Abgeschoben, entwurzelt, abgekoppelt – Rückführung von Albanern aus Deutschland ins Nichts

Schwester Maria Christina Färber gehört zur „Spirituellen Weggemeinschaft“ und lebt im Kloster der Gemeinschaft in Shkodra (Albanien). Dr. Monika Kleck ist Referentin in der Abteilung Projektarbeit und Länder bei Renovabis.

Zusammenfassung

Albanien gilt in offizieller deutscher Sichtweise als „sicherer Drittstatt“, was zur Folge hat, dass viele Asylbewerber aus Albanien wieder in ihr Heimatland abgeschoben werden. Wie der folgende Beitrag zeigt, der auch einige drastische Schicksale wiedergibt, ist ihre Lage alles andere als hoffnungsvoll.

Im Jahr 2015 wurden in Deutschland 476.649 Asylanträge gestellt: eine halbe Million Menschen mit schrecklichen Schicksalen, die hierzulande Schutz suchen. An zweiter Stelle mit 53.805 Anträgen (12,2 Prozent) standen die Albanerinnen und Albaner. Nachdem Albanien im Oktober 2015 als „sicherer Drittstaat“ eingestuft worden war und die Abschiebungen seither konsequenter durchgeführt wurden, nahm die Zahl der neuen Anträge ab. So waren es im Dezember 2015 nur noch 1.760 Anträge aus Albanien. Bis einschließlich Mai 2015 kamen von 309.785 Asylanträgen 5.673 aus Albanien. Hinter diesen nüchternen Zahlen stehen viele sehr erschütternde Schicksale. Betont werden muss, dass aus Sicht der Autorinnen Schwester Maria Christina Färber aus Shkodra und Monika Kleck, Länderreferentin bei Renovabis, Albanien kein sicherer Drittstaat ist und Deutschland seiner Pflicht zur Einzelfallprüfung auch bei sicheren Drittstaaten nicht nachkommt – genau darum wird es im folgenden Beitrag gehen.

Der Text wird erklären, warum die Menschen fliehen, was sie nach einer Abschiebung erwartet und wie es nach der Abschiebung weitergeht. Schwester Christina berichtet über die Situation vor Ort in Albanien, Monika Kleck über die Mechanismen in Deutschland (vor allem Bayern).

Gründe zum Verlassen Albaniens

Auf den ersten Blick gibt es kaum Gründe, Albanien zu verlassen. In dem Land gab es keinen Krieg, Albanien hat seit 2014 den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Wenn man jedoch hinter die Kulissen schaut, so zeigt sich das Land als ein brutaler, korrupter, frauenfeindlicher und ausbeuterischer Staat. Beispiele gibt es dafür in vielen Bereichen.

In den Schulen ist es noch häufig der Fall, dass Schülerinnen und Schüler beschimpft und geschlagen werden. In der Psychiatrie werden Menschen angekettet. Im Gesundheitssystem läuft ohne Bestechung so gut wie nichts, das System ist völlig zusammengebrochen. Die Ärzte in den Krankenhäusern dürfen keine Bestätigungen erteilen, dass z. B. Leukämie nicht behandelt werden kann – dies wäre eine Schande für den Staat, darauf steht Gefängnisstrafe. Es wurde (verständlicherweise) ein Gesetz erlassen, wonach alle offenen Stromrechnungen über viele Jahre zurück bezahlt werden müssen. Die Rechnungen beziehen sich jedoch auf fiktive Werte, da es keine genauen Messungen gibt. Man kann sie auch nicht in Raten bezahlen. Wer nicht zahlt, dem wird selbst mitten im Winter der Strom abgestellt. Wer für den Ofen im Haus illegal Holz hackt, erhält eine Gefängnisstrafe, das Holz geht an einen Politiker für dessen Pizzeria. Hinzu kommt die noch weit verbreitete Blutrache. In weiten Teilen Albaniens herrscht noch immer ein patriarchales System; Frauen werden als Eigentum betrachtet, nicht als Mensch. Die häusliche Gewalt ist hoch, Menschenhandel ebenso. Die Abtreibungsrate von weiblichen Föten übertrifft diejenige von männlichen Föten um ein vielfaches.

All dies hat dazu geführt, dass Albanien eines der ärmsten Länder Europas ist. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Löhne sind niedrig, das Überleben fällt den Familien immer schwerer, ohne Hoffnung auf Besserung. Die Politiker lassen sich immer neue erpresserische Mechanismen einfallen. Oft wird dabei darauf hingewiesen, dass dies Strukturen seien, die für einen EU-Beitritt notwendig sind. Hinter dieser „Maske für die EU“ wird ein Volk feudal regiert.

Die Menschen sind gezwungen, ihre Heimat in den Bergen zu verlassen, da es dort kein funktionierendes Schulsystem oder Ärzte gibt. Im Winter sind die Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten. Kleinbauern aus den Bergregionen können ihre Produkte wie z. B. Kastanien nicht mehr verkaufen, da sie den EU-Normen nicht entsprechen. Wer dann in der Ebene ankommt, lässt sich meistens an den Stadträndern in illegalen Siedlungen nieder, die der Willkür der Behörden ausgeliefert sind – es entstehen regelrechte Slums.

Die Menschen, die Albanien verlassen, wollen einfach ein Leben in Würde.

Abschiebung nach Albanien

Seit Herbst 2015 hat sich die Situation für Albanerinnen und Albaner in Deutschland im Asylverfahren dramatisch verschärft. Als „sicherer Drittstaat“ wird die Vorschrift zur Einzelfallprüfung kaum noch durchgeführt.

Abschiebung bedeutet: am Ende mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, ein menschenwürdigeres Dasein, ein bisschen Sicherheit für die Kinder, der Schutz vor der Blutrache – letztlich eine basale Lebensgrundlage, wie sie schon die Bedürfnispyramide von Abraham Maslow1 beschreibt.

Seit Oktober 2015 werden in Bayern die Familien aus ihrem bisherigen Umfeld in so genannte Abschiebezentren zusammengezogen, anders gesagt: Kinder müssen die Schule verlassen, ihnen wird der reguläre Schulbesuch verweigert; Familien werden aus einem bekannten unterstützenden Umfeld herausgerissen. Die Abschiebezentren sind voll, die Bewegungsfreiheit rigide eingeschränkt, die Versorgung minimal. Oft bleiben die Menschen für mehrere Monate. Einige entscheiden sich aufgrund der Umstände für eine „freiwillige“ Rückkehr. Ansonsten werden jede Woche hunderte Menschen vom Flughafen München in die Westbalkanstaaten – darunter eben auch Albanien –gebracht. Mütter mit kleinen Kindern werden nachts um 3.00 Uhr von bewaffneten Polizisten aus dem Schlaf gerissen und wie Verbrecher abgeführt. Diese Kinder sind traumatisiert, wenn sie in Albanien ankommen. Der Flughafenseelsorger München schildert Menschen, die oft den ganzen Tag ohne Versorgung warten müssen, bis ausreichend Personen für eine Maschine beisammen sind; oft wissen sie nicht einmal, wie sie vom Flughafen in Tirana weiter kommen, denn sie haben kaum etwas dabei.

Offiziell gibt es in Deutschland Grundlagen für ein Abschiebungsverbot: Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG ist zu gewähren, wenn dem Ausländer bei Rückkehr in den Zielstaat eine erhebliche individuelle Gefahr oder extreme allgemeine Gefahr droht. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG wird insbesondere (nicht abschließend) geltend gemacht, wenn z. B. die Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung einer bestehenden Erkrankung infolge fehlender oder nicht ausreichender Behandlung im Zielstaat droht.2

Viele der Fälle, die wir kennengelernt haben, fallen genau unter dieses Abschiebungsverbot – die Menschen wurden trotzdem abgeschoben. Deutschland achtet die eigenen Gesetze nicht und begeht damit Rechtsbruch. Beispiele:

  • Da ist die Familie (eine Mutter mit vier Kindern), die vor Blutrache geflüchtet ist. (Fall 1)
  • Da ist das Kind, welches in Deutschland erfolgreich die erste Behandlungsphase der Leukämie überlebt hat. Die weiteren Behandlungsphasen sollen in Albanien stattfinden. Die Ärzte dürfen dort nicht schriftlich bestätigen, was sie mündlich sagen: Das Kind wird sterben, denn es gibt keine erfolgreiche Leukämiebehandlung dieser Kinder in Albanien. Die bevorstehende Abschiebung ist ein Todesurteil.
  • Da ist die Frau, die als Kind sexuell missbraucht wurde, die von ihrer Familie geschlagen wird, später auch von ihrem Freund. Sie leidet unter Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung und anderen Krankheiten. Doch der Abschiebebescheid ist da. Es ist nicht einmal sicher, ob eine Bescheinigung, derzufolge sie reiseunfähig ist, sie schützt. Momentan zählen auch solche Dokumente nicht.
  • Da ist die Familie mit dem Vater, der Lungenkrebs hat. Eine Behandlung in Albanien wird nicht möglich sein. (Fall 2)
  • Da ist die Familie, deren Vater schwer chronisch erkrankt ist; er hatte schon mehrere Schlaganfälle und ist Epileptiker. Die Familie hat drei Kinder im Alter zwischen 4 und 10 Jahren. Das Haus der Familie ist abgebrannt. Sie wurden in ein Rückführungszentrum gebracht. Da die Situation für den Vater dort unerträglich war, zogen sie den Asylantrag zurück und begaben sich auf die freiwillige Ausreise. Die Familie, die sie in Deutschland beherbergte, hat sich um eine Anfangsunterstützung gekümmert. Da jedoch medizinische Behandlungen in Albanien fast unbezahlbar sind, muss davon ausgegangen werden, dass es dem Vater inzwischen wesentlich schlechter geht. Schon vor der Reise nach Deutschland hatte die Familie monatelang im Freien gelebt. Es ist eine Rückführung in die Obdachlosigkeit, die Kinder haben keine Perspektiven.

Diese Fallbeschreibungen zeigen, warum die Menschen um einen Aufenthalt in Deutschland kämpfen: Sie haben keine Chancen auf ein würdiges Leben in Albanien. Sie sind bedroht von Blutrache, sie können keine medizinischen Behandlungen bekommen, sie haben keine Unterkünfte mehr, sie werden in der Familie geschlagen und misshandelt. Für Frauen gibt es zwar einen eigenen Aufenthaltstitel, denn Deutschland hat die Frauenrechtskonvention unterzeichnet – sie wird aber nicht umgesetzt.

Wie geht es den Menschen in Albanien?

Schwester Maria Christina schildert ihre Erfahrungen:

Fall 1: S. weiß, dass ihren zwei Söhnen die Kugel droht. Die Behörden haben ihr gesagt, Albanien sei ja ein sicheres Land und das mit der Blutrache sei nur eine Lüge, damit sie bleiben können. Sie könnten ja zur Polizei gehen. Die Realität ist, dass die Polizei nicht reagiert, dass die Anzeige einem Rächer gegenüber der sichere Tod ist, da es ja die Rächersippe gibt und nicht nur einen einzigen potenziellen Rächer. Aber diese Antworten werden ignoriert. Warum, frage ich mich? Wir hier sind täglich Zeuge dieser Blutrachetragödien.

Nun, S. ist abgeschoben, in der Nacht um 3.00 Uhr mit vier Kindern im Alter von 5 bis 14 Jahren aus dem Bett geholt. Sie ist nicht freiwillig gegangen. Der Grund: Sie sagt mir, sie kann ihre Jungs nicht freiwillig der Kugel ausliefern. Wenigstens möchte sie einmal sagen können „Ich bin gezwungen worden“. Für den Tod ihrer Jungs sind dann jene verantwortlich, die sie ausgewiesen haben, die sie in der Anhörung nicht angehört, sondern wie eine Verbrecherin verhört haben. Eigentlich war die Anhörung sowieso nur eine Phrase, denn die Abschiebung war beschlossen. Dies ist jetzt bei den meisten Ankömmlingen hier so: kalte Formsache, Akte geschlossen. Gründliche saubere Arbeit.

Nun, die Mutter und die vier Kinder werden zurück gebracht. Irgendwann am frühen Tag landen sie in der Hauptstadt Tirana. Der Vater wurde bereits bei seiner Ankunft in Deutschland von seiner Familie getrennt. Er ist noch irgendwo in einem Auffanglager. Sie sind im Nichts, im absoluten Nichts und haben Angst, nichts als Angst. Es ist Winter, Dezember und kalt und sie finden Unterschlupf in einer anderen Stadt. Schon nach einigen Tagen macht sich der Rächer bemerkbar, es gibt Drohungen. Der Kleinste isst nichts mehr, die Große mit 14 Jahren versteht die Welt nicht mehr. Sie fragt nach dem WARUM und nach der Gerechtigkeit. Dann wird es dem Verwandten bange um seine eigene Familie. Er fürchtet sich vor dem Rächer und bringt die Familie in ein altes Haus, mitten im Winter in die tiefsten Berge nördlich von Kukës nahe der Grenze zum Kosovo. In dieser Situation schreibt die Große ihrer Betreuerin in Deutschland einige SMS und schildert die verheerende Situation: Die Wölfe heulen um das Haus, sie haben nichts mehr zu essen, der Schnee liegt bereits knietief. Alle Kinder sind schwer traumatisiert, die zwei Kleinen mit 5 und 8 Jahren krank. Die Mutter ist der Verzweiflung nahe. F. mit 14 Jahren sagte mir mit in Tränen erstickter Stimme: „Schwester, warum bin ich kein Mensch wie ihr in Deutschland, warum bin ich nicht ‚deutsch‘ geboren? Warum hat uns die deutsche Polizei geholt?“

Schwester Michaela und ich sind zunächst ratlos. Wir wissen, dass man im Winter bei solch hohem Schnee unmöglich in diese Berge kommt. Wir wissen, dass die Handybatterien der Familie bald leer sein werden und es dann keine Kommunikation mehr gibt. Wir haben Angst um das Leben dieser Frau mit ihren vier Kindern. Die Vierzehnjährige möchte sich erhängen. Wir versuchen, die Familie zum Durchhalten zu ermutigen. Wir beten. Wir bangen. Die Lehrerin der Kinder aus Deutschland erzählt, dass die Kinder sehr gut integriert waren, gut gelernt haben, auch die deutsche Sprache. Und sie erzählen, dass die zwei Plätze in der Schule immer noch leer sind und frei gehalten werden. Die Mitschüler trauern, weil ihre Freunde weg sind. Und ich frage mich inzwischen, was das für unsere deutschen Kinder bedeutet. Was sagen wir ihnen, wenn sie fragen, wo über Nacht die albanischen Freunde hingekommen sind? Schweigen wir alles tot? Wie traumatisieren wir unsere Kinder damit? Wie verunsichern wir sie? Es wird nicht spurlos vorüber gehen. Ich möchte jedoch auch – fast trotzig – sagen, dass trotz der Ausweisung diese Bande der Freundschaft und Solidarität, die viele deutsche Helferinnen und Helfer geknüpft haben, auch über die Grenzen hinweg nicht mehr zerstört werden können.

Zurück zur Familie im Wald: Mithilfe zweier mutiger Chauffeure und eines Landrovers schaffen wir es, in die Berge zu kommen und nach einem etwas gewagten Fußmarsch die Familie zu finden. Wir sind betroffen und weinen alle. Der Kleine ist schwer krank, S. versucht, die Fassung zu wahren. Erstmal packen wir die Rucksäcke aus. Lebensmittel, Medikamente, warme Decken, ein bisschen Malzeug für die Kinder, ein deutsches Lesebuch. Wir wissen, dass diese Familie dort nicht bleiben kann. Es ist ein menschenleeres Gebiet. Alle Häuser in der Nähe sind seit Jahren leer: Landflucht. Geisterdörfer sagen wir dazu. Traurige Realität in Albanien. Es gibt keine Ärzte dort, kein Rauskommen im Winter, keine medizinische Versorgung.

Leerstehende Häuser sind in abgelegenen Regionen Südosteuropas keine Seltenheit. Die Aufnahme stammt aus dem Kosovo (Foto: Renovabis-Archiv).

Nun, wir holten sie raus, fanden ein Versteck. Sicherheit vor dem Rächer können wir nicht gewährleisten. Bei jedem Schulweg ist die Angst gegenwärtig. Rausgehen ist für die Kids ein Spießrutenlauf, der das Leben kosten kann. Man kann sagen, dass sei übertrieben. Wenn ich in die Kinderaugen schaue, weiß ich, dass es untertrieben ist. Wenn ich in das Gesicht der Mutter schaue, die sich immer nur für unser Erbarmen bedankt, dann möchte ich in diesen Momenten als Deutsche eher im Boden versinken.

Die Familie von S. ist voll und ganz auf uns angewiesen und auf die finanzielle Hilfe ihrer treuen Begleiterinnen und Begleiter aus Deutschland. Sozialhilfe bekommt sie nicht. Das soziale Netz ist hier zusammen gebrochen, zu viele bedürfen der Hilfe.

Die Familie von S. ist kein Einzelfall. Die Kinder sind eingeschult. Dafür brauchten wir die Papiere und Unterrichtsnachweise aus Deutschland. Dank der dortigen Freiwilligen wurden diese dann geschickt. Zwei der drei Kinder haben ein Schuljahr verloren. Die Bürokratie zur Anmeldung der Familien ist schier unüberwindlich und teuer – schon daran scheitern viele Familien völlig entnervt und leben dann irgendwo illegal, ohne Gesundheitskarte für einen minimalen Zugang zum Gesundheitssystem, ohne Wiedereingliederung der Kinder in die Schule, ohne Arbeit sowieso. Die bürokratischen Hürden zur Reintegration hier sind für viele zu hoch; Beratungsstellen zur Mithilfe der Erledigung der nötigen Formulare gibt es nicht. Auf viele Rückkehrer warten Stromschulden in Unsummen; Stromschulden, die sie nie verursacht haben. Wer nicht zahlt, hat keinen Strom, wer dennoch anschließt, geht ins Gefängnis. Viele Ausgewanderte haben all ihr Hab und Gut verkauft, um überhaupt nach Deutschland zu kommen. Bei der Ausweisung hierher zurück stehen sie vor einem Desaster: Schulden, der private Gläubiger droht oft mit dem Kidnapping oder sogar Tötung eines Kindes, Angst, Enttäuschung, einfach Ende – seelischer, körperlicher und wirtschaftlicher totaler Zusammenbruch. Anders kann ich es nicht sagen. Es sind Gestrandete im eigenen Vaterland, nicht mehr Familien. Dazu kommt eine Art Ächtung im eigenen Land: Es sind jene, die es „nicht geschafft haben“, es sind jene, die nun als Versager belächelt werden.

Und es werden jeden Tag mehr. Wir haben die ersten Kinder im Kindergarten, die die albanische Sprache nicht mehr kennen. Wir haben Kinder, die hier die Schule verweigern, weil sie in den deutschen Schulen nicht geschlagen, beschimpft oder unwürdig beleidigt worden sind – so werden sie durch brutale Methoden wieder neu traumatisiert.

Ich möchte noch eine tragische Geschichte erzählen, die ebenfalls eine Tatsache ist. Ein Junge „in Blutrache“ aus unserer Gruppe wurde vom Onkel gezwungen, die Rache an seinem Vater zu üben, als er vor einem Jahr 16 Jahre alt wurde. Er wollte nicht rächen; er hatte in der Gruppe anderes gelernt und internalisiert. Aus Verzweiflung, dem Druck des Onkels nicht stand zu halten, ist er als Minderjähriger ins Ausland geflohen. Sein letzter kurzer Anruf bei mir war folgender: „Schwester, ich muss abhauen, ich möchte kein Mörder werden. Ich kann nicht töten, du hast uns das anders gelehrt.“ Er weinte kurz auf. Dann war das Handy abgeschaltet. Nun muss er zurück. Dieser Junge ist zerbrochen.

Fall 2: Die Familie, deren Vater an Lungenkrebs leidet wird, von uns Schwestern versorgt. Im Winter erhielten sie einen Ofen und Holz, jetzt bekommen sie Lebensmittel. Heute war wieder der Vater da, er vegetiert mehr oder weniger dahin. Die Therapie wurde abgebrochen, weil es hier keine gibt und alles unbezahlbar ist (auch für uns). Aus unserer Ambulanz erhält er Schmerzmittel. Er ertrinkt im Alkohol, eine andere Erleichterung hat er nicht. Seine Frau hatte eine kleinere Augenoperation gebraucht, die wir bezahlen konnten. Die Söhne waren sporadisch wenigstens in der Schule. Jedoch ist die Wohngegend eher für eine Entwicklung in Richtung Verwahrlosung oder sogar Straffälligkeit prädestiniert. Sie leben von nichts – außer unserer Hilfe.

Eine andere Familie hat es geschafft. Mit großartiger Unterstützung durch die deutschen Helfer konnte der Ehemann zurück nach Deutschland, wo er eine Arbeitsplatzzusage hatte. Doch der Familiennachzug wird sich lange hinziehen, vor allem weil die Mutter nicht genug deutsch kann. Die Familie lebt von einer Patenschaft, die wir vermittelt haben, und von dem, was die Gemeinde noch gegeben hat. Alle sind sehr einsam ohne Vater. Für das kleine Mädchen, in Deutschland nach einer Frühgeburt im Brutkasten, gibt es hier keinerlei ärztliche Nachsorge. Einer der Jungs hat ein Kopfekzem aufgrund eines aggressiven Pilzbefalls, in Albanien gibt es keine wirksamen Medikamente.

Zusammenfassung

Die Albanerinnen und Albaner, die in Deutschland ein würdiges Leben suchen, werden seit dem Herbst 2015 rigoros abgeschoben. Dabei wird der Schein eines rechtsstaatlichen Verfahrens aufrechterhalten, doch dieser Schein ist für einige tödlich, für die anderen bedeutet er ein Leben in Armut, Hoffnungslosigkeit und Gewalt. Trotz EU-Kandidatenstatus ist Albanien ein Land mit hoher Gewaltquote, dessen Gesundheits- und Bildungssystem am Ende sind und die Arbeitslosigkeit unübersehbar hoch ist. Die Menschen, die zurückgeschickt werden, haben in diesem System so gut wie keine Chance.


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu auch http://www.abraham-maslow.de/beduerfnispyramide.shtml↩︎

  2. http://www.bamf.de/DE/Migration/AsylFluechtlinge/Abschiebungsverbote/abschiebungsverbote-node.html;jsessionid=0C4C08A7EB692EEE2D76C64DF67349F6.1_cid286 - Link mittlerweile inaktiv! ↩︎