Polen heute – Gedanken über ein Land im Aufruhr

aus OWEP 3/2016  •  von Irena Lipowicz

Prof. Dr. Irena Lipowicz ist eine polnische Diplomatin und Juristin und hat z. Zt. einen Lehrstuhl an der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität Warschau inne. 2000-2004 war sie Botschafterin Polens in Österreich, 2010-2015 Beauftragte des Sejm für Bürgerrechte. Sie stellte auch das Foto zur Verfügung, das auf einer proeuropäischen Demonstration am 4. Juni 2016 in Warschau entstanden ist.

Zusammenfassung

Viele ausländische Beobachter reagieren verstört über die Veränderungen der polnischen Innen- und Außenpolitik seit dem letzten Herbst. Polen war eigentlich ein „Musterknabe“ der EU-Integration – wie lässt sich dann die breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung für die neue Regierung erklären? Die Überlegungen der Autorin führen zurück in die neunziger Jahre und zeigen auf, dass damals ungelöste Probleme die Ursache für die gegenwärtige Krise Polens sind.

Ein Blick zurück: 25 Jahre nach der Transformation (in Deutschland würde man wohl eher „Wende“ sagen): Die Feierlichkeiten am 4. Juni 2014 waren imponierend, aber seltsam freudlos, so als ob man schon spürte, dass etwas in der Luft lag. Am Rande standen Demonstranten mit feindlichen Parolen, die heute im Parlament wahrscheinlich zur Mehrheit gehören. Früher jedoch waren solche Jahrestage des Umbruchs pure Freude …

I.

Polen hatte die Finanzkrise 2008 als einziges EU-Land relativ gut überstanden. Die Wirtschaft florierte, die Arbeitslosigkeit sank und erreichte ihren niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Der Staatspräsident genoss breite Akzeptanz (70 Prozent), Premierminister Donald Tusk ging – sehr symbolisch – im Herbst 2014 nach Brüssel. Zwar gab es schon einige Warnsignale, denen zufolge das Parlament nur noch über 20 Prozent Zustimmungswerte verfüge; die Bereitschaft, eine autoritäre Form der Macht zu ertragen, wurde in Umfragen immer eindeutiger. Was also ist in Polen passiert? Alles war doch so schön – könnte man zumindest meinen.

Die Polen in Europa sind heute entkräftete „Bergsteiger“. Nach 25 Jahren Anstrengung, auch infolge der Reformen, die die Gesellschaft mit großer Selbstaufopferung und Disziplin umgesetzt hat, hat man sich nun endlich eine Atempause gewünscht. Es kamen auch viele, die eine lange, wunderbare Ruhephase versprochen haben.

Paradoxerweise haben die großen Feierlichkeiten aus Anlass „25 Jahre Transformation“ dazu beigetragen. Einerseits war das Jubiläum eine Stunde des Triumphes der Demokratie und des Rechtsstaates mit vielen hohen Gästen und großen Reden. Andererseits mussten viele Beobachter, leider auch viele Bürger, eine persönlich eher ernüchternde Bilanz ziehen. Im Allgemeinen sind die Polen zwar wohlhabender geworden, aber die wirklich Reichen und Armen existieren jetzt in manchmal absolut getrennten Welten. Es gibt wieder eine soziale Abgrenzung in bessere und schlechtere Adressen, Wohnviertel, Kindergärten und Schulen. Jahrelang konnte man hoffen, eines Tages zu den Gewinnern der Transformation zu gehören. Die Realität ist jedoch hart. Jetzt hat man genug zum Essen, meistens auch ein Auto, es reicht für einen Urlaub, aber die Kinder sind in London oder haben nur Gelegenheitsjobs, sodass stets die Gefahr besteht, dass man die eigene Arbeit auch wieder verlieren kann.

Wird die Zukunft vielleicht besser? Die Aussichten auf die Rente sind düster, Ersparnisse kaum vorhanden. Gleichzeitig zeigen die Medien den Reichtum der neuen Elite und die Arroganz der Politiker vieler Parteien. In der Verwaltung ist häufig Willkür gegenüber den Menschen zu beobachten.

Die arme, aber egalitäre, „klassenlose“ Gesellschaft der Volksrepublik Polen kannte jahrzehntelang nur eine herrschende Gruppe, die „Nomenklatura“, also die Parteifunktionäre. Luxus bedeutete für diese ein besseres Essen und einen Bulgarienurlaub, manchmal auch eine Villa. Als Elite wurde sie aber – besonders nach 1980 – von der Gesellschaft abgelehnt. Die echte Elite waren für das Volk Intellektuelle, Künstler, Priester und Schriftsteller. Ihnen wurde Vertrauen entgegengebracht, sie genossen Prestige, obwohl sie fast alle ziemlich arm waren. Diese breit akzeptierte Elite hat in der Phase des Umbruchs die Kluft zum Rest der Gesellschaft überwunden und nicht nur irgendeine Dissidentengruppe, sondern eine echte demokratische Opposition geschaffen.

II.

Die Beitrittsperspektive und damit die Aussicht auf EU-Integration hielt die Gesellschaft lange zusammen. „Der Westen“ war seit kommunistischen Zeiten ein Mythos der Freiheit und des Wohlstands, aber auch die gemeinsamen Werte waren ein Magnet. Im Unterschied zur Realität der Volksrepublik gab es „dort“ eine echte und nicht nur eine gespielte Religions- und politische Freiheit. Auch die westliche Leistungsgesellschaft machte einen guten Eindruck. Besonders die Bundesrepublik Deutschland war für viele Polen, die dort in den siebziger Jahren arbeiteten, pars pro toto des Westens (genauso wie heute Polen für viele Ukrainer, die in Polen arbeiten, diese Rolle einnimmt).

Viele Polen sind dann konsequent „im Westen“ geblieben, etliche kamen aber auch mit ihren neuen Erfahrungen zurück – die Früchte der Erfahrungen waren jedoch sehr unterschiedlich. Nehmen wir als Beispiel nur einmal die deutsche Erfahrung: Ungefähr die Hälfte der Reformer der neunziger Jahre, sowohl zukünftige Parlamentarier als auch Experten oder spätere Beamte, hatten 1990 bereits einen Studienaufenthalt in Deutschland hinter sich, ein kleinerer Teil war von Aufenthalten in Frankreich geprägt. Andere, wie etwa Teresa Rabska oder Karol Podgórski, waren auch ohne längeren Auslandsaufenthalt gute Kenner des deutschen Rechtssystems. Die Deutschlanderfahrung weckte bei ihnen eine Überzeugung ähnlich der von Barack Obama: „Yes, we can.“ Nehmen wir als Beispiel einen der größten Fensterhersteller in Europa, „Fakro“, dessen Besitzer seine Karriere als einfacher Arbeiter bei einer Fensterfabrik in Deutschland begann – heute steht er international an zweiter Stelle. Diese polnische Erfolgsgeschichte zeigt deutlich die Bedeutung der Erfahrung in anderen Wirtschafts- und Kultursystemen als Quelle des Erfolges. (Letztlich hoffen wir doch auch, dass diese spezifische Schule des Kapitalismus und der Demokratie eine ähnliche Wirkung bei Migranteneliten aus Syrien oder Ägypten haben wird.)

Einen längeren Aufenthalt in Deutschland hatten aber auch Pater Tadeusz Rydzyk („Radio Maryja“) oder Prof. Dr. Zdzisław Krasnodębski, der heute für die PiS im Europäischen Parlament sitzt. Wie bei ihnen verhält es sich mit vielen anderen, die die heutige politische Landschaft Polens bestimmen – sie kamen eher voller Enttäuschung, Ablehnung und Protest aus „dem Westen“ zurück. Sie hatten sich ein solch säkularisiertes, zu offenes und buntes multikulturelles Europa nicht vorgestellt und nicht gewünscht.

Heute bestimmt, wie Piotr Buras und andere Analysten belegen, diese zweite Gruppe die polnische Außenpolitik. War damit die deutsche Erfahrung für beide Seiten der politischen Barrikade, die heute Polen und Deutschland trennt, bestimmend? Keine Seite wollte einfach nur Kopien oder Lösungen eins zu eins übernehmen, aber die Entwicklung in Deutschland war so oder so Maßstab zur Gestaltung der eigenen Position. Diese Meinung teilten auch die Polen, die sich in der neuen Gesellschaft nicht zurecht fanden.

Die Ablehnung des Kommunismus, die Solidarność-Bewegung, die Erinnerung an einen Untergrundstaat während des Zweiten Weltkrieges und die Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus so wie auch die Persönlichkeit Papst Johannes Pauls II. und seine Lehre – alles das bildete über alle Unterschiede und Grenzen hinweg das Fundament der Dritten Polnischen Republik. Lange Zeit war unbestritten, dass diese Elemente über allen politischen Debatten stehen, selbst als Polen von einer postkommunistischen Partei regiert wurde. Die heutige Situation ist jedoch ganz anders: Das Fundament wird zunehmend kritisiert oder sogar grundsätzlich infrage gestellt. Belegen wir dies systematisch:

  • So wird die scharfe Ablehnung des Kommunismus heute mit offener Bewunderung für Teile der Sozialpolitik der Regierung Edward Giereks in den siebziger Jahren kombiniert.
  • Weiterhin gilt der besondere Stolz der Nation nicht mehr der Gewerkschaft „Solidarność“, sondern viel stärker radikalen wie etwa der „kämpfenden Solidarność“ oder der KPN1. Die Legende wird vor unseren Augen und mit großem Kraftaufwand demontiert, und zwar im doppelten Sinne: nämlich nicht nur die Legende um die Person Lech Wałęsa, sondern auch die generelle Bedeutung dieser Bewegung. Der „Runde Tisch“ wird dabei besonders heftig kritisiert.
  • Als leuchtendes Beispiel aus der Vergangenheit wird jetzt nicht mehr die „Heimatarmee“ (AK) und ihr Kampf während des Zweiten Weltkriegs hervorgehoben, sondern Vorbild sind die Soldaten, die bis in die fünfziger Jahre den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetunion fortführten.

III.

Polen nach zwölf Jahren in der EU: Einerseits hat man nun das Gefühl, endlich zuhause zu sein – dafür hat man doch die Bewegung der „Solidarność“ gegründet und dafür gekämpft. Andererseits hat man jahrelange die Zähne zusammengebissen und geschuftet in der Hoffnung, dass die EU ein sicherer, ruhiger Hafen sein wird – er ist aber weiter stürmisch, unsicher und schwierig. Dieses Gefühl kam sehr unpassend gerade in einer Zeit, wo sich die Menschen (nicht nur in Polen) nach Ruhe gesehnt haben. Es ist außerdem schwierig zu verstehen, wie man so viele offensichtliche Defizite der Innenpolitik mit Europa in Verbindung setzen konnte. Allerdings war es auch nicht eben leicht, proeuropäisch gesinnte Menschen davon zu überzeugen, dass gerade Brüssel eine Kopie von Moskau und den alten Jahren ist – viele sind aber heute dieser Überzeugung.

In der Mitte des Weges angekommen, behaupten die Politiker, dass die große Anstrengung eigentlich völlig überflüssig war, denn hätte man den Beitritt zur EU härter verhandelt, dann wären die Konditionen viel besser ausgefallen und überhaupt – man hört es nicht nur in den rechtsradikalen Medien – müsse man sich fragen, ob Polen wirklich vom Beitritt profitiert habe. Es scheint zuerst schwierig, solch eine absurde Behauptung aufzustellen, wenn man die große wirtschaftliche Entwicklung und den verbesserten täglichen Lebensstandard sieht, aber letztlich ist alles eine Sache des Blickwinkels. Der EU-Beitritt 2004 war für alle Polen ein legitimes und weises Ziel, so hatte dies auch Papst Johannes Paul II. bekräftigt. Eine gigantische Anstrengung bedeutete vor allem die Harmonisierung des Rechtssystems und der Institutionen – auch das wurde mehr oder weniger akzeptiert. Die Rechtsanpassung fiel jedoch zusammen mit einer breiten Liberalisierung der Wirtschaft. Die polnische Bürokratie hat oft eigene zusätzliche Vorschriften hinzugefügt und ihre Fehler mit EU-Autorität verdeckt (aber das geschah in allen EU-Ländern). Eine große und positive Rolle haben hingegen die so lange gefürchteten Subventionen gespielt. Ohne sie hätten wir längst einen völligen Niedergang auf dem Land erlebt – stattdessen haben sich die Verhältnisse äußerst positiv entwickelt.

Haben wir also etwas versäumt? Ich glaube schon: Vor allem haben viele Defizite der Sozialpolitik – worauf ich schon als Bürgerbeauftragte in vielen Berichten hingewiesen habe – eine wachsende Unzufriedenheit unter der Bevölkerung hervorgerufen. Den Experten war klar, dass eine solche tief sitzende Unzufriedenheit politische Folgen haben würde. Dies betrifft auch den Kontext der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Zu lange wurde die deutsch-polnische Versöhnung zu Recht gefeiert, aber auch ritualisiert. Man hat das Wunder der Versöhnung und die Rolle der Kirchen gewürdigt, aber viele Preisverleihungen und Podiumsdebatten haben die wachsende Kluft auf der rechten Seite in Deutschland und in Polen eher verschleiert. Dabei bleibt die Versöhnung eine lebendige Quelle der Ideen, wie man bei fast allen Projekten der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit bis heute erleben kann. Daher ist eine Arbeitsgruppe beider Kirchen notwendig, um auch die historische Versöhnung vor unbegründeten Attacken zu verteidigen. Die beiden Kirchen haben sowohl das moralische Recht als auch die Pflicht, auf die absurden Vorwürfe, die gegen eine deutsch-polnische Zusammenarbeit sprechen, zu reagieren.

Erwähnt werden muss auch, dass die Veränderungen, die mit Europa verbunden sind, immer mehr in Polen sichtbar werden. Nicht nur Subventionen, Normen, sondern fast alles, was neu ist, wird als „europäisch“ angesehen. In dieser Situation entsteht eine Art Torschlusspanik. Eine ähnliche Stimmung habe ich vor Jahren in Österreich als Botschafterin erlebt. Plötzlich wurde die Heimat für Millionen wieder wichtig: Trachten, die Alpen, die alten Werte, die österreichische Gemütlichkeit. Einige Jahre nach dem EU-Beitritt kam die Angst, dass die eigene Identität immer verschwommenere Konturen annimmt und man als kleines Österreich in der großen Union untergehen werde. Eine ähnliche Torschlusspanik erleben wir heute in Polen, und sie wird durch einen tiefen Pessimismus über die Perspektiven für die künftige Entwicklung in der Europäischen Union verstärkt. Aus diesem Pessimismus resultiert unter anderem die wachsende Rolle des Visegráder Vierecks, also der engen Zusammenarbeit von Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Wenn man den Glauben an Europa verliert, dann wird die Suche nach Alternativen ziemlich fieberhaft und chaotisch.

Aus der Angst vor dem Identitätsverlust rührt auch die Liebe zum zentralistischen Staat und die Ablehnung der wichtigen und immanenten multikulturellen Tradition Polens her. Ganz aktuell zeigt sich das in Bezug auf das Flüchtlingsthema, was zugleich auf eine eindeutige Ablehnung des Solidarność-Paradigmas „die Lasten der anderen tragen“ hinausläuft! Hinzu treten dann noch Angst, Vorbehalte und Vorurteile, die mittels mancher Medien verstärkt werden. Dort wird nach Argumenten gesucht, die begründen sollen, warum die humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge als naiv und gefährlich eingestuft werden müsste. Viele Abgeordneten sprechen gerne von Terrorismusgefahr, und auch hier ist Deutschland leider präsent: Die Ereignisse in Köln in der letzten Silvesternacht und viele Aussagen von Angela Merkel kehren in jeder Debatte wieder – und der Teil der Gesellschaft, der sich für die Flüchtlinge engagiert, ist zumindest für den Durchschnittsbeobachter kleiner geworden.

Andererseits zeigen die letzten Massendemonstrationen, dass es genug Menschen in Polen gibt, die diese Perspektive nicht akzeptieren und in der Flüchtlingsaufnahme nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch eine Chance für Polens Zukunft sehen.


Fußnote:


  1. KPN steht für „Konfederacja Polski Niepodległej“ (Konföderation des unabhängigen Polens), eine polnische Oppositionsgruppierung, die bereits 1979, also noch vor der Solidarność, entstanden und ideologisch dem nationalkonservativen Spektrum zuzuordnen ist. ↩︎