Die Rolle der nicht römisch-katholischen Kirchen in der tschechischen Öffentlichkeit

aus OWEP 4/2015  •  von Peter Morée

Dr. Peter Morée ist Dozent für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag.

Zusammenfassung

Die Feierlichkeiten zum Gedenken des Märtyrertodes von Jan Hus vor 600 Jahren, die in diesem Sommer in der Tschechischen Republik stattfanden, machten deutlich, dass der Reformator als Identifikator für die Kirchen eine zentrale Rolle spielt (gewissermaßen auch für die römisch-katholische Kirche), seine Bedeutung für die tschechische Gesellschaft jedoch abnimmt. Hus ist 2015 nicht mehr der Befreier der Nation oder der ausgebeuteten Bauern und Arbeiter, sondern nur der Vertreter einer alternativen theologischen und kirchlichen Richtung. So stellt sich die Frage, welche Rolle die Kirchen überhaupt noch in der tschechischen Öffentlichkeit spielen.

Hus als Identitätsfaktor

Die Geschichte der tschechischen Kirchen ist kaum weniger bewegt als die Geschichte des politischen Raums Böhmen und Mähren. Im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges kam es zu einer gewaltsamen Rekatholisierung dieses Gebietes durch die Habsburger. Die kleineren protestantischen Gemeinschaften (Lutheraner und Böhmische Brüder) verließen zumeist das Land und fanden Schutz in Sachsen, Brandenburg und anderen Gebieten wie den Niederlanden und später auch Nordamerika. Die größte nichtkatholische Religionsgemeinschaft, die Utraquisten, passte sich weitgehend an und ging in der zentralisierten römisch-katholischen Kirche auf. Am Anfang des 18. Jahrhunderts war Böhmen ein vorbildliches Mitglied der römisch-katholischen politischen Welt mit einer lebendigen Frömmigkeitskultur und einer reichen Tradition an Kunst und Architektur – die hussitischen Zeiten und die böhmische Reformation des 15. Jahrhunderts hingegen waren erfolgreich aus der Erinnerung des Volkes gelöscht.

Ende des 18. Jahrhunderts tauchte die böhmische Reformation wieder im Diskurs über die böhmische Geschichte auf. Zuerst entdeckten die Aufklärer Hus und seine Anhänger, aber sie sprachen über diese Zeit nur mit großen Hemmungen. Erst in der Epoche des Nationalismus wurden Hus und seine Zeit zum Zentrum einer Neuinterpretation der Geschichte des tschechischen Volkes. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand auch eine von der breiten Öffentlichkeit getragene Erinnerungskultur über Jan Hus.1 Dass dabei seine theologischen Ideen und Gedanken über eine alternative Kirchenstruktur vergessen werden mussten, wurde als eine notwendige Konsequenz für die Konstruktion einer hussitischen Nation wahrgenommen: Der nationale Hus sollte eine überreligiöse, sittliche Dimension des Volkslebens darstellen.

Die Kirchen, die sich am Anfang des 20. Jahrhunderts als Alternative oder Konkurrenz zur römisch-katholischen Kirchesahen , standen vor der Herausforderung, eine Verbindung der nationalen Identität der Tschechen mit dem Reformator des 15. Jahrhunderts herzustellen. 1918, nach dem Ende der Donaumonarchie, gründeten daher die Protestanten, die bisher zur „Österreichischen Evangelischen Kirche A. B. und H. B.“2 gehört hatten, eine neue Kirche, die an die Tradition von Jan Hus anknüpfen sollte. Sie hoben hervor, dass es seit der Reformation zwischen dem Schicksal der Kirche und dem der Nation ein enges Band gegeben habe.3 Diese Identifizierung der neuen Kirche mit dem tschechischen Volk wurde ein Teil der „genetischen“ Ausstattung der tschechischen Evangelischen. In der Anfangszeit drückte sich dies auch durch eine starke antikatholische Stimmung aus. Die katholische Kirche – noch immer die größte Kirche, die auch im neuen Staat ihren politischen Einfluss gelten ließ – war dieser Sicht zufolge nicht nur eine falsche, von den biblischen und apostolischen Wurzeln abgewandte Kirche, sondern auch eine geistige Bedrohung für den jungen Staat und seine Werte. Zwar wurde dieser Aspekt der Selbstpositionierung in den dreißiger Jahren unter dem Einfluss der dialektischen Theologie in der Version Josef L. Hromádkas abgeschwächt, auch verloren die liberalen (und oft nationalistischen) Theologen ihre dominante Position, aber die Selbsteinschätzung der evangelischen Kirche als eigentliche Kirche für die tschechische Nation blieb bewahrt.

Zwischen den Kriegen

Nach der Gründung der Tschechoslowakei entstanden nicht nur die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (und noch einige andere evangelische Kirchen, speziell in den deutschsprachigen Landesteilen); 1920 wurde auch die Tschechoslowakische Kirche gegründet, die sich auf der Welle der „Los-von-Rom“-Bewegung als liberale Kirche mit einer modernistischen Theologie als Ersatz für die römisch-katholische Kirche verstand.4 Ziel war es, eine Kirche aufzubauen, die den tschechischen bzw. überhaupt slawischen (auch orthodoxen!) und modernen Vorstellungen von Religion entsprechen sollte. Weil allerdings die Kombination von modernistischer Theologie und orthodoxer Tradition nicht haltbar war, spalteten sich die Orthodoxen bald von der neuen Glaubensgemeinschaft ab. Damit blieb eine Kirche übrig, die aufgrund ihres Bekenntnisses zu Hus die tschechische Nationalkirche sein wollte.

Die beiden nicht römisch-katholischen Hauptströmungen in der Tschechoslowakei vertraten zwar recht unterschiedliche theologische Vorstellungen, sie gestalteten ihre öffentliche Identität jedoch auf ähnlicher Basis. In Anknüpfung an die hussitische Bewegung und deren kontinuierliche Fortsetzung in der eigenen Kirche (man betonte die Rolle des Geheimprotestantismus während der Gegenreformation) wollten sie ihre Bedeutung für Gesellschaft und Staat beweisen und legitimieren. Auch wenn sie hinsichtlich der Mitgliederzahlen in der Vorkriegszeit relativ klein waren und blieben, hatten sie als angebliche Erben der Reformation doch eine herausgehobene Position im öffentlichen Leben.

Unter dem Kommunismus

Wie ambivalent diese Ansprüche der Kirchen sein konnten, wurde deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als 1948 die Kommunisten die Macht in Prag ergriffen. Schon für die tiefgreifenden Umwälzungen in den ersten Nachkriegsjahren wurden Begründungen aus der Hussitenzeit benutzt, etwa bei der Vertreibung der sudetendeutschen Minderheit, die als eine Genugtuung für das Zerschlagen der angeblichen Unabhängigkeit des utraquistischen Böhmens dargestellt wurde.5 Ähnliches galt für die Verstaatlichung der Großindustrie als „Rückkehr zur taboritischen Tradition“.

Das stalinistische Regime der fünfziger Jahre instrumentalisierte die hussitische Bewegung gleichfalls für seine Legitimierung und nahm zur Rechtfertigung der Verfolgung der römisch-katholischen Kirche auch die antiklerikale Kritik der Vorkriegszeit wieder auf. Verglichen mit den antikatholischen Maßnahmen gestaltete sich die Situation der beiden Kirchen relativ erträglich, zumal sie regelmäßig ihre mit dem Hussitentum verbundene Identität hervorhoben, um die volksdemokratischen Entwicklungen zu rechtfertigen.6 Letztlich führte dies in der Zeit der kommunistischen Diktatur zu einer ideellen und nicht selten auch praktischen Kollaboration mit dem Regime.

Nach der Wende 1989

Nach der Wende standen alle Kirchen – unvorbereitet – vor der Frage, was jetzt der Grund ihrer öffentliche Bedeutung sein sollte. Vielfach wurde von evangelischer Seite wieder die hussitische Tradition genannt, oft aber auch das Engagement zur Erneuerung der Gesellschaft. Zugleich wurde aber die Stellung der Kirchen im öffentlichen Leben insgesamt ernsthaft kompromittiert durch die Debatte über die Rückgabe des verstaatlichten Kirchenbesitzes.

Der hussitische identitätstragende Aspekt kehrte zurück in der Form des Suchens nach einem neuen Bild des Jan Hus und der böhmischen Reformation. Auf Initiative von Papst Johannes Paul II. wurde eine ökumenische Kommission gegründet, deren Aufgabe es war, den Weg zu einer Aufhebung der Verurteilung des Jan Hus durch das Konzil von Konstanz vorzubereiten. Diese Neubewertung des böhmischen Reformators sollte die römisch-katholische Kirche von dem Verdacht der Illoyalität gegenüber der tschechischen Identität freisprechen. 1999 erfolgte schließlich eine feierliche Erklärung des Papstes, wonach es Jan Hus nicht um das Zerstören der Kirche, sondern um ihre Reform gegangen sei in einer Zeit, in der sie sich in einer ernsten Krise befunden habe. Sein Auftreten wurde damit zwar grundsätzlich gebilligt, jedoch hatte die römisch-katholische Kirche nicht den Mut, auch die Theologie und das Nachwirken von Jan Hus in die kirchliche Tradition aufzunehmen.7 Entscheidend war aber doch, dass Hus mit dieser Neubewertung aufhörte, für eine Spaltung in der Gesellschaft zu stehen. Eröffnet war nun der Raum für Debatten über die Bedeutung und Wirkung des Reformators, wo sie im Grunde genommen zu Hause war, nämlich in der Kirche. Die Schärfe der nationalistisch und kommunistisch gefärbten Hus-Bilder verschwand aus dem öffentlichen Diskurs.

Ein Resultat dieser Entwicklung war spürbar in den Feierlichkeiten zum 600. Jahrestag des Todes von Jan Hus im Juli 2015. Die Initiative, Hus zu feiern, ging von der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder und der Tschechoslowakischen Kirche aus; die staatlichen Organe blieben im Hintergrund. Eine Reihe von Publikationen richtete sich auf die theologischen Aspekte des Wirkens von Hus. Von den großen, die Öffentlichkeit prägenden Ereignissen im Rahmen des Hus-Jahres war ein neuer dreiteiliger Film das einzige Element, das aufs Neue ein nationalistisches und antiklerikales Bild vermittelte. Damit bleibt festzuhalten: Jan Hus wurde 2015 nicht primär als ein Nationalheld oder sogar „Gründer der Arbeiterbewegung“ gewürdigt, sondern als Theologe und Reformer.

Nach 1989 bemühten sich die Kirchen auch darum, ihre Position in der Öffentlichkeit über ihr soziales Engagement zu sichern. Ihr Einsatz bei einigen Katastrophen in den neunziger Jahren (Überschwemmungen usw.) fand breite Zustimmung in der Gesellschaft. In der Zeit der wirtschaftlichen Transformation nach dem Sturz des Kommunismus richteten die Kirchen ihren Blick auf Fürsorge, Hilfe und Solidarität. Heute sind die kirchlichen diakonischen Einrichtungen sowohl klassischer als auch neuerer Art anerkannte Partner in Staat und Gesellschaft. In diesem Bereich haben sie ihren Wert für die Öffentlichkeit erwiesen.

In einem anderen Bereich verloren die Kirchen allerdings ihre Glaubwürdigkeit. Schon in den frühen neunziger Jahren begann eine gesellschaftliche Debatte über die Frage der Rückgabe von Kirchengütern, die das kommunistische Regime zumeist in den fünfziger Jahren enteignet hatte. Die gesamte Diskussion rief eine Welle von Kritik hervor, die auf die antiklerikale Argumentation der kommunistischen Ideologen ebenso wie der Liberalen vor dem Zweiten Weltkrieg zurückgriff und in der Behauptung gipfelte, den Kirchen ginge es nur deshalb um Macht und Reichtum, um ihre Stellung und ihren Einfluss im Stile des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen. Die Debatte konzentrierte sich u. a. auf die Besitz- und Nutzungsrechte des Veitsdoms in Prag. Viele Menschen in Politik und Gesellschaft waren der Meinung, dass der Dom als nationales Symbol der reichen tschechischen Geschichte nicht in die Hand der römisch-katholischen Kirche gehöre.

Die Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt und Abschluss 2012, als ein Gesetz im Parlament angenommen wurde, das sowohl die Rückgabe von Kirchenbesitz als auch die Trennung von Staat und Kirche enthielt. Die Kirchen mischten sich kaum in die öffentliche Debatte ein, vermutlich aus Angst, dass irgendwelche Äußerungen ihrerseits den politischen Entscheidungsprozess komplizieren würden. Im Nachhinein ist es aber klar, dass sie damit auch viel Ansehen verloren haben. Kirchliche Vertreter haben nicht versucht, in der Öffentlichkeit ihre Argumente vorzutragen, sondern ließen die konservativen Politiker der damaligen Regierung für sich sprechen. Damit entstand das Bild einer mehr oder weniger engen Verknüpfung der Religionsgemeinschaften mit konservativen politischen Parteien.

Fazit

Alle Kirchen in der Tschechischen Republik, und vielleicht am meisten die nicht römisch-katholischen, stehen vor der Aufgabe, ihre Beziehung zum öffentlichen Leben neu zu definieren. Mit der Neuentdeckung des Theologen Jan Hus auf Kosten des nationalen oder revolutionären Hus haben diese Kirchen ein wichtiges Argument verloren, das ihre Bedeutung in der tschechischen Gesellschaft lange Zeit unterstützte und sicherstellte. Zugleich haben sie in der öffentlichen Wahrnehmung wegen der Restitutionsfrage einen beträchtlichen Teil ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Nur ihre diakonische und soziale Arbeit bleibt nach wie vor ein möglicher Beweis dafür, dass sie sich auch für das Wohl der Gesellschaft einsetzen.

Die evangelischen Kirchen befinden sich in der tschechischen Gesellschaft in einer Isolierung, die ihnen zwar nicht auferlegt wurde, aber eine Folge der Entwicklungen in der Gesellschaft seit der Wende ist. Die immer niedrigeren Anzahlen von aktiven Gemeindemitgliedern (stärker in der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche als in der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder)8 machen es ihnen noch schwieriger, in der Gesellschaft erkennbar Position zu beziehen. Können die Kirchen einen Weg aus dieser Isolierung finden? Meines Erachtens wäre das möglich, wenn die Kirchen systematisch auch alternativen, avantgardistischen und kritischen Meinungen und Aktivitäten einen Raum bieten. Sie müssen deutlich machen, dass ihr Bemühen nicht primär auf das eigene Wohl, sondern vor allem auf das Wohl der ganzen Gesellschaft gerichtet ist. Wenn dies gelingt, kann es durchaus geschehen, dass die Öffentlichkeit die evangelischen Kirchen als Partner auf der Suche nach Erneuerung der Gesellschaft ernst nimmt.


Fußnoten:


  1. Siehe u. a. Petr Pabian: Inventing the Hussite Nation: Liberals, Catholics, and Protestants in Conflict over Czech National Identity. In: Zdeněk V. David, David R. Holeton (Hrsg.): Bohemian Reformation and Religious Practice, Bd. 6, Prag 2006, S. 275-282; Martin Schulze Wessel: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und russisch-orthodoxe Klerus als Träger religiösen Wandels in den böhmischen Ländern und in Russland 1848-1922. München 2011. ↩︎

  2. A. B. und H. B. seht für „Augsburgisches Benntnis“ (Lutheraner) und „Helvetisches Bekenntnis“ (Reformierte). Vgl. zum Ganzen auch Peter Morée: Die Situation der Kirchen in der Tschechischen Republik: Das Erbe von Nationalismus und Kommunismus. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 13 (2012), H. 4, S. 266-272, besonders S. 268 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Vgl. Peter Morée: Loyalitätsverlust im Namen des Nationalismus. Die tschechischen Protestanten und der Erste Weltkrieg. In: Hans-Georg Ulrichs (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt. (Forschungen zur Reformierten Theologie, Bd. 3). Neukirchen-Vluyn 2014, S. 154-165. ↩︎

  4. Für eine detaillierte Beschreibung des Gründungprozesses der Tschechoslowakischen Kirche vgl. Rudolf Urban: Die tschechoslowakische hussitische Kirche. Marburg 1973. ↩︎

  5. So z. B. Staatspräsident Edvard Beneš in einer Botschaft an das Volk am 8. November 1946, veröffentlicht in: Karel Novotný (Hrsg.): Edvard Beneš. Odsun Němců z Československa. Prag 1996, S.186-189. ↩︎

  6. Siehe dazu ausführlich Peter Morée: „On the basis of the historical background of the Hussite reformation we regard the socialist movements as a part of our history.“ The Political Function of the Bohemian Reformation for Czech Protestants in the Twentieth Century. In: David/Holeton, Reformation (wie Anm. 1, oben - S. 315 der gedruckten Ausgabe), Bd. 8, Prag 2011, S. 340-359. ↩︎

  7. Erklärung des Papstes vom 17.12.1999: „Address of the Holy Father to an International Symposium on John Hus“ (https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/en/speeches/1999/december/documents/hf_jp-ii_spe_17121999_jan-hus.html). ↩︎

  8. Die beiden nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Kirchen umfassen in der Tschechischen Republik aktuell zusammen nur ca. 140.000 Gläubige (ca. 1,3 % der Bevölkerung). ↩︎