Aus dem Glauben Hoffnung vermitteln. Gefängnisarbeit in Riga

(Fallbeispiel)
aus OWEP 2/2014  •  von Hannah Rita Laue

Schwester Hannah Rita Laue OP ist Mitglied der Gemeinschaft der Dominikanerinnen von Bethanien und lebt im Konvent in Riga. Sie hat auch die Bilder zu diesem Beitrag, die ihre Arbeit illustrieren, zur Verfügung gestellt.

Zusammenfassung

Seit etwa zehn Jahren kümmern sich die Dominikanerinnen von Bethanien um weibliche Häftlinge in Lettland. Ihre Tätigkeit umfasst neben der Seelsorge auch Kursangebote in den Bereichen bildende Kunst, Musik und Tanz. Auch nach der Haftentlassung steht der Konvent der Dominikanerinnen den Frauen offen und trägt dazu bei, ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu unterstützen.

Gefängnisarbeit auf den Spuren von Pater Jean-Josephe Lataste OP

Seit 1995 besteht in Riga ein Kloster der Dominikanerinnen von Bethanien1, in dem gegenwärtig vier Schwestern leben, davon neben mir drei lettische Schwestern. Grundlage unserer Arbeit ist der Glaube, dass der Mensch, egal ob schuldig geworden oder unschuldig geblieben, das kostbarste Geschöpf Gottes ist und Gott für jeden Menschen ein gutes und heiles Leben will. Wir folgen dem Weg unseres Ordensgründers, des 2012 selig gesprochenen Paters Jean-Josephe Lataste OP, der sich im 19. Jahrhundert in Frankreich um inhaftierte Frauen kümmerte. Er strebte eine Gemeinschaft an, in der Frauen, die straffällig geworden waren, gemeinsam mit anderen Frauen gleichberechtigt in einer Ordensgemeinschaft leben konnten – keine sollte auf ihre Vergangenheit festgelegt werden.

Zur Situation der Gefängnisse in Lettland

Momentan gibt es zwölf Gefängnisse in Lettland, von denen zwei Strafvollzugsanstalten für den offenen Vollzug sind. Hier dürfen die Inhaftierten tagsüber das Gefängnis verlassen, um weiter ihrem Beruf nachgehen zu können. Einen eigenständigen Jugendstrafvollzug gibt es nur für männliche minderjährige Verurteilte. In der hierfür vorgesehenen Erziehungsanstalt für Minderjährige in Cēsīs, etwa 90 km nordwestlich von Riga, befinden sich stets zwischen 60 bis 100 Jugendliche. Für weibliche Jugendliche gibt es keine eigene Strafvollzugseinrichtung. Sie werden mit den straffälligen Frauen gemeinsam im Frauengefängnis untergebracht.

Das Frauengefängnis liegt in Riga (Bezirk Iļğuciema); dort sind wir tätig. 2013 wurden im Zuge einer Gesetzesreform etwa 100 Frauen vorzeitig entlassen, sodass derzeit nur etwa 300 Frauen in diesem Gefängnis untergebracht sind. Minderjährige sind momentan nicht anwesend.

Welche Frauen treffen wir im Frauengefängnis?

Die häufigsten Inhaftierungsgründe sind Drogensucht und die damit zusammenhängende Beschaffungskriminalität wie Raub und Einbruch, bis hin zu Tötungsdelikten. Der größere Teil der inhaftierten Frauen ist zwischen 22 und 35 Jahre alt und stammt häufig aus dem ärmsten Teil Lettlands, der Region Lettgallen im Südosten des Landes.

Hinsichtlich der Religionszugehörigkeit finden sich in unserem Gefängnis etwa 60 praktizierende Katholikinnen und Orthodoxe, etwa 50 Lutheranerinnen, 30 Frauen, die zur Pfingstkirche gehören, und 15 Altgläubige; die übrigen sind entweder nicht gläubig, hängen einer Art von Naturglauben an oder mischen sich synkretistisch etwas zusammen. Oft wissen die Inhaftierten überhaupt nicht, zu welcher Konfession sie formal gehören, sind aber dann auch offen für jede Form der Seelsorge, die angeboten wird.

Das Leben im Frauengefängnis

Oft haben Außenstehende nur eine vage Vorstellung davon, wie es in einem Gefängnis zugeht. Es beginnt mit dem Appell: Die Frauen werden zweimal am Tag gezählt, im Winter in den Gebäuden, im Sommer auf den Höfen. Manchmal dauert es bis zu 1 ½ Stunden, bis die Anwesenheit aller wirklich erwiesen ist; erst danach dürfen sich die Frauen wieder bewegen. Auch putzen sie natürlich alles und sind für das Kochen und die Essensausgabe zuständig.

Das Gefängnis gliedert sich in verschiedene Einheiten. Drei Häuser sind für Frauen in Untersuchungshaft, d. h. der Gerichtstermin steht noch aus. In einer Zelle halten sich dann 4-6 Frauen auf und dürfen nur für eine Stunde am Tag in den Hof. Zwei weitere Häuser sind für die Frauen in Strafhaft. Sie dürfen sich in ihren Häusern frei bewegen. Hier sind meist 5 bis 10 Personen in einem Raum untergebracht. Einmal in der Woche dürfen sie telefonieren, die Besuchszeit beträgt 2 Stunden pro Monat. Es gibt auch noch eine Mutter-Kind-Einheit. Die Kinder bleiben mit ihren Müttern im Gefängnis, bis sie 4 Jahre alt sind. Danach werden sie entweder von Verwandten erzogen, in Pflegefamilien oder staatlichen Kinderheimen untergebracht.

Rechtliche Grundlagen der Gefängnisseelssorge

Die Mehrzahl der Seelsorger gehört den Baptisten oder einer Freikirche an, da es Baptisten aus den USA frühzeitig gelungen ist, mit dem lettischen Staat das Recht auf Seelsorgestellen in den Gefängnissen auszuhandeln. Erst nach einer zusätzlichen gemeinsamen Intervention wurden auch lutherische, orthodoxe und katholische Seelsorger akzeptiert. Der Staat genehmigt und bezahlt auf je 300 Inhaftierte eine volle Seelsorgsstelle (40 Stunden/Woche). Die Ausgestaltung der Seelsorgstätigkeit liegt im Ermessen des jeweiligen Seelsorgers.

Seelsorge und Resozialisierung im Frauengefängnis

Daina, die ehrenamtlich als Seelsorgerin tätig ist, hat ein umfangreiches Betreuungsangebot mit vielen weiteren Helfern aufgebaut. Den Frauen soll dabei geholfen werden, ein Unrechts- und Schuldbewusstsein zu entwickeln und Werte anzuerkennen, damit sie dazu befähigt werden, Verantwortung für sich selbst, den Staat, die Gesellschaft und natürlich auch für ihre Familien zu übernehmen.

Die Menschen, die zur Rehabilitierung im Sinne einer Resozialisierung beitragen sollen, nehmen vom ersten Tag der Haft an Kontakt mit den Frauen auf. So wird jede Frau von einem Psychologen, einer Sozialarbeiterin, einem Pädagogen und der Seelsorgerin betreut. Selbstverständlich erfolgt auch eine medizinische Grundversorgung. Die Anwesenheit der Krankenschwestern im so genannten „Med-Punkt“ ist auch deshalb notwendig, weil Medikamente immer nur zur direkten Einnahme ausgeteilt werden können, um Missbrauch zu vermeiden.

Konkrete Hilfsmaßnahmen

Reha-Massagen und vertrauliches Gespräch

Eine Mitschwester ist ausgebildete Krankenschwester. Sie hat nach einer Fortbildung über einen längeren Zeitraum in der Medizinischen Abteilung Reha-Massagen für die Frauen in einem separaten Raum angeboten. Auf diese Weise war sie mit den Frauen für längere Zeit allein und konnte ein Vertrauensverhältnis aufbauen. So entsteht, was sonst in einem Gefängnis kaum möglich ist, eine Art von Privatsphäre – die Frauen können sich eher öffnen, viel leichter über das eigene Leben erzählen und auch Dinge aussprechen oder sich sagen lassen, die sie sonst eher nicht an sich heran lassen. Dieser „Tapetenwechsel“ trägt viel zur seelischen Entspannung bei.

Katechesen und kreative Tätigkeit

Für kleine Gruppen bieten wir kurze Katechesen mit kreativen Bastelelementen an. Thematisch sind sie an kirchlichen Feiertagen orientiert, deren Bedeutung dann erklärt wird. Zielgruppe sind besonders zu Depressionen neigende Frauen und solche, denen es schwer fällt, in größeren Gruppen zu arbeiten. Gearbeitet wird in Stille oder mit leichter musikalischer Untermalung. In diesem Rahmen lernen die Frauen, um Hilfe zu bitten und miteinander rücksichtsvoll umzugehen. Sie können ohne Leistungsdruck kreativ werden und etwas Schönes gestalten.

Tanztherapie

Eine unserer Schwestern ist Tanztherapeutin und arbeitet zweimal im Monat mit einer Gruppe der Frauen im Gefängnis. Die Frauen lernen hier u. a. die Grenzen der Anderen und auch die eigenen zu akzeptieren, Distanz und Nähe zu dosieren und miteinander statt gegeneinander zu arbeiten. In einem besonderen Projekt hat eine Gruppe auch Barocktänze erlernt und für die Aufführung sogar eigene Barockkleider anfertigen können.

Foto: Schwester Hannah Rita Laue OP

Raum für Fürbitten und Stille

Eine weitere Schwester kommt ins Gefängnis, um mit den Frauen im kleinen Kreis Wortgottesdienste zu feiern und ihnen das kontemplative Gebet nahe zu bringen. Im Gefängnis sind die Frauen leider fast ständig von Lärm umgeben; so laufen häufig mehrere Fernsehgeräte in einem Raum auf voller Lautstärke. Die Sehnsucht nach Stille ist daher oft sehr groß, obwohl sie kaum ausgehalten wird, wenn sie tatsächlich eintritt. Mithilfe der Kontemplation können die Frauen innerlich einen Ort der Stille erreichen und lernen, diese auszuhalten, was ihre Konzentrationsfähigkeit erheblich verbessert.

Workshops unterschiedlicher Arbeit

Außerdem gibt es auch immer wieder die Möglichkeit, mit anderen freiwilligen Helfern zusammen kleinere Workshops anzubieten, wie etwa einen Gitarren-Schnupperkurs.

Foto: Schwester Hannah Rita Laue OP

Ausbildung als Bestandteil der Resozialisierung

Viele der jungen Frauen haben keine abgeschlossene Schulausbildung. Daher ist die Abendschule ein fester Bestandteil des Lebens im Gefängnis. Hier können die Häftlinge den Realschulabschluss nachholen; es gibt auch Pläne, das Abitur zu ermöglichen. Allerdings muss oft auch für die erste Alphabetisierung gesorgt werden, sodass es auch Klassen gibt, in denen Grundkenntnisse in Schreiben, Lesen und Rechnen vermittelt werden.

Darüber hinaus ist es auch möglich, im Gefängnis eine Ausbildung zu absolvieren, und zwar als Friseuse, Schneiderin, Hauswirtschaftskraft oder im Bereich des Baugewerbes. Den Frauen wird die Wahl gelassen, was sie lernen wollen, aber sie müssen sich für ein Angebot entscheiden, denn es soll erreicht werden, dass sie nach ihrer Haftentlassung einen Arbeitsplatz finden, um damit wieder in einen stabilen Lebensrhythmus zu kommen.

Und nach der Haft? – Vorübergehend im Kloster wohnen

Nach der Entlassung, vor allem aber bei vorzeitigen Entlassungen zur Bewährung, müssen die Frauen eine Meldeadresse vorweisen und können dazu auch eine Einrichtung, die staatlicherseits als Bestandteil der Resozialisierung anerkannt ist, angeben. Drei Einrichtungen, darunter auch unser Kloster, gehören dazu.

Eines der Häuser befindet sich Brukna und wird von dem Priester Andrejs Mediņš geleitet, der gezielt mit Drogenabhängigen arbeitet. Dort herrschen sehr strenge Regeln, der Schwerpunkt liegt auf körperlicher Arbeit, weshalb es eher von Männern aufgesucht wird. Dann ist das „Betlehemhaus“ in Riga zu nennen, ein christliches Krisenzentrum, das neben Drogenabhängigen besonders Obdachlosen offensteht und auch über eine Krankenstation verfügt.

In unserem Konvent können die Frauen für ein halbes Jahr in einem unserer Zimmer für Frauen in Krisensituationen leben. Da sie uns schon vom Gefängnis her kennen, besteht von vorneherein ein Vertrauensverhältnis. Der Übergang aus dem Gefängnis zurück in die „normale“ Welt ist natürlich nicht einfach und wird, obwohl schon in sich krisenhaft, von vielen kleinen Krisen begleitet. Es ist daher gut, einen sicheren Ort zu haben und in der Anbindung an eine Gemeinschaft zu leben, in der sie ihren Alltag gemeinsam gestalten können. Auch gehören sie hier zu unserer größeren Hausgemeinschaft, die nicht nur uns Schwestern, sondern auch einige Studentinnen umfasst. Einmal im Monat treffen wir uns zu einem zwanglosen Gespräch und beten im Anschluss daran gemeinsam – so bleiben wir miteinander und mit Gott unterwegs.

Nochmal zu unserer Gemeinschaft

Ebenso wie bei unserer französischen Ursprungskongregation soll unser Gemeinschaftsleben die Rehabilitation im Sinne einer Wiederherstellung von Ansehen und Rechten vor den Menschen konkret werden lassen. Wir bezeugen damit gemeinsam den Glauben an eine Zukunft durch Schuld und Buße hindurch. In dieser Haltung versuchen wir, unser Leben mit den Menschen zu teilen, denen wir bei unserer Arbeit täglich begegnen.


Fußnote:


  1. Ausführliche Informationen zur Ordensgemeinschaft finden sich unter http://www.bethanien-op.org/ (auch mit Hinweisen zur Tätigkeit in Lettland). ↩︎