Ukraine: Fußball und Nationalbewusstsein

aus OWEP 4/2013  •  von Thomas Urban

Thomas Urban war 24 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“. Er ist der Autor von fünf Büchern über die deutsch-polnischen Beziehungen, zuletzt „Schwarze Adler – weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik“. Seit 2012 berichtet er aus Madrid.

Zusammenfassung

Ausgehend von der Geschichte der unterschiedlichen Regionen in der Ukraine erklärt der Artikel die Entstehung der ersten Fußballklubs im Land sowie deren Bedeutung für die Entstehung eines über die Regionen hinausgehenden Nationalbewusstseins. Außerdem schildert er am Beispiel einzelner ukrainischer Klubs deren Verwicklungen in die komplizierten Besatzungsverhältnisse im Zweiten Weltkrieg. Abschließend zeigt der Autor am Beispiel der Entwicklung des Fußballs nach der „Wende“ 1990 bis zur Europameisterschaft 2012 den Wandel auch im nationalen Bewusstsein der Fans.

In der Ukraine ist Fußball mehr als die beliebteste Sportart. Er ist vielleicht das wichtigste Band, das die so unterschiedlichen Landesteile zusammenhält: die Westukraine um Lemberg (Lviv), deren Bevölkerung durchweg Ukrainisch spricht, mehrheitlich griechisch-katholisch sowie traditionell stark antirussisch und antisowjetisch eingestellt ist, die Zentralukraine mit dem ebenfalls Europa zugewandten Kiev, in dem wohl eine knappe Mehrheit Russisch spricht, die russischsprachige und sowjetnostalgische Ostukraine mit dem Industriegebiet Donbass, die Halbinsel Krim, deren Elite sich lange nicht mit der Zugehörigkeit zur Ukraine anfreunden konnte, und schließlich das ebenfalls russischsprachige Odessa am Schwarzen Meer, das einst kosmopolitisch geprägt war. Dem Fußball kam eine Schlüsselrolle beim Entstehen eines neuen ukrainischen Nationalbewusstseins nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1991 zu – neu, weil es seit Mitte des 17. Jahrhunderts kein eigenes ukrainisches Staatswesen mehr gab.

Als den Ukrainern mit dem Zerfall der Sowjetunion unerwartet die Souveränität in den Schoß fiel, fehlte der neuen Republik eine große nationale Erzählung, mit der sich alle ihre Bürger identifizieren könnten. Seitdem haben ausnahmslos alle Regierungen in Kiev, die prowestlichen Führungen ebenso wie die von den Industrieoligarchen gestützten, versucht, über Schul- und Fernsehprogramme eine derartige Erzählung zu konstruieren – scheinbar ein Ding der Unmöglichkeit angesichts der unterschiedlichen historischen Erfahrungen, Sprachen und auch Religionen der Landesteile.

Blick in die Geschichte

Das Territorium der heutigen Ukraine wurde jahrhundertelang von den Nachbarn kontrolliert, die Hauptstadt Kiev vom Kreml im fernen Moskau marginalisiert. Obwohl in der mittelalterlichen Nestorchronik noch als die „Mutter aller russischen Städte“ gerühmt, kam Kiev später im Zarenreich nie über den Rang einer Provinzstadt hinaus. Die Stadt wurde überdies zunehmend russifiziert. Zur Sowjetzeit ging die Russifizierung der Ukraine einher mit der Industrialisierung des Ostens: Aus ukrainischen Provinznestern wurden russischsprachige Industriemetropolen wie Charkov, Dnjepropetrovsk oder Donezk.

Die Trauer um das zerstörte Reich, die Auflehnung gegen die Parvenus und Kollaborateure im Norden – dies sind Motive der nationalukrainischen Mythologie. Diese Mythen haben allerdings im von Moskau kontrollierten Kiev keinen Boden mehr, sondern überlebten in der heutigen Westukraine, die seit dem ausgehenden Mittelalter zu Polen und nach dem Untergang der polnischen Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts zur Habsburgermonarchie gehörte.

Fußball in der Westukraine …

In Galizien entwickelte sich im milden Klima der Wiener Doppelmonarchie ein ukrainischer Nationalismus. Zu den zahlreichen ukrainischen Gesellschaften und Vereinen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, gehörte auch der Lemberger Fußballclub „Ukraina Lviv“ (gegründet 1911). Er wurde zum Aushängeschild der vom Gedanken an die ukrainische Unabhängigkeit beseelten Jugend. Seine Anhänger kämpften nach der Niederlage der Mittelmächte1918 gegen die polnischen Verbände, die ganz Galizien für die wiederentstandene Republik Polen beanspruchten. Die Polen siegten im Kampf um Lemberg, ihre Verbände marschierten sogar in Kiev ein, bis sie von dort von der Roten Armee, dem lachenden Dritten im polnisch-ukrainischen Krieg, vertrieben wurden.

Galizien blieb polnisch, „Ukraina Lviv“ spielte in der polnischen Regionalliga, ohne größere Erfolge zu erzielen. In den Erinnerungen damaliger Spieler finden sich Klagen, dass ihr Club immer wieder von polnischen Schiedsrichtern benachteiligt worden ist – so wie die autoritäre Führung in Warschau auch die ukrainische Minderheit mit harter Hand unterdrückte. Lemberg war polnische Fußballhochburg, in den zwanziger Jahren errang „Pogoń Lwów“ viermal den Meistertitel, drei weitere Vereine spielten vorübergehend in der obersten Liga.

Als in der zweiten Septemberhälfte 1939 die Rote Armee aufgrund des Ribbentrop-Molotov-Paktes die Region Lemberg besetzte, wurden sämtliche polnischen Vereine und Organisationen für aufgelöst erklärt. Die sowjetische Verwaltung gründete neue Sportvereine, die typisch sowjetische Namen bekamen: Dynamo, Lokomotive, Spartak. Die Region wurde an die Sowjetrepublik Ukraine angeschlossen, die Fußballvereine nahmen an der sowjetischen Meisterschaft teil.

… und in der Ostukraine

Der stärkste Verein der Sowjetukraine war „Dynamo Kiev“, gegründet Ende der zwanziger Jahre von der Geheimpolizei NKWD. Seine Spieler waren offiziell Mitarbeiter des NKWD, auch wenn sie faktisch Sportprofis und nicht Angehörige des Repressionsapparates waren. Dem NKWD war eine Schlüsselrolle bei der Sowjetisierung der Ukraine zugekommen. Der Sowjetführer Stalin sah im ukrainischen Nationalismus eine Gefahr für die Errichtung der Moskauer Zentralherrschaft. Um den Widerstand namentlich der Landbevölkerung gegen die Kollektivierung zu bekämpfen, ließ er Anfang der dreißiger Jahre die Ernten beschlagnahmen und die Lebensmittelversorgung der Ukraine stark einschränken. Die Folge war eine Hungersnot, der mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dieser Massenmord durch eine organisierte Hungersnot (ukrainisch: Holodomor) brach zwar jeglichen politischen Widerstand, doch verstärkte er die Antipathien, ja, Hassgefühle der Überlebenden gegenüber Moskau. Begegnungen von Dynamo Kiev mit den Moskauer Spitzenclubs waren deshalb mehr als Fußballpartien, immer wieder kam es dabei trotz des harten Repressionsregimes zu Zusammenstößen unter den Anhängern. Im Juli 1939 entluden sich die Spannungen nach einer Partie zwischen „Spartak Moskau“ und den Kievern in einer Massenschlägerei, die ein derartiges Ausmaß annahm, dass die Nachricht darüber trotz der Abschottung der Sowjetunion unter Stalin ins Ausland gelangte.

Ein Schicksalsspiel im Zweiten Weltkrieg und seine spätere Deutung

Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 („Unternehmen Barbarossa“) geriet die gesamte Ukraine innerhalb weniger Monate unter deutsche Besatzung. Die NS-Führung versprach den Ukrainern einen eigenen Staat, um sie für den Kampf gegen die Armeen Stalins zu gewinnen. In der Tat formierten sich in der Westukraine Freiwilligenverbände, die an der Seite der Deutschen gegen die Rote Armee kämpfen wollten, an erster Stelle die Ukrainische Aufständischenarmee (UPA). Im Rahmen einer ihnen zugestandenen begrenzten Selbstverwaltung wurden im Distrikt Lemberg, der vor dem Krieg nicht sowjetisch, sondern polnisch gewesen war, wieder ukrainische Gesellschaften und Vereine zugelassen, darunter Sportclubs, die eigene Meisterschaften austrugen. Auch in der bisherigen Sowjetukraine durften sich unter strenger deutscher Kontrolle Sportvereine gründen. In Kiev entstanden auf diese Weise ein halbes Dutzend Fußballclubs, die auch Partien gegen Auswahlmannschaften der Wehrmacht austrugen.

Einer dieser Clubs, der „FC Start“, wurde zum Mythos. Die Betriebsmannschaft einer Kiever Brotfabrik, bestehend aus ehemaligen Profis der Kiever Vorkriegsclubs Dynamo und Lokomotive, besiegte am 9. August 1942 die Flakelf, die die Fliegerabwehr der Wehrmachtsgarnison stellte, mit 5:3. Zwei Wochen nach der Partie wurde einer der Kiever Spieler von der SS erschossen, ein halbes Jahr später fanden drei weitere den Tod bei einer Massenexekution im KZ Sirez bei Kiev. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von der Sowjetpropaganda die Version verbreitet, die Spieler seien von den Deutschen aus Rache für die 5:3-Niederlage erschossen worden. Nach der Legende vom „Todesspiel“ hat ein SS-Offizier die Kiever Akteure in der Pause bedroht: Wenn die deutsche Elf nicht gewönne, müssten die Kiever dies mit dem Tod bezahlen. Da die Spieler um der sowjetischen Ehre willen der Erpressung nicht nachgegeben hätten, sei diese Drohung wahrgemacht worden.

Der zum zwanzigsten Jahrestag der Partie in die Kinos gekommene Spielfilm „Die dritte Halbzeit“ (1962) malte das Geschehen dramatisch aus, die Erschossenen bekamen posthum hohe Orden, das „Todesspiel“ wurde Gegenstand der Schulbücher und fester Bestandteil der sowjetischen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg, nach denen auch die Kiever Bevölkerung einmütig an der Verteidigung der sowjetischen Erde gegen die deutschen Besatzer teilgenommen hat. Die Spieler des FC Start wurden in eine Reihe gestellt mit anderen Sowjethelden. Der Opfertod der Teilnehmer des „Todesspiels“ wurde auch ein Kapitel in der offiziellen Geschichte von Dynamo Kiev, hatten die vier Helden doch dem Club angehört. Sie passten sich ein in das Konstrukt einer Sowjetnation, zu der die einzelnen Völker der UdSSR verschmolzen seien.

Dynamo brach Mitte der sechziger Jahre die Vorherrschaft der Moskauer Vereine in der Sowjetunion und war fortan auch international erfolgreich. Im Finale des Europäischen Supercups 1975 besiegten die Kiever sogar Bayern München. Die Erfolge des Clubs verstärkten indes das Regionalbewusstsein, wurden sie doch in der Bevölkerung in der Konfrontation mit Moskau wahrgenommen, wo man gewöhnlich arrogant auf die Ukrainer als Provinzler herabsah. Diese Identifizierung der Dynamo-Fans mit der Ukraine als sich von Russland abgrenzendem Land wurde von der Parteiführung sehr wohl wahrgenommen und auch aufmerksam beobachtet. So verstärkte sich eine paradoxe Entwicklung: Ursprünglich wurde die Geheimpolizei gegründet, um überall im sowjetischen Herrschaftsbereich die Kontrolle Moskaus zu sichern, doch ausgerechnet die Siegesserie von Dynamo Kiev, das formal ja dem Innenministerium und der Geheimpolizei unterstand, stärkte die Kräfte, die den Griff Moskaus lockern wollten.

Noch mehr mit historischem Ballast befrachtet war der westukrainische Verein „Karpaty Lviv“. Die Westukraine war nach dem Zweiten Weltkrieg besonders schwerer Repression ausgesetzt: Stalin ließ die griechisch-katholische (unierte) Kirche, die zwar den Ostritus beibehalten hatte, aber seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Rom unterstand, als „Hort des ukrainischen Nationalismus“ verbieten und verfolgen. Hunderte von Priestern und Gläubigen wurden ermordet, Zehntausende von Angehörigen der Intelligenz in Lager oder entfernte Gebiete im asiatischen Teil der Sowjetunion deportiert. Dass Karpaty Lviv 1969 als Zweitligaverein überraschend den sowjetischen Pokal gewann, wurde in der Westukraine heimlich auch als Akt der Selbstbehauptung und des Widerstandes gegen die verhassten Russen im fernen Moskau und das Sowjetregime gefeiert.

Mit der Erlangung der ukrainischen Unabhängigkeit 22 Jahre später konnten sich die west- und zentralukrainischen Vereine von Lemberg bis Kiev wegen dieser Vorgeschichten auf Traditionen als Vorkämpfer der Nation berufen. Im Falle von Dynamo Kiev kam hinzu, dass die Legende von „Todesspiel“ nach dem Ende der Sowjetzensur sehr schnell von Zeitzeugen und Historikern widerlegt wurde. In Wirklichkeit war es bei jenem Spiel vom 9. August 1942 keineswegs um Leben oder Tod gegangen, vielmehr war es in durchaus freundschaftlicher Atmosphäre verlaufen. Die Besatzungsbehörden hatten keineswegs Einwände gegen einen Sieg der Kiever, denn dieser konnte dazu beitragen, die Ukrainer aufzuwerten und somit bei ihnen die Bereitschaft zu erhöhen, gemeinsam gegen Moskau Front zu machen.

Der Todesdrohungen aussprechende SS-Offizier war eine Erfindung der Sowjetpropaganda. Die vier posthum als Sowjethelden ausgezeichneten Spieler waren zwar in der Tat von der SS erschossen worden, aber nicht wegen des Sieges in der Partie gegen die Flakelf. Vielmehr waren sie verdächtigt worden, früher dem NKWD angehört zu haben – was rein formal ja auch stimmte. Die Legende war nach Meinung ukrainischer Historiker geschaffen worden, um in Vergessenheit geraten zu lassen, dass die Kiever Bevölkerung keineswegs gegen den deutschen Einmarsch Widerstand geleistet hatte.

Probleme in der unabhängigen Ukraine: „West“ versus „Ost“

So leicht sich also die Einwohner Lembergs oder Kievs von sowjetischen Geschichtsbildern ab- und ukrainischen Traditionen zuwandten, umso schwerer taten sich damit die russischsprachigen Gebiete im Süden und Osten, von Odessa über die Krim bis nach Donezk. Ein Großteil der Bevölkerung sah sich als Russen und wollte sich keinesfalls mit dem Zerfall der Sowjetunion abfinden.

Für diese Regionen war die Sowjetherrschaft eine gute Zeit gewesen. Odessa profitierte als wichtigste Hafenstadt, die Krim war das größte Urlaubsgebiet der Sowjetunion mit geduldeten Ansätzen von Privatwirtschaft. Das Donbass hatte unter Stalin sogar fette Jahre erlebt: Während die Zentralukraine hungerte, wurde die Region bei den Fünfjahresplänen aufgepäppelt. Die Industrie wurde ausgebaut, und es wurden gezielt Russen angesiedelt. Das Donbass sollte Musterregion für die Schaffung des homo sovieticus werden. Bis heute stehen in jeder ostukrainischen Stadt Denkmäler für den Revolutionsführer Lenin, die Namen von Straßen, Schulen und Institutionen ehren Helden der Sowjetzeit.

Im kollektiven Gedächtnis der Westukraine aber brachten sie nur Unheil. Dort meldeten sich im Zweiten Weltkrieg Tausende von jungen Männern zur SS-Division Galizien – die deutschen Besatzer hatten sie mit dem falschen Versprechen geworben, nach dem „Endsieg“ solle eine unabhängige Ukraine entstehen. Da die westukrainische Bevölkerung zu einem beträchtlichen Teil traditionell antisemitisch eingestellt war, fiel die Nazipropaganda vom „jüdischen Bolschewismus“ auf fruchtbaren Boden; ein Teil der UPA-Kämpfer wurde zu Mittätern beim Holocaust. Dies ist das wohl düsterste Kapitel in der Geschichte der Region, das bislang allerdings nur ansatzweise aufgearbeitet wurde. Bis heute gibt es im Westen Gruppierungen, die sich auf das Erbe der UPA berufen und deren Farben rot-schwarz übernommen haben. Zwar sind die Rot-Schwarzen, deren Fahnen auch in Kiev vereinzelt zu sehen waren, eher eine Randerscheinung; doch werden sie etwa von der jüdisch geprägten russischsprachigen Intelligenzija der Hafenstadt Odessa als große Bedrohung angesehen.

Wie die Stimmung unter der russischsprachigen Bevölkerung war, belegen die beiden „Fußballfragen“, die erstmals 1992 Oberschülern und Studenten in Donezk und Odessa gestellt wurden: „Zu wem haltet ihr, wenn die Nationalmannschaften Russlands und der Ukraine aufeinandertreffen?“ Die Antwort war eindeutig: „Wir sind Russen, wir halten zu Russland, am liebsten aber wäre es uns, wenn es wieder eine sowjetische Auswahlmannschaft gäbe.“ Die zweite Frage lautet: „Wen feuert ihr an, wenn die ukrainische Elf gegen Schweden, Deutschland oder Spanien spielt?“ Die zweite Antwort bei der – von westlichen Korrespondenten durchgeführten nicht repräsentativen – Umfrage war ebenfalls klar: „Wir wollen, dass die anderen gewinnen, wir sind Russen, unsere Hauptstadt ist Moskau, nicht Kiev.“

Doch schon wenige Jahre später zeichnete sich ein Stimmungswandel ab. Ende der neunziger Jahre waren in der damaligen Generation der Oberschüler in den russischsprachigen Gebieten die Meinungen schon geteilt, ob man zur russischen oder ukrainischen Mannschaft hält. Bei der zweiten Frage hatte sich die Stimmung sogar völlig gedreht: „Selbstverständlich halten wir zu den Ukrainern, wenn sie gegen die Schweden, Deutschen oder Spanier spielen. Das ist ja unser Land.“

Wiederum ein paar Jahre später, bei der Fußballweltmeisterschaft 2006, zu der sich die Ukraine qualifiziert hatte, war klar, dass das ganze Land nun ukrainisch tickt, auch die russischsprachige Bevölkerung in Odessa und Donezk. Dort saßen bei den Spielen ihrer Mannschaft Zehntausende in blaugelben Trikots und mit Nationalflaggen vor den riesigen Bildschirmen in den Fanmeilen.

Die Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika belegte sogar, dass die jungen russischsprachigen Ukrainer sich bewusst von Russland absetzen: Am letzten Spieltag der Qualifikation mussten die Ukrainer gegen die Griechen gewinnen, um das Südafrika-Ticket zu lösen. Unglücklicherweise verloren sie – im ganzen Land herrschte kollektive Niedergeschlagenheit. Als aber zwei Stunden später klar war, dass auch die Russen in ihrem letzten Spiel versagt hatten, ausgerechnet gegen das kleine Slowenien, und ebenfalls zu Hause bleiben mussten, hellten sich die Mienen in Donezk und Odessa wieder auf. Es herrschte kollektiv Schadenfreude darüber, dass auch die Russen gescheitert sind.

Längst steht auch außer Zweifel, dass die russischsprachigen Industrieoligarchen aus der Ostukraine keineswegs an einer Wiedervereinigung mit Russland interessiert sind. Im Gegenteil: Sie wollen die Verfügungsgewalt über ihre Industrieimperien auf keinen Fall verlieren. Es ist nicht nur ein Missverständnis des Westens, sondern offenbar auch des Kremls in Moskau gewesen, dass die russischsprachige Bevölkerung im Osten und Süden der Ukraine mit der Souveränität Kievs wenig im Sinn hat. In Wirklichkeit beschwören auch die von den Oligarchen finanzierten Fernsehsender immer wieder die Einheit des ukrainischen Volkes. In Fernsehdokumentationen wird das Trennende aus der Geschichte, vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg, möglichst klein gehalten. Umso mehr Bedeutung bekommt bei der Erzählung von der Nation die populärste Sportart – der Fußball.