Rückblick und Ausblick auf das deutsch-polnische Verhältnis

aus OWEP 2/2025  •  von Peter Oliver Loew

Professor Dr. Peter Oliver Loew, geboren 1967 in Frankfurt/Main, leitet seit 2019 das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, an dem er seit 2002 als Wissenschaftler tätig ist. Der Historiker übersetzt außerdem aus dem Polnischen, darunter mehr als zwanzig wissenschaftliche Monografien, Sachbücher und autobiografische Texte.

Zusammenfassung

Die Nachbarländer Deutschland und Polen verbindet ein schwieriges Verhältnis. Die Verbrechen unter deutscher Besatzung während des Zweiten Weltkrieges sind unvergessen. Die deutsch-polnischen Beziehungen entwickeln sich von starker Ungleichheit zu einer Nachbarschaft auf Augenhöhe. 2025 könnte zu einem entscheidenden Jahr für die Zukunft beider Länder werden.

Eine bewegte Geschichte

Über die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen ist schon viel geschrieben worden, doch sie bleiben komplex: Die Vergangenheit lastet teils unmittelbar, teils subtil auf unserem Miteinander in Europa und verhindert immer wieder eine noch konstruktivere Nachbarschaft. Dennoch sind beide Staaten, Gesellschaften und Kulturen so eng verflochten wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte. Mit dem Regierungsantritt der neuen Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz und nach einem eventuellen Wahlsieg des liberalen Präsidentschaftskandidaten Rafał Trzaskowski in Polen könnten die Beziehungen beider Länder neue Impulse erhalten.

Das deutsch-polnische Verhältnis hat viele Höhen und Tiefen erlebt. Die von Preußen mitverursachten Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts haben über Generationen dafür gesorgt, dass Polinnen und Polen gegenüber Deutschland ambivalente Gefühle hegen. Immer geprägt von Ehrfurcht vor Modernität und Wirtschaftskraft des Nachbarn im Westen war doch der Groll über den Verlust der eigenen Staatlichkeit ebenso groß wie über die preußisch-deutschen Bemühungen, die polnische Nationalbewegung zu bekämpfen. Polens Wiedergeburt im Jahre 1918 gelang nur auf Kosten des Deutschen Reichs, was neuen Zwist vorprogrammierte. Anti-polnische und anti-deutsche Stereotype sowie deutsche Herablassung gegenüber den vermeintlichen Habenichtsen im Osten prägten die Stimmung der Zwischenkriegszeit und führten in fünfeinhalb Jahre NS-Terror im Zweiten Weltkrieg. Die schlimmen Erfahrungen unter der deutschen Besatzung, der Verlust von mehr als fünf Millionen Staatsbürgern (Polen und Juden) sowie großer Gebietsteile prägte Polen nach 1945 und wirkt bis in die Gegenwart hinein.

Schritte hin zu einer Versöhnung wie mit dem Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder von 1965 oder Willy Brandts Kniefall von 1970 samt anschließender Unterzeichnung eines ersten westdeutsch-polnischen Normalisierungsvertrags waren Meilensteine, ebenso wie die von den Gesellschaften der Bundesrepublik wie der DDR getragene Welle der Solidarität mit der Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ in den 1980er Jahren. Einrichtungen wie das 1980 gegründete Deutsche Polen-Institut in Darmstadt bemühten sich, den schwachen Wissensstand über Polen in Deutschland zu verbessern.

Neues Nachbarschaftsverhältnis

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Europa wurde der Grundstein für eine neue gesamtdeutsch-polnische Nachbarschaft gelegt. Die Grenze an Oder und Neiße wurde offiziell anerkannt, und 1991 unterzeichneten beide Staaten einen Nachbarschaftsvertrag, der die Beziehungen auf vielschichtige Weise regelte. Neue Institutionen entstanden, wie das Deutsch-Polnische Jugendwerk, die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, aber auch Begegnungsorte wie die Stiftung Kreisau für europäische Verständigung und hunderte von lokalen, regionalen und überregionalen Vereinen und Initiativen. Darüber hinaus entstanden viele hundert Städtepartnerschaften.

Parallel zu den staatlichen Beziehungen verbanden sich die beiden Gesellschaften immer weiter. Hauptverantwortlich hierfür waren die intensiven Wanderungsbewegungen zwischen beiden Staaten. Es war nichts Neues, dass Menschen sich zwischen den polnischen und deutschen Gebieten hin- und herbewegten: Die seit den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg aus den preußischen Ostgebieten nach Westfalen wandernden Ruhrpolen sind das bekannteste Beispiel – 1914 wurden rund 500.000 von ihnen gezählt. Neben landwirtschaftlicher Saisonarbeit kam es auch zu einer verstärkten Zuwanderung polnisch-jüdischer Menschen. Die beiden Weltkriege führten zu Entflechtungen – durch freiwillige Ausreisen, Flucht und Vertreibung verließen viele Polinnen und Polen das deutsche Staatsgebiet und umgekehrt Millionen von Deutschen das polnische Staatsgebiet. Doch bald schon setzten neue Wanderungsbewegungen ein. Seit dem Ende der 1950er Jahre schwoll ein Strom von Aussiedlern aus Polen an, der in zunehmendem Maße keine kulturell deutsch geprägten Menschen nach Deutschland brachte, sondern Personen, die polnisch sozialisiert worden waren. Allein in den 1980er Jahren war es eine knappe Million Menschen, die vor Verfolgung und Wirtschaftsnot in der zusammenbrechenden Volksrepublik Polen in die Bundesrepublik flohen. Seit den 1990er Jahren und insbesondere seit dem EU-Beitritt Polens zogen wiederum mehrere hunderttausend Landsleute auf der Suche nach neuen beruflichen Perspektiven und einem besseren Leben nach Deutschland. Die Zahl der derzeit in Deutschland lebenden Menschen, die aus Polen stammen, liegt heute bei etwa zwei Millionen. Viele wandern inzwischen auch zurück in die alte Heimat, mit einigem Wissen über Deutschland im Gepäck.

Lange blickte man in Polen mit einer gewissen Ehrfurcht nach Deutschland, verehrte das Wirtschaftswunderland der großen Automarken und Fußballspieler, ein Land des Wohlstands, der Freiheit und guter Gesetze. Doch das Deutschlandbild hat Risse bekommen. Aus polnischer Sicht war es die sich rasch verändernde deutsche Gesellschaft, die einigen zu denken gab. Während die polnische Zuwanderung nach Deutschland überwiegend „unsichtbar“ blieb, wurde die Bundesrepublik zunehmend von der Zuwanderung aus anderen Weltgegenden geprägt. Für polnische Besucher, die nur wenige Tage in einer deutschen Stadt verbrachten, war der Unterschied zu der bis vor wenigen Jahren ethnisch äußerst homogenen polnischen Gesellschaft frappierend. In Polen fühlte man sich „irgendwie sicherer“. Dabei fand dieser Eindruck keine Entsprechung in den absoluten Zahlen der Kriminalitätsstatistiken oder in Unfallzahlen auf den Straßen. Bis heute ist es statistisch gesehen deutlich gefährlicher, in Polen Auto zu fahren als in Deutschland. Und trotz eines enormen polnischen Wirtschaftswachstums in den vergangenen zwanzig Jahren lebt es sich in Deutschland immer noch deutlich besser als in Polen. Dennoch blickt die polnische Gesellschaft heute quer über das politische Spektrum hinweg kritischer nach Deutschland. Dabei spielte auch die Geschichtsbetrachtung eine wichtige Rolle. Wann immer es gilt, Deutschland mal eins auszuwischen, wird an die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges erinnert - und an die oft zögerliche oder gänzlich fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten. Dann wird gerne von prominenten Beispielen wie Heinz Reinefahrt gesprochen. Der SS-Offizier kam 1944 als „Henker von Wola“ zu schrecklichem Ruhm, als er ein Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung im Warschauer Stadtteil Wola anordnete, dem mehrere zehntausend Zivilisten zum Opfer fielen. Reinefahrt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht etwa für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen, sondern war von 1951 bis 1964 Bürgermeister von Westerland auf Sylt und Landtagsabgeordneter in Kiel. Mit solchen Erzählungen lassen sich in Polen leicht Emotionen schüren – und zugleich dienen sie als Versuch, das wirtschaftliche und kulturelle Gefälle zwischen Deutschland und Polen auszugleichen.

Dass Deutschland lange daran festhielt, mit Russland ein freundschaftliches Miteinander zu pflegen, trug ebenso zu einem wachsenden Misstrauen in Polen bei. Zu tief hatten sich die Erinnerungen an die russische Herrschaft in Polen zwischen den Teilungen und dem Ende des Ersten Weltkriegs, an die sowjetische Besatzung 1939 bis 1941 und an die sowjetische Dominanz zwischen 1944 und 1989 den Polen eingeprägt. Die Russifizierung, Deportationen nach Sibirien, das Aufzwängen einer unerwünschten Ideologie und totalitärer Unfreiheit lassen bis heute nur wenige Menschen zwischen Oder und Bug eine Sehnsucht nach der „russischen Welt“ hegen. Deshalb waren die deutsch-russischen Nordstream-Pipelines in Polen stets ein Stein des Anstoßes. Auch der deutsche Unwille, die von Russland ausgehenden Gefahren für die liberale, freiheitliche Welt anzuerkennen, sorgten für weitere Entfremdung. Polen pflegte vielmehr enge Kontakte in die USA.

An dieser Grundhaltung änderte sich auch nicht viel, nachdem 2015 die nationalkonservative PiS-Partei an die Regierung kam. Nach deren Wahlniederlage im Herbst 2023 setzten die Nachfolger unter Donald Tusk diese Linie fort. Europapolitisch hingegen ist die amtierende Regierung sehr viel konstruktiver. Und nachdem Donald Trump Anfang 2025 die Amtsgeschäfte in Washington übernahm, zeigte sich, dass Polen in der EU an Gewicht gewonnen hat und die Diskurse mitbestimmt. Daran hatte zuletzt noch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Zweifel geweckt, als er Polen nicht immer in politische Entscheidungsfindungen einband. An einem Kanzler Friedrich Merz (CDU), der im Wahlkampf mehrfach sein Interesse daran bekundet hatte, auf Polen zuzugehen, wird man in Warschau wahrscheinlich mehr Gefallen finden als an seinem Vorgänger. Dennoch lassen sich nicht alle Fallstricke in den bilateralen Beziehungen mit einem Federstrich oder dem Händedruck zweier Regierungschefs beseitigen. Gerade im symbolisch aufgeladenen Bereich der Erinnerungskultur bedarf es nach wie vor geduldiger Arbeit und vertrauensbildender Maßnahmen. Zu groß ist nach wie vor das Unwissen in Deutschland über Polen und zu schablonenhaft das Wissen in Polen über Deutschland. Aus diesem Grund bedarf es neben systematischer Verbesserung der Wissensbestände, etwa durch intensivere Beschäftigung mit dem Nachbarland in Schulen und Hochschulen, auch einiger großer Gesten.

Zu diesen gehört das Projekt „Deutsch-Polnisches Haus“. Hervorgegangen war es aus der Idee, in Berlin ein Denkmal für die Opfer deutscher Gewaltherrschaft in Polen von 1939-1945 zu errichten. Nach dem 2024 vom Bundeskabinett verabschiedeten Realisierungsvorschlag soll neben einem Denkmal ein Haus entstehen, in dem mit Hilfe von Ausstellungen sowie Bildungs- und Begegnungsangeboten mehr Wissen über die Geschichte Polens und der deutsch-polnischen Beziehungen vermittelt wird, mit einem Schwerpunkt auf dem Zweiten Weltkrieg.

Zwar hatte der Bundestag bereits im Oktober 2020 für die Umsetzung des Projekts gestimmt, doch verhinderte das überraschende Ende der Ampelkoalition, dass sich die Abgeordneten erneut damit befassten und die Finanzierung sicherten. Wie in vielen anderen Bereichen der bilateralen Beziehungen ist nun zu hoffen, dass die neue Koalitionsregierung rasch konstruktive Schritte unternimmt, um mit Polen zu einer neuen Nachbarschaft auf Augenhöhe zu gelangen. Dazu müsste auf jeden Fall auch eine rasche Umsetzung des Projekts Deutsch-Polnisches Haus gehören. Aus polnischer Sicht sind aber angesichts der aggressiven russischen Außenpolitik und des Kriegs in der Ukraine konkrete deutsche Sicherheitszusagen für Polen noch viel wichtiger. Eine neue deutsch-polnische (-französische) Zusammenarbeit für Europa tut not. Die Zeit wird zeigen, ob man eines Tages von 2025 als einem Jahr des Neubeginns in den bilateralen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland wird sprechen können.