindung von Misstrauen und Vorurteilen, aber auch des Engagements von Persönlichkeiten beider Länder, nicht zuletzt auch besonderer Gesten.

Angesichts von jahrhundertelangen Rivalitäten und Kriegen war es keine Selbstverständlichkeit, dass Deutschland1 und Frankreich sich versöhnen und endgültig Frieden schließen. Zu Recht wird dies als geopolitisches Wunder bezeichnet. Oft wird die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22. Januar 1963 durch Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer als Meilenstein in diesem Prozess angesehen. In Wirklichkeit begann aber die Annäherung zwischen beiden Staaten viel früher. Davon zeugt die Schuman-Erklärung von Mai 1950, in der der französische Außenminister Robert Schuman vorschlug, die Kohle- und Stahlindustrie beider Staaten (als Kernelement der Rüstungsindustrie) unter eine gemeinsame europäische Aufsicht zu stellen. Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es erste Annäherungsversuche auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Die ersten Austauschbegegnungen fanden in einem sehr kleinen Rahmen statt und standen am Anfang einer Bewegung, die in den folgenden Jahrzehnten wuchs und eine Annäherung der beiden Gesellschaften ermöglichte.

Neben einer Systematisierung des politischen Dialogs auf allen Ebenen haben die Architekten der deutsch-französischen Annäherung vor allem auf zwei Instrumente gesetzt: zum einen auf einen breiten Austausch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern beider Länder, zum anderen auf regelmäßige politische Begegnungen, flankiert von einer symbolkräftigen „Ikonographie“. Im Laufe der Jahrzehnte hat diese Annäherungspolitik zu einer positiven Wahrnehmung des jeweils anderen beigetragen. Die politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ist zwar bis heute alles andere als einfach: Streit gehört genauso dazu wie die mühsame Suche nach Kompromissen. Nichtdestotrotz hat das „Familienalbum“, das in der Folge von politischen Begegnungen entstand, die Vorstellung von einer versöhnlichen Kooperation zwischen den Partnern vermittelt. Auch das dichte Netz von bilateralen Kontakten auf allen Ebenen der Zivilgesellschaft hat es ermöglicht, in der Bevölkerung beider Länder ein vertrautes Bild des Nachbarn zu verankern.

Vielfältige Netzwerke und reger Austausch

Nur wenige Länder pflegen so viele bilaterale Kontakte wie Deutsche und Franzosen – sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene. Davon zeugen nicht nur die rund 2.000 Partnerschaften, die Städte und Kommunen beider Länder dauerhaft verbinden, sondern auch die Vielzahl von deutsch-französischen Vereinen und Wirtschaftskreisen. Dieses breite Netzwerk ist das Ergebnis von zahlreichen persönlichen Initiativen und dem politischen Willen, den zivilgesellschaftlichen Austausch zu unterstützen. So zielte bereits das allererste gemeinsame Kulturabkommen, das beide Staaten im Oktober 1954 unterzeichneten, darauf ab, das Erlernen der Partnersprache und die kulturelle Zusammenarbeit zu fördern.

Dieses Ziel ist im Élysée-Vertrag von 1963 verankert: Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag legte nicht nur die Grundlage für die politische Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten, sondern betonte auch die Notwendigkeit eines tieferen Verständnisses zwischen den Menschen. Mit der Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks (dfjw) wurde der Jugendaustausch ausgebaut: Jedes Jahr nehmen mehr als 200.000 Jugendliche an einem der 8.000 Austauschprogramme teil, die das dfjw unterstützt bzw. organisiert. Seit 1963 haben Millionen junger Franzosen und Deutscher an Austauschprogrammen teilgenommen und das jeweils andere Land durch persönliche Erfahrungen kennengelernt. Das Jugendwerk erwies sich als so erfolgreich, dass nach diesem Vorbild 1991 ein deutsch-polnisches Jugendwerk geschaffen wurde, um das Verständnis zwischen Polen und dem wiedervereinigten Deutschland zu fördern.

Zum Jugendaustausch trägt zusätzlich seit 1999 die deutsch-französische Universität (UFA) bei. Sie besteht aus einem Netzwerk von mehr als 100 französischen und deutschen Universitäten, die jährlich 6.500 Studierenden zahlreiche Doppelstudiengänge in den meisten Fächern anbieten. Die gemeinsam finanzierte Einrichtung koordiniert und fördert integrierte Lehrpläne, die mit einem Doppel- oder manchmal auch Dreifachdiplom anerkannt werden. Außerdem unterstützt die deutsch-französische Universität jedes Jahr etwa 350 Doktoranden, die im Rahmen einer binationalen „Co-tutelle“ promovieren und von zwei Doktormüttern oder -Vätern aus einer französischen und einer deutschen Universität betreut werden. Im Laufe ihres Studiums sind UFA-Studenten und Doktoranden zwangsläufig mit einem anderen Hochschulsystem als in ihrem Heimatland konfrontiert und erwerben somit plurilinguale und plurikulturelle Kompetenzen – wie übrigens auch die Jugendlichen, die an dfjw-Programmen teilnehmen.

Obwohl Deutschland und Frankreich über ein beneidenswertes Förderungssystem für den zivilgesellschaftlichen Austausch verfügen, leiden viele Vereine und Städtepartnerschaften unter struktureller Unterfinanzierung und Nachwuchsproblemen. Um sie zu unterstützen, haben sich beide Regierungen im Aachener Vertrag vom 22. Januar 2019 verpflichtet, einen deutsch-französischen Fonds zu schaffen. Er soll ab 2020 vom dfjw entwickelt werden und ein „Zeichen der Wertschätzung für den engagierten, oft ehrenamtlichen Einsatz von Millionen Menschen in Deutschland und Frankreich“2 setzen.

Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Erzählung

Neben den vielen Begegnungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene haben Deutschland und Frankreich weitere bilaterale Projekte entwickelt. So entstand im Oktober 1990 der gemeinsame öffentlich-rechtliche und zweisprachige Fernsehkanal „Arte“ mit Sitz in Straßburg. Kurz vor der deutschen Wiedervereinigung waren beide Regierungen auf der Suche nach starken Symbolen und Instrumenten, um die Verständigung zwischen den europäischen Völkern zu fördern. Als Symbol ist Arte zweifelsohne ein Erfolg, doch oft wird er wegen seiner kulturell elitären Haltung kritisiert. Zudem erreicht der Kanal vor allem ein gebildetes Publikum, das von der europäischen Integration bereits überzeugt ist. Seit mehreren Jahren versucht der Sender, mit diesem Image zu brechen und durch mehr Unterhaltungsprogramme seine Zuschauerzahl zu erhöhen, aber der Erfolg ist begrenzt.

Beide Länder haben auch Initiativen entwickelt, um eine gemeinsame historische Erzählung zu beleben; dies hakt jedoch an unterschiedlichen Ansätzen bei der Betrachtung der konfliktreichen Geschichte beider Länder. Deshalb arbeiten Historiker beider Länder seit Jahren an einem gemeinsamen deutsch-französischen Geschichtsbuch. Diese Idee soll das gegenseitige Verständnis vertiefen und wurde 2003 von einem Jugendparlament während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags angestoßen. Die Regierungen zeigten sich interessiert und ein Ausschuss von Historikern und Vertretern von Bildungseinrichtungen wurde schnell gegründet. Heute liegen drei Bände zur Europa- und Weltgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart vor, die sich an Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe richten.

Das Verdienst dieses reich dokumentierten Werkes liegt darin, dass die nationalen Unterschiede in der Interpretation historischer Ereignisse thematisiert werden. Sein Erfolg ist allerdings noch recht begrenzt, da es vor allem in deutsch-französischen und Europaschulen eingesetzt wird, nicht aber im normalen Schulbetrieb. Dennoch sollte die politische Wirkung nicht unterschätzt werden. Seit einigen Jahren gibt es vergleichbare Initiativen zwischen Polen und Deutschland sowie zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik. Vor allem aber ist das deutsch-französische Geschichtsbuch ein erster Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Geschichtsschreibung und damit ein starkes Symbol der deutsch-französischen Freundschaft.

Bilder der Versöhnung aus dem Familienalbum

Von Anfang an begleitete eine symbolkräftige „Ikonographie“ die Annäherungspolitik zwischen Deutschland und Frankreich. Die bekannten Bilder, die anlässlich der großen und bedeutenden Begegnungen entstanden, lassen heute an ein Familienalbum denken. Im Bewusstsein der Umstände und vor dem Hintergrund der pathosgeladenen jüngsten Geschichte wurde für diese Annäherung ein pragmatischer Weg gewählt, der die offenen Wunden problematisierte und nicht kaschierte. So zielen die bildgewordenen Begegnungen an historischen Wegmarken – allesamt blutgetränkte Kriegsschauplätze – darauf ab, die mit grausamen Erinnerungen an die Kriege verbundenen Orte positiv umzudeuten.

Das erste der bekannten Bilder im Album datiert von 1962. Als erstes deutsch-französisches Nachkriegstandem reisten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im Sommer gemeinsam durch Frankreich bis nach Reims. Diese von beiden Weltkriegen schwer gezeichnete königliche Krönungsstätte ist ein symbolträchtiger Ort französischer Geschichte und deutscher Einmärsche. Adenauer wurde dort wie ein Staatschef empfangen und erlebte die erste gemeinsame Militärparade seit 1945, bevor er mit de Gaulle, Seite an Seite, an einer Friedensmesse in der Kathedrale teilnahm.3 Diese Form der Inszenierung durch Demutsgesten wurde zu einer Konstante in den folgenden deutsch-französischen Begegnungen.

Erst 1984 fand die erste symbolisch wichtige Annäherung mit eindeutigem Bezug zum Ersten Weltkrieg statt: Präsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl verharrten im demütigen Händedruck bei strömendem Regen vor dem Beinhaus im französischen Verdun. Hier wurde 843 das Reich Karls des Großen unter seinen Nachfolgern aufgeteilt. Durch die apokalyptischen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs entwickelte sich der Ort vollends zum Sinnbild der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“. Eigentlich wollte Kohl an den Gedenkfeierlichkeiten zur Landung der Alliierten in der Normandie teilnehmen, doch Mitterrand lehnte ab und schlug stattdessen eine Begegnung in Verdun vor.

Im Jahr 2009 nahm dann schließlich Bundeskanzlerin Angela Merkel am 11. November mit Staatspräsident Nicolas Sarkozy an der Feier des Waffenstillstands von 1918 teil, was Bundeskanzler Gerhard Schröder 1998 noch abgelehnt hatte. Gemeinsam besuchten sie das Grab des Unbekannten Soldaten unter dem Arc de Triomphe und legten einen Kranz an der Ewigen Flamme nieder. Sarkozy verkündete, das Datum zum deutsch-französischen Aussöhnungstag umwidmen zu wollen – was jedoch nicht umgesetzt wurde, weil der 22. Januar bereits als „deutsch- französischer Tag“ gilt. Die französische Presse erklärte damit unisono den Erinnerungskrieg für beendet. Im Gegensatz zum Volkstrauertag in Deutschland ist der Tag des Waffenstillstands ein großer Feiertag zu Ehren der im Ersten Weltkrieg, seit kurzem allgemein aller für Frankreich gefallenen Soldaten.

Eine gelassene und leidenschaftslose Beziehung

Mit jedem neuen Bild im Familienalbum werden die bilateralen Beziehungen ein Stück selbstverständlicher und somit gelassener. Als Adenauer und de Gaulle am gemeinsamen Gottesdienst in Reims teilnahmen, kritisierte ein Teil der linken französischen Presse die Art des Empfangs und die Wahl des Ortes als verfrüht. Über die Geste von Kohl und Mitterrand in Verdun 1984 erregten sich manche Gemüter – auch diesem Moment wuchs sein Symbolcharakter erst mit der Zeit zu. Inzwischen sind solche Annäherungsgesten weitgehend unumstritten, aber sie haben auch an Wirkungskraft verloren. Aufgrund der weitreichenden Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen werden sie nur noch selten als historische Momente wahrgenommen. Den richtigen Ton zu finden ist nach wie vor schwierig, aber die Kunst besteht heutzutage weniger darin, Empfindlichkeiten zu berücksichtigen, als überhaupt Emotionen zu wecken.

Die Versachlichung der gegenseitigen Wahrnehmung ist einer der größten Erfolge der deutsch-französischen Annäherung der letzten Jahrzehnte, wenn nicht sogar der größte. Regelmäßig durchgeführte Meinungsumfragen lassen erahnen, wie tief einst die Gräben waren, die im Laufe der letzten fünfzig Jahre überwunden wurden. Im Jahr 1965, zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages, bewerteten nur 6 Prozent der befragten Franzosen Deutschland als sympathischstes von zehn aufgeführten Ländern, während 19 Prozent sagten, das Land erwecke bei ihnen die größte Antipathie – es handelte sich dabei um den höchsten Prozentsatz unter allen Antworten auf diese Frage.4 Doch inzwischen profitieren beide Länder davon, dass Deutsche und Franzosen ein weitgehend positives Bild voneinander haben. Selbst wenn die Umfragewerte gelegentlich schwanken, zeigen sie eine erhöhte wechselseitige Sympathie. So gaben 84 Prozent der befragten Franzosen zu Beginn des Jahres 2019 an, ein gutes Bild von Deutschland zu haben; nur 16 Prozent beschrieben ihren Eindruck als negativ.5 Im Jahr 2013, in dem der Élysée-Vertrag seinen 50. Geburtstag feierte, bewerteten 83 Prozent der Franzosen und 87 Prozent der Deutschen das jeweilige Nachbarland positiv.

Die Erinnerung an die beiden Kriege des 20. Jahrhunderts ist heute verblasst, die Beziehung zwischen beiden Ländern scheint eher von Vernunft als von Sentimentalität bestimmt zu sein. Und doch hat die deutsch-französische Zusammenarbeit dank des engen Austauschs und der zahlreichen Begegnungen und Initiativen einen solchen Grad an Normalität erreicht, dass politische Krisen in der Zivilgesellschaft nur wenig spürbar sind. An die Stelle gegenseitiger Faszination ist die friedliche Beziehung zum Partnerland getreten.


Fußnoten:


  1. Für die Zeitspanne ab der Teilung Deutschlands bis zur Wiedervereinigung gilt dies zumindest für Westdeutschland, denn obwohl die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ebenfalls Beziehungen zu Frankreich unterhielt, zielten sowohl der freundschaftliche Diskurs als auch die Institutionalisierung des Jugendaustauschs nur auf die Bundesrepublik ab. ↩︎

  2. Dfjw, „Deutsch-Französischer Bürgerfonds – Zivilgesellschaft in Deutschland und Frankreich stärken: Das DFJW entwickelt den deutsch-französischen Bürgerfonds“: www.dfjw.org/deutsch-franzosischer-burgerfonds.html. ↩︎

  3. Vgl. dazu https://www.cvce.eu/de/obj/feierliche_messe_fur_den_frieden_konrad_adenauer_und_charles_de_gaulle_in_der_kathedrale_reims_8_juli_1962-de-93162a4b-7c22-4d61-a27a-8f053554c92e.html (letzter Zugriff: 28.11.2023). ↩︎

  4. Vgl. die Umfrage „Das Deutschland-Bild der Franzosen“, zit. in Manfred Koch-Hillebrecht: Das Deutschenbild im Ausland. Bad Godesberg 1968, S. 42. ↩︎

  5. Vgl. die von Ifop im Auftrag der Deutschen Botschaft in Frankreich durchgeführte Umfrage „L’image de l’Allemagne en France“, Januar 2019, in: allemagneenfrance.diplo.de. URL: https://allemagneenfrance.diplo.de/blob/2177316/0ba12d019c55ad2c0603be260b326c64/2019-01-15-sondage-d-f-publikation-data.pdf (letzter Zugriff: 28.11.2023), hier S. 9. ↩︎