Als Student aus dem kriegsgeprüften Bosnien und Herzegowina nach Serbien

aus OWEP 4/2016  •  von Nikola Erceg

Nikola Erceg, Diplom-Theologe, studiert z. Zt. an der Fakultät für Orthodoxe Theologie der Universität in Belgrad (Studienziel: Master of Arts).

Zusammenfassung

Der Autor des folgenden Beitrags, ein Serbe aus Bosnien und Herzegowina, folgte früh dem Ruf, sich der orthodoxen Theologie zu widmen, ging ins Priesterseminar und absolviert heute einen Aufbaustudiengang in Belgrad. An seinen Werdegang knüpft er weiterführende Überlegungen zum Thema „Migration“ an.

Herkunft und Weg ins Priesterseminar

Ich stamme aus Stupna bei Šipovo in Bosnien und Herzegowina, genauer gesagt: aus der Republika Srpska. 2006 habe ich meine Heimat verlassen und bin nach Serbien gezogen, um das Priesterseminar in Sremski Karlovci zu besuchen. Dieses konnte ich mit sehr gutem Erfolg und der Auszeichnung „Bester Schüler des Priesterseminars und des Jahrgangs“ abschließen.

Schon in meiner frühen Kindheit liebte ich die Kirche, und der Geist und die Tradition meines Umfeldes halfen mir dabei, ein religiöser Mensch zu werden. Nach Abschluss der achtjährigen Grundschule in Šipovo verließ ich meine Familie und meine Heimat und zog nach Serbien, um meinem Interesse und auch meinem großen Wunsch nachzugehen, mich mit der Wissenschaft der Theologie zu befassen.

Einerseits fiel es mir schwer, mich an mein neues Umfeld zu gewöhnen, andererseits war es auch sehr nützlich und inspirierend, denn ich wuchs in einem Internat auf, in dem alles vom Glauben, der Kirche und der Orthodoxie durchdrungen war. Zuerst hatte ich Schwierigkeiten, in anderen jungen Menschen dieselbe Motivation zu erkennen, die auch mich dazu veranlasste, meine Heimat zu verlassen, aber nach einer gewissen Zeit bemerkte ich diese Motivation um so stärker. Ich befand mich nun in einem Umfeld, in das alle meine Mitschüler aus denselben Gründen und mit derselben Motivation wie ich gelangt waren. Dies war eine sehr schöne und sehr hilfreiche Erfahrung für einen jungen Menschen, sowohl was die Bildung seines Charakters betrifft als auch für seine Vorbereitung auf die göttliche Mission. Die Möglichkeiten, die sich mir in Sremski Karlovci während meines fünfjährigen Aufenthaltes boten, halfen mir dabei, die wichtigsten und wertvollsten Dinge und Werte zu verinnerlichen. Dies sind der Glaube, Frömmigkeit, Kultur, Bildung und das Herausbilden einer ganzheitlichen Persönlichkeit.

Neben dem Wunsch, mich auf wissenschaftlicher Ebene weiterzuentwickeln, hatte ich auch die Absicht, neue Sprachen zu lernen, und zwar sowohl Sprachen der Antike als auch moderne Sprachen. In Sremski Karlovci hatte ich die Möglichkeit, dies von den Lehrern des dortigen Priesterseminars zu lernen. Die Sprachen, in denen ich auf dem Priesterseminar unterrichtet wurde, waren Kirchenslawisch, Latein, Russisch, Englisch, Griechisch und Serbisch als Muttersprache.

Während der Sommer- und Winterferien habe ich meine Familie besucht und habe die Gelegenheit genutzt, mein dortiges Umfeld, soweit es mir möglich war, an meinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Die Zeit, die ich an diesen verschiedenen Orten verbracht habe, hat sehr zur Weiterentwicklung meiner Weltanschauung beigetragen. All diese Errungenschaften und Erfahrungen waren nur durch die harte Arbeit und die große Opferbereitschaft unserer Lehrer und Erzieher möglich, die jeder Generation die Möglichkeit bieten, sich sowohl intellektuell als auch menschlich zu verbessern.

Studium in Belgrad

Nachdem ich das fünfjährige Priesterseminar abgeschlossen hatte, verspürte ich weiterhin den Wunsch, mich weiterzubilden. Ich entschloss mich schnell dazu, meine Wanderung fortzusetzen, indem ich mich an der Universität immatrikulierte, um Theologie zu studieren. Auf die Frage, an welcher Universität ich mein Studium aufnehmen sollte, fand ich zunächst keine Antwort, aber nach einiger Überlegung fiel meine Wahl auf die Universität in Belgrad. Dort erlebte ich wiederum neue Erfahrungen, die mich prägten und mir sehr wichtig sind. Zum zweiten Mal zog ich aus einer alten Heimat in eine neue Heimat.

Meine ersten Eindrücke von dieser sehr schönen und von mir liebgewonnenen Stadt waren nun auf einer anderen Ebene. Während ich meine Studien vertiefte und neue Interessensgebiete entdeckte, gewann ich eine gewisse Abrundung im Bereich meines Fachwissens. Es gibt verschiedene Gründe, warum ich mein Studium ausgerechnet in Serbien fortsetzte: Erstens haben mir meine vorherigen Besuche eine Vertrautheit gegeben und ich fühlte mich als Bestandteil des Landes. Zweitens hat Belgrad mit seiner Universität schon während meiner Schulzeit in Sremski Karlovci eine gewisse Inspiration auf mich ausgeübt. Drittens fühlte ich mich hier bereits heimisch und empfand ein Bedürfnis und eine gewisse Zufriedenheit bei dem Gedanken, hier zu bleiben.

Im Unterschied zu meinem Umzug nach Sremski Karlovci hatte mein Umzug nach Belgrad endgültigen Charakter: Ich hatte mich bewusst dazu entschlossen, diese Stadt zu meiner neuen Heimat zu machen. Dies geschah 2011, als ich mich an der Theologischen Fakultät einschrieb. Meine Zukunft sah ich sehr deutlich vor mir. Ich war hier, um zu studieren, zu beten und wissenschaftlich zu arbeiten. Weiterhin war mir die Zusammenarbeit mit meinen Professoren sehr wichtig und damit die Möglichkeit, Vorlesungen von den höchsten Würdenträgern und größten intellektuellen Persönlichkeiten unserer Kirche zu besuchen.

Mein Plan besteht darin, eine absehbare Zeit in Serbien zu bleiben. Langfristig möchte ich jedoch in die Republika Srpska zurückkehren, um letztlich aufopferungsvoll meiner Arbeit, zu der ich berufen wurde und für die mir eine große Verantwortung und großes Vertrauen übertragen wurde, nachzugehen. Meiner Erfahrung nach gibt es eine Gemeinsamkeit bei allen Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben. Der Glaube ist es, der die Menschen vereint. Er ist es, der tatsächlich die Menschen in einem allumfassenden Sinne verbindet. Dies wird besonders deutlich, wenn Menschen aus verschiedenen Orten, Staaten oder Umfeldern kommen. Diese Menschen erkennen sich in den verschiedensten Situationen sehr gut wieder. Ich meine an dieser Stelle natürlich gläubige Menschen, die sich an einem Ort und als eine Gemeinschaft versammeln. Ähnlicher ist es bei jenen, die in großer Zahl ihre Heimat verlassen haben und nun in der Diaspora leben, sich für längere Zeit von ihren Familien getrennt haben, um eine Zukunft zu verwirklichen, die in ihrer Heimat nicht möglich ist. Gerade für Familien, die sich unter solchen Begebenheiten zusammenfinden, ist die Kirche der Ort, an dem sie sich einmal in der Woche treffen und kennenlernen. Damit macht die Kirche diese Menschen zu einer großen Familie. So werden alle Beschwerlichkeiten erleichtert, denn die Menschen finden etwas ihnen Gemeinsames und teilen es untereinander.

Gedanken zur Migration

Migrationen hatten schon immer einen wichtigen Einfluss auf die menschliche Geschichte, sei es durch Eroberungen oder durch einen etappenartigen kulturellen Einfluss. Nach dem heutigen Verständnis ist Migration ein üblicher Vorgang; manche verstehen Migration sogar als eine Art normaler Erscheinung oder Verpflichtung, denn sie glauben, dass sie auf diese Weise ihre Situation bedeutend verbessern können. Eines der größten Probleme der Migranten ist das Heimweh. Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dass dies eine häufige Erscheinung ist und dass in vielen Fällen eine Selbstverwirklichung scheitert, weil eine starke Verbindung zur Heimat besteht und der große Wunsch, eines Tages in das Land seiner Vorfahren zurückzukehren. Man geht davon aus, dass Migrationen dieser Art meistens das Resultat freier Entscheidungen sind, aber man sollte nicht ausschließen, dass sie auch unter Zwang geschehen können. Wenn wir die Sache unter diesem Gesichtspunkt betrachten, werden wir uns bald davon überzeugen, dass der moderne Mensch ein solches Unterfangen nur unter Druck durchführt, denn in seinem Innersten will er dies gar nicht, sondern es wird ihm als einzige Möglichkeit präsentiert, sich zu verwirklichen. In den meisten Fällen geschieht dies aus materiellen Gründen, die die Menschen dazu bringen, sich in neuen Gesellschaften zurechtfinden zu müssen, um sich und ihre Familien zu versorgen. Betrachten wir unsere eigene Geschichte, werden wir uns schnell vergewissern, dass die Umstände oft unglücklich und schwierig waren.

Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts befand ich mich in meiner Heimat, der Republika Srpska, als dieses Land sich im Kriegszustand befand, und ich war gezwungen, mit meiner Familie aus unserem Haus zu fliehen und einen sicheren Ort aufzusuchen. Dieser Krieg sollte sich als verheerend und tragisch herausstellen und viele Heime zerstören, zusammen mit allen Besitztümern, die die flüchtenden Menschen zurücklassen mussten. Die Opfer dieses Krieges waren ebenfalls groß. Viele Verwandte und Nachbarn haben Familienmitglieder verloren. Wie viele andere, so war auch meine Familie gezwungen, in Orte zu flüchten, die nicht vom Krieg erfasst waren. Diese schmerzhafte und schwierige Migration, die wir damals durchmachen mussten, hat eine unauslöschliche Spur in unserem Leben hinterlassen, die auch heute noch auf eine negative Weise bemerkbar ist. Als wir schließlich in unser Haus zurückkehren konnten und es leer und verwüstet war, fiel es uns sehr schwer, wieder von Neuem zu beginnen. Diese Situation hat dauerhafte Spuren hinterlassen. Es handelte sich bei dieser Migration um eine Rückentwicklung, eine Sinnlosigkeit, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Viele Menschen mussten aus gesundheitlichen oder seelischen Gründen ihre Heimat aufgeben, da sie sich mit der Realität nicht abfinden konnten. Dies hatte leider tragische Konsequenzen, die sich auf das gesamte Umfeld ausgewirkt haben. Eigentlich waren diese Gegenden recht gut entwickelt und wohlhabend – all das war vernichtet.

Die Biografie zeichnet einen Menschen aus. Jede Geschichte hinterlässt schöne und hässliche Zeugnisse. Der Mensch tritt diesen Dingen auf eine je einzigartige Weise mit schon vordefinierten Ansichten entgegen. Auch wenn diese Dinge schmerzhaft sind, ist es erwähnenswert, dass jeder in der Lage ist, aus diesen Erfahrungen etwas zu lernen bzw. eine nützliche Lehre für das weitere Leben mitzunehmen. Der Mensch als Geschöpf Gottes ist geschaffen, um sich mit den Beschwerlichkeiten, die es auf dieser Welt gibt, auseinanderzusetzen und sie alle auf je eigene Weise zu überwinden. Der Kampf um die eigene Identität, Sprache und Schrift ist eine solche Konfrontation. Zu jeder Zeit gab es ähnliche Probleme, aber meiner Meinung nach ist es doch der Krieg, der eine unverwischbare Spur der Trauer im Leben der Menschen hinterlässt, die auch die jüngeren Generationen spüren und als eigenes Verderben in der jüngeren Geschichte empfinden. Aber Gott sei Dank hat die Zeit bewirkt, dass viele, gemeinsam mit ihren Familien, in ihre Heimat zurückkehren konnten und dort frei und von ihrer Arbeit leben können.

Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass dieser Teil Bosniens, in dem meine Heimat liegt, am schwersten unter dem Krieg zu leiden hatte, aber die Menschen dort führen ihr Leben trotzdem voller Hoffnung und mit dem Glauben an Gott weiter und bezeugen, dass wir mutige orthodoxe Christen sind und nicht vergessen, wie viele bedeutende Würdenträger gerade aus dieser Gegend stammen, die durch ihr Wirken bewiesen haben, dass wir ein fruchtbares Umfeld sind, das entschlossen sein Kreuz trägt. Trotz allem kann man sagen, dass dieser schwierige Zeitraum durchstanden ist und die Menschen einen erfolgreichen Wiederaufbau geschafft haben.

Wenn wir versuchen, zu unserer ursprünglichen Frage zurückzukehren, warum wir unsere Heimat verlassen und unter welchen Umständen wir dies tun, dann bemerken wir, dass es sehr schwierig ist, eine einfache Antwort darauf zu geben. Meistens scheinen es die Umstände zu sein, die das Leben diktieren, aber die Geschichte zeigt uns, dass dies nicht immer der Fall ist. In den obigen Ausführungen gab es angenehme, aber auch unangenehme Beispiele für Migrationen. Ich halte die Bezeichnung „Migrationen“ in all diesen Fällen für angemessen und all diese Beispiele für erwähnenswert.

Ausblick

Ich habe die Hoffnung und Erwartung, dass alle Umzüge und Migrationen, die Teil eines Kampfes für ein besseres Leben sind, vorteilhaft enden werden, sodass wir alle einen würdevollen und angemessenen Platz in unserer Gesellschaft finden. Gerade unter solchen Umständen ist es die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, die als Garant für Einigkeit steht. Das sieht man am besten in der Diaspora, wo sich die Menschen tatsächlich untereinander als orthodoxe Christen erkennen und konsequent in der Bewahrung ihrer Traditionen sind. Aus Dankbarkeit sind wir in jedem Augenblick bereit, diese Menschen in unser gezeichnetes Land aufzunehmen, ihnen überall und in jedem Moment das Gefühl zu geben, sie seien nie weg gewesen, ihnen zu zeigen, dass ihre Heimat auf ihre Rückkehr gewartet hat, die sie ständig hinausgezögert und verschoben haben, um ein weiteres Opfer aus Liebe für ihr Volk und ihre Familie zu bringen.

Deutsch von Pavle Aničić und Boris Savić.