Eine Realität in vielen Formen – der Islam in Frankreich

aus OWEP 3/2018  •  von Michel Younès

Prof. Dr. Michel Younès ist Professor für Theologie an der Université Catholique de Lyon (Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Theologie, Islamologie, islamisch-christlicher Dialog).

Zusammenfassung

Der Islam hat in Frankreich eine lange, im Kolonialzeitalter beginnende Geschichte. In den letzten Jahrzehnten haben sich, wie der folgende Beitrag skizziert, die verschiedenen muslimischen Gemeinschaften durch externe Einflüsse verändert und z. T. radikalisiert, was für die französische Gesellschaft mit großen Herausforderungen verbunden ist.

Wenn man vom Islam in Frankreich oder der muslimischen Gemeinschaft spricht, riskiert man, deren vielfältige Gestaltungsformen zu vergessen. Festzuhalten gilt, dass „dieser Islam“ oder „diese Gemeinschaft“ aus vielerlei verschiedenen Strukturen besteht. Der mehrheitlich sunnitische Islam in Frankreich verfügt weder über ein allgemein anerkanntes Lehramt noch über eine klare Hierarchie – diese grundlegende Tatsache muss man sich vor Augen halten. Wenn im folgenden Beitrag der Einfachheit halber von „Islam“ die Rede ist, muss man streng genommen den Plural „Islame“ im Hinterkopf haben.

Bevor wir die Entstehung und die Konturen dieser Vielfalt untersuchen, möchte ich einige Zahlen anführen. Offiziell ist es in Frankreich untersagt, Statistiken hinsichtlich religiöser oder ethnischer Zusammensetzung der Bevölkerung zu erstellen, daher haben die folgenden Zahlen nur begrenzten Aussagewert. Die Zahl der Muslime in Frankreich wird auf 5,7 Millionen Menschen geschätzt, was ungefähr 8,8 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht.1 Nach einer Studie des Montaigne-Instituts vom September 2016 bezeichnen sich 5,5 Prozent der Bevölkerung im Alter von über 15 Jahren als Muslime. 15 Prozent der Schüler, die mindestens einen muslimischen Elternanteil haben, bezeichnen sich selbst als Nichtmuslime – man muss also durchaus einen gewissen Anteil von Muslimen in Rechnung stellen, die Atheisten oder Agnostiker geworden sind.2 Sicher gibt es auch etliche Muslime, die den Glauben de facto nicht mehr praktizieren. Einige stehen noch in loser Verbindung mit ihrer traditionell gläubigen Familie, andere hingegen sind nach einer Zeit der Lockerung zur strengeren Glaubenspraxis zurückgekehrt. All dies zeigt, dass ein Familienname oder das kulturelle Umfeld der Eltern nicht ausreichen, um die Realität des Islam in Frankreich hinreichend zu beschreiben: Neben die zahlreichen religiösen Strömungen tritt eine immer stärker werdende kulturelle Auffächerung. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Muslime auch Führungskräfte in Staat und Gesellschaft zu stellen, sogar höhere Beamte, Abgeordnete und Minister.

Historisch geprägte Vielfalt

Während zahlreiche europäische Länder vor allem von den jüngsten Migrationsströmen betroffen sind, die zu einem starken Ansteigen des muslimischen Bevölkerungsanteils geführt haben, hat Frankreich aus historischen Gründen zu einigen Ländern mit muslimischer Mehrheit eine längere Beziehung. Bevor man in Frankreich über algerische Muslime sprach, war Algerien ein französisches Departement, also ein integraler Teil der Republik. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Unabhängigkeit Algeriens im Jahre 1962 erstreckte sich die Anwesenheit von Muslimen in Frankreich hauptsächlich auf eingewanderte Arbeiter aus algerischen Dörfern, die vielfach Analphabeten waren. Mit der Familienzusammenführung im Jahr 1972 bildete sich dann eine starke muslimische Bevölkerung in Frankreich, die naturgemäß zu einer neuen Sichtweise auf die muslimische Realität im Land führte. Inzwischen strömen zahlreiche Muslime aus den ehemaligen französischen Kolonien des Maghreb und der Region südlich der Sahara nach Frankreich, vor allem nach Paris. Dies erklärt die Vielfalt der kulturellen Wurzeln von Muslimen etwa aus dem Senegal, aus Mali, Tschad oder anderen Ländern. Ebenso kommen Muslime aus den französischen Überseegebieten wie Mayotte oder den Komoren. Ein geringerer Teil der Zuwanderer stammt aus Albanien, der Türkei, dem Nahen oder Mittleren Osten.

Eine Vielfalt auf der Suche nach Identität

Nach den „glorreichen 30 Jahren“, einer Phase starken Wirtschaftswachstums zwischen 1945 und 1973, traf die aufkommende Massenarbeitslosigkeit vor allem gering qualifizierte Personen und verursachte eine verstärkte Ghetto-Bildung besonders bei Menschen mit kulturellem oder religiösem Hintergrund aus muslimischen Regionen. Die 1990er Jahre bildeten einen weiteren Wendepunkt, dessen Folgen bis heute spürbar sind.

Der Fall der Berliner Mauer 1989 und das Ende des Ost-West-Konflikts führte zu tiefgreifenden Änderungen nicht nur in der globalen Geopolitik, sondern auch in den Beziehungen zwischen den Religionen, vor allem im Blick auf den Islam. Die Unterstützung islamistischer Kämpfer in Afghanistan durch den Westen in den 1980er Jahren oder wirtschaftliche Verbindungen zu den reichen Golfstaaten begünstigten direkt oder indirekt die Entstehung salafistischer Strömungen in Frankreich. Der Salafismus zeichnet sich durch den Wunsch aus, zu den ruhmreichen Zeiten des ursprünglichen Islam zurückzukehren.3

Im Zusammenhang mit der Suche nach Identität erscheint der Islam in diesen Bewegungen als eine sichere Wertegrundlage zur Lösung aller Probleme, mit denen sich die Muslime auseinandersetzen müssen. Hinter solchen ideologischen Strömungen stehen z. B. Organisationen wie die 1928 in Ägypten gegründeten „Muslimbrüder“, die Bewegung „Participation et spiritualité musulmane“ („Vereinigung für Gerechtigkeit und Spiritualität“) des Marokkaners Abdessalam Yassine und auch die Bewegung „Tabligh“, die in Indien in den 1920er Jahren gegründet und seit den 1960er Jahren in Frankreich unter dem Namen „Foi et pratique“ („Glaube und Praxis“) verbreitet ist – all diesen Bewegungen ist gemeinsam, dass sie einen äußerst rigorosen Islam befürworten.

Diese Ideologien finden vor allem in den vernachlässigten Randzonen der Städte Zulauf. Überforderte Eltern sind hilflos, wenn sich ihre Kinder einem Islam strenger Observanz zuwenden – viele Jugendliche machen ihren Eltern wegen mangelnder muslimischer Lebenspraxis Vorwürfe und halten die französische Gesellschaft insgesamt für zu freizügig, moralisch verdorben und areligiös. Als Konsequenz daraus haben sich unter den jüngeren französischen Muslimen Gruppen gebildet, die dem gewaltbereiten Dschihadismus nahestehen. Der Krieg in Syrien und im Irak war für viele junge Menschen eine willkommene Gelegenheit, sich den dortigen Kämpfern anzuschließen und damit Organisationen wie Al-Qaida oder IS zu unterstützen. Die jüngsten Attentate auf französischem Boden haben die wachsende Kluft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Frankreich erheblich verstärkt.

Ein Mosaik auf der Suche nach repräsentativer Vertretung

Nach mehreren Jahren Vorüberlegungen, Verzögerung und Irrwegen hat der Staat schließlich die Einrichtung des „Conseil français du culte musulman“ organisiert. Dieser Rat soll der privilegierte und offizielle Ansprechpartner der Muslime für den französischen Staat sein. Nichtsdestoweniger wurden damit deutliche Grenzen erkennbar, denn das Ganze ist letztlich eine dem Wesen des sunnitischen Islam fremde Struktur – der sunnitische Islam kennt keine religiöse Hierarchie und keine von allen anerkannte Autorität, was sich besonders in der Vielfalt der Zugehörigkeiten zu Moscheen und Gebetsräumen zeigt. Da man bei der Wahl der Vertreter ziemlich mechanisch von der räumlichen Größe der Kultstäten ausging, unterscheidet sich die Zusammensetzung des Rates erheblich von der historischen Wirklichkeit. Trotz der starken Präsenz der algerischen Gemeinschaft betonen marokkanische und türkische Gruppen ihre Rolle und erheben den Anspruch, innerhalb des Rates eine wichtige Rolle zu übernehmen.

Der Rat besteht inzwischen seit fast 15 Jahren und versucht, auf nationaler wie auf regionaler Ebene Anerkennung zu finden. Hier und da entstehen weitere Organisationen, Verbände und Vereinigungen, die zum Teil von den Konsulaten einiger Länder wie Algerien, Marokko und der Türkei unterstützt werden, andere werden von internationalen Organisationen gefördert, was auch Einfluss auf ihre ideologische Ausrichtung hat. Festzuhalten bleibt: Gegenwärtig kann man nicht eindeutig sagen, wer die Muslime Frankreichs wirklich repräsentiert. Die Antwort hängt von der Region und den jeweiligen lokalen Einflüssen ab.

Parallel zu den Strukturen geht es auch um die Frage nach der Ausbildung der Geistlichen und Imame. Die Radikalisierung eines Teils der muslimischen Jugend ist mit bestimmten Predigern verbunden, die nicht nur im Internet, sondern auch in Gebetsräumen tätig sind. Die Situation ist folgende: Der Mangel an ausgebildeten Imamen führt dazu, dass Imame aus den Herkunftsländern angeworben und von dort entsprechend den jeweiligen lokalen Ressourcen nach Frankreich entsandt werden. Diese Imame aus Ländern, die sich kulturell von Frankreich unterscheiden, vergrößern jedoch die Kluft zur hiesigen Gesellschaft, da die Antworten, die sie geben, nicht mit den Erwartungen übereinstimmen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Imame immer weniger in der Lage sind, sich auf Französisch auszudrücken, was vielfach bei Imamen aus der Türkei der Fall ist. Infolge ihrer Unkenntnis der Laizität als Grundprinzip des französischen Selbstverständnisses können sie die Fragen derjenigen jungen Muslime, die in der französischen Sprache und Gesellschaft verwurzelt sind, kaum oder gar nicht beantworten. Im Gegenzug dazu zieht der Einfluss von Imamen salafistischer Ausrichtung immer stärker junge Muslime an, da sie sie direkt in ihrer Sprache ansprechen.

Perspektiven der muslimischen Präsenz in Frankreich

Die Sichtbarkeit einiger Muslime in Frankreich im öffentlichen Raum und in privaten Unternehmen, aber auch ihre Forderung nach verstärkter Beteiligung im Bildungs-, Gesundheits- und generell im öffentlichen Leben führt letzten Endes zu einer Infragestellung des französischen Grundprinzips der Trennung von öffentlichem und privatem Sektor – und damit der Trennung von Religion und Staat. Damit stellt sich grundsätzlich die Frage, wie der Islam in seiner Beziehung zur französischen Gesellschaft neu definiert werden kann. Die Anwesenheit von Muslimen in einem letztlich doch von christlicher Tradition geprägtem Land hat auch viele Anhänger dieser Religion dazu gebracht, ihr Verhältnis zu den Juden und den Christen zu überdenken. Auf keinen Fall sollte der Islam in Frankreich auf „Bedrohung“ reduziert werden, vielmehr muss die Auseinandersetzung mit ihm als Teil eines recht verstandenen Umgangs des Laizismus mit Religion verstanden werden.

Aus dem Französischen übersetzt von Christof Dahm.


Fußnoten:


  1. Pew Research Center, 29.11.2017 : http://www.pewresearch.org/fact-tank/2017/11/29/5-facts-about-the-muslim-population-in-europe/ ↩︎

  2. Vgl. http://www.institutmontaigne.org/publications/un-islam-francais-est-possible ↩︎

  3. Vgl. dazu Michel Younès (Hrsg.): Le fondamentalisme islamique. Décryptage d’une logique. Paris 2016. ↩︎