Zwischen Anerkennung und Diskriminierung: Islam in Russland

aus OWEP 3/2018  •  von Sofija A. Ragosina

Sofija A. Ragosina ist Dozentin an der Nationalen Forschungsuniversität „Höhere Wirtschaftsschule“ in Moskau, geschäftsführende Sekretärin des Peer Review Journals „State, Religion and Church in Russia and Worldwide“ und Redakteurin bei Rossiya segodnja (Abteilung für ausländische Presse InoSMI).

Zusammenfassung

Der Islam zählt zu den traditionellen Religionen Russlands, die Zahl der Gläubigen nimmt ständig zu. Innerlich ist er jedoch zerstritten und wird von den meisten Nichtmuslimen aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen, die zu einer Radikalisierung vieler Muslime geführt haben, mit Misstrauen betrachtet. Vielfach muss man sogar, wie aus der nachfolgenden Übersicht deutlich wird, von offener Diskriminierung sprechen.

Gemäß der Zahl der Gläubigen ist der Islam in Russland nach dem Christentum die zweitgrößte Religion. Nach der Volkszählung aus dem Jahr 2010 ist die Zahl der traditionell muslimischen Völker (die Frage nach der Konfessionszugehörigkeit wurde nicht gestellt) auf 13 Millionen zu schätzen, was 9 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht.1 Ähnliche Angaben wurden vom Pew Research Center im Jahr 2017 angegeben, das die Größe der muslimischen Gemeinde in Russland auf 10 Prozent der Gesamtbevölkerung schätzte.2 In verschiedenen rechten Gruppen und Bewegungen ist die reißerische Einschätzung verbreitet, dass der Anteil der Muslime bis zum Jahr 2050 30 Prozent überschreiten wird.3

Regionen und Hauptrichtungen

Als „traditionell muslimische“ Regionen, d. h. Regionen, in denen sich mehr als 80 Prozent der Bevölkerung zum Islam bekennen, sind der Nordkaukasus (Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien) und die Wolga-Ural-Region (Baschkirien, Tatarstan) zu nennen. Separat ist auf die Hauptstadtregionen Moskau und Sankt Petersburg zu verweisen, wo die Muslime eine bedeutende Bevölkerungsgruppe ausmachen. In Moskau wird mit einer halben bis zwei Millionen4 und in Sankt Petersburg mit etwa einer Million Muslime gerechnet.5 In den beiden Metropolen ergibt sich die Zunahme des muslimischen Bevölkerungsteils durch Migration aus den zentralasiatischen Republiken und durch Binnenmigration aus den Gebieten im Nordkaukasus. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung wächst aber auch in Sibirien und im Fernen Osten Russlands.

Die Mehrheit der Muslime in Russland sind Sunniten. Unter den Aseris, Lesginen und Taten in Dagestan ist die Schia der Richtung der Zwölfer-Schia verbreitet, während in den Republiken des Nordostkaukasus Praktiken des Sufismus verbreitet sind. In Tschetschenien und Inguschetien sind die Sufiorden6 von Naqschbandīya und Qādirīya aktiv, in Dagestan ist der von Schādhilīya verbreitet. Die Zugehörigkeit zu einem solchen Orden hat Einfluss auf die politische Machtverteilung in den Regionen. Auf diese Weise hat z. B. Said Effendi Tschirkejewski (oder al-Tschirkawi), der ein Scheich der Orden von Naqschbandīya und Schādhilīya war, eine wichtige Rolle im politischen Leben Dagestans gespielt. Die Zugehörigkeit zum Orden wurde als Weg angesehen, in die lokale Elite aufzusteigen. Im Jahr 2012 ist er durch einen Terroranschlag ums Leben gekommen.

Die institutionelle Struktur der muslimischen Gemeinde in Russland

Die „Geistlichen Verwaltungen der Muslime“ (DUM) bilden die institutionelle Grundstruktur der muslimischen Gemeinschaft. Diese Organisationen haben administrative Funktionen, leiten muslimische Bildungseinrichtungen und gehen karitativen oder bildungsbezogenen Tätigkeiten nach. Klassischerweise wird eine DUM von einem Mufti geleitet und untergliedert sich in Unterbezirke, sogenannte Muchtasibate. Jedes dieser Muchtasibate hat einen Imam an seiner Spitze und vereinigt mehrere Moscheegemeinden, welche im Fall des tatsächlichen Vorhandenseins einer Moschee von einem Imam, falls es aber keine Moschee gibt, vom Vorsitzenden der Gemeinde geleitet werden.7 Aktuell existiert in fast allen Regionen Russlands eine muslimische Organisation. Es gibt auch überregionale Organisationen der DUM. Zurzeit bestehen drei ähnlich große überregionale Organisationen, die seit der Mitte der 1990er Jahren mit unterschiedlicher Intensivität um Einfluss auf der föderalen und der regionalen Ebene kämpfen:

  • Die „Zentrale Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands“ (ZDUM) betont ihre Kontinuität zur ersten muslimischen Organisation in Russland, die im Jahr 1788 gegründet wurde. Die ZDUM beansprucht die Jurisdiktion für ganz Russland, de facto jedoch befinden sich in der Struktur der ZDUM 21 regionale DUMs in der Wolga-Ural-Region und drei „Repräsentanzen“. Die ZDUM wird seit ihrer Gründung im Jahr 1992 ununterbrochen von Talgat Tadschuddin geleitet. Er ist bekannt für seine skandalösen „außenpolitischen“ Erklärungen (z. B. die Erklärung eines Dschihad gegen die USA nach dem Beginn des Irakkriegs im Jahr 2003) und auch für seine Rhetorik in Richtung traditioneller Werte. Er positioniert sich als der Führer aller russischen Muslime und repräsentiert Russland auf verschiedenen internationalen muslimischen Foren.
  • Im Jahr 1994 schied die „Geistliche Verwaltung der Muslime der zentraleuropäischen Region Russlands“ aus der ZDUM aus und benannte sich 2014 in „Geistliche Verwaltung der Muslime der Russischen Föderation“ (DUM RF) um. Sie erhebt ebenfalls den Anspruch, eine zentrale Institution der russischen Muslime zu sein. Seit ihrer Entstehung wird die DUM RF von Scheich Rawil Gainutdin geleitet. In seiner Rhetorik appelliert auch er aktiv an die „Traditionen des russischen Islam“. Rawil Gainutdin steht außerdem an der Spitze des russischen Mufti-Rats, der vor allem für karitative und bildungsbezogene Projekte zuständig ist.
  • Schließlich bildet das „Koordinationszentrums der Muslime des Nordkaukasus“, das von Ismail Berdijew geleitet wird, das dritte „Machtzentrum“ der russischen muslimischen Gemeinschaft. Berdijew zeigt keine mit Tadschuddin und Gainutdin vergleichbaren politischen Ambitionen. Im Jahr 2016 fanden seine Aussagen zur Unterstützung der Frauenbildung in Dagestan eine große gesellschaftliche Resonanz.

Gemeinsam ist diesen Organisationen die von ihren Vorsitzenden bezeugte loyale Haltung gegenüber der föderalen Macht, die sich vorwiegend auf zwei Aspekte konzentriert: Erstens sprechen sich fast alle muslimischen Führer für die Idee der Einheit der muslimischen Gemeinschaft aus. Am überzeugendsten erweist sich die von Rawil Gainutdin formulierte Idee von der Einheit der Muslime und der russischen Zivilisation auf der Basis der eurasischen Gemeinschaft. Zweitens wird die Spiritualität als besonders wichtiger politischer Wert herausgestellt: Zum Beispiel könne die neu erbaute Moskauer Hauptmoschee „sehr nützlich für die Stärkung der geistlichen und staatlichen Souveränität unseres Landes“ sein.8

Islamophobie und Diskriminierung von Muslimen in Russland

Während in Europa und Nordamerika die Ereignisse des 11. Septembers 2001 zum Auslöser des Wachstums von Islamophobie wurden, übernahmen in Russland andere Ereignisse und Phänomene diese Rolle.

An erster Stelle sind es die Erinnerungen an den Tschetschenienkrieg. Das Feindbild wird von „ethnischen“ und „religiösen“ Elementen geprägt. Einerseits sind die Vorurteile gegen muslimische Tschetschenen, die den Krieg geführt haben, erhalten geblieben, andererseits werden die Anhänger des radikalen Islam im Kaukasus bis heute Wahhabiten genannt. Das Problem des „Wahhabismusexports“ aus den Ländern des Persischen Golfs war in der Zeit der beiden Tschetschenienkriege besonders virulent. Allerdings hat sich die These über eine vermeintliche Zwangsläufigkeit der wahhabitischen Gefahr als sehr standhaft erwiesen, und bis heute berufen sich einzelne Experten, aber auch Repräsentanten des Establishments, auf sie. Die Gefahr der Verbreitung des Islamischen Staats (IS) wurde mit der bereits vorhandenen Erwartung eines „äußeren islamischen Feinds“ verbunden.

An zweiter Stelle spielt die Migranten-Phobie eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Islamophobie. Die fremdenfeindliche Stimmung richtet sich sowohl gegen Wirtschaftsmigranten aus Zentralasien als auch gegen Migranten aus den Republiken des Nordkaukasus. Eine Eskalation der Migranten-Phobie verband sich vor allem mit der Wahl des Moskauer Bürgermeisters im Jahr 2013.9

An dritter Stelle ist der islamophobe Diskurs, der von verschiedenen rechten Organisationen geführt wird, zu nennen. Eine separate Beachtung verdient die Rolle radikaler orthodoxer Bewegungen und einzelner Vertreter der orthodoxen Gemeinschaft, die aktiven Einfluss auf das, was Teil des öffentlichen Diskurses wird, ausüben. Eine dieser bekannten Personen ist Erzdiakon Andrei Kurajew, dem häufig Volksverhetzung vorgeworfen wird.

Das Problem des radikalen Islam

Das Problem der Radikalisierung des Islam zählt zu den wichtigsten aktuellen innenpolitischen Fragen. Sie ist an erster Stelle mit dem Nachklang des Tschetschenienkriegs verbunden, genauer gesagt mit der Formierung von Verbrecherbanden, die vor allem in den Bergregionen des Nordkaukasus fortwährend aktiv sind. Öffentlich bekannte Angaben über die Zahl festgenommener oder liquidierter Kämpfer gibt es nicht, was damit zusammenhängt, dass diese Fragen Teil des Aufgabenbereichs des Inlandsgeheimdiensts FSB sind. Deswegen erhält die Öffentlichkeit nur begrenzt Informationen über die Operationen gegen diese bewaffneten radikalislamischen Gruppen.

Die Islamisten aus dem Nordkaukasus sind vorwiegend mit der Organisation „Kaukasus-Emirat“ verbunden. Seit Anfang der 2010er Jahre ist ihre Tätigkeit zu einem Großteil in den virtuellen Medienraum abgewandert. Obwohl die Internetseite der Organisation „Kaukasuszentrum“ und andere islamistische Quellen auf der Liste der verbotenen Quellen stehen und ständig blockiert werden, sind sie weiter abrufbar, da ihre Server sich auf dem Territorium anderer Länder befinden. Auch sind sie durch Anonymisierungsprogramme erreichbar.

Interessant ist die Position des „Kaukasus-Emirats“ gegenüber dem IS. Obwohl einige Kriegsherren von Dagestan dem IS Treue geschworen haben, erkennen sie offiziell nur Al-Qaida als Führer des weltweiten Dschihad an und unterstützen im Syrien-Konflikt die mit Al-Qaida assoziierte Al-Nusra-Front. Im Jahr 2015 hat der Führer des Kaukasus-Emirats junge Menschen sogar davor gewarnt, in den Nahen Osten zu reisen.

In den letzten Jahren hat die Verbreitung radikaler Ideen in Gefängnissen an besonderer Aktualität gewonnen. In der Regel bilden sich „Gefängnis-Gemeinden“ um Auswanderer aus dem Nordkaukasus, die auf verschiedene Weise mit der Tätigkeit islamistischer krimineller Gruppierungen oder radikal gesinnter Jugendlicher verbunden sind. Bis jetzt fehlen komplexe anthropologische und soziologische Studien zu diesem Problem; das bisherige Bild basiert lediglich auf einzelnen Experteneinschätzungen und journalistischen Interviews mit ehemaligen Häftlingen.

Der islamische Faktor in der Außenpolitik Russlands

Auf der internationalen Ebene bemüht sich Russland darum, Solidarität mit muslimischen Ländern zu demonstrieren, und betont seine besondere Einstellung ihnen gegenüber. Im Jahr 2005 trat Russland als Beobachter der „Organisation für Islamische Zusammenarbeit“ bei. Seit dem Jahr 2006 ist Rawil Gainutdin Mitglied des „Weltverbands für die Annäherung der islamischen Denkschulen“. Mehr als 40 russische Theologen gehören zur Internationalen Union Muslimischer Gelehrter.

Besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Beeinflussung des öffentlichen Diskurses über islamische Fragen verdient das Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow. Die so genannte „Fatwa von Grosny“, die auf einer theologischen Konferenz im August 2016 beschlossen wurde und „gute“ von „schlechten“ Muslimen abzugrenzen versuchte, erregte großes Aufsehen in der russischen muslimischen Gemeinde. Die „richtigsten“ Muslime sind diesem Text zufolge die kaukasischen Nachfolger der Sufi-Bruderschaften.

Da es sich bei dem Treffen in Grosny um eine Konferenz von internationaler Bedeutung handelte, sollte sich die Gültigkeit dieser Fatwa auch weit über die Grenzen Tschetscheniens hinaus erstrecken, was von den führenden Ländern der muslimischen Welt entsprechend negativ aufgenommen wurde. Als exemplarisch kann man die Position von Ramsan Kadyrow hinsichtlich der Eskalation des Konflikts um die muslimischen Rohingya in Myanmar bezeichnen: Während die DUM nur eine bescheidene Erklärung verabschiedete, galt er durch die Organisation von Protesten mit tausenden Menschen im Zentrum von Grosny schnell als Hauptverteidiger der unterdrückten Muslime.

Der russische Militäreinsatz in Syrien, der im September 2015 begann, hat in der muslimischen Welt große Uneinigkeit hervorgerufen. Die Tatsache, dass Russland auf der Seite von Baschar al-Assad, einem Vertreter der alewitischen Minderheit, und in Koalition mit dem schiitischen Iran aufgetreten ist, ruft Kritik oder zumindest das Unverständnis der sunnitischen Mehrheit in der arabischen Welt hervor. Während Vertreter der DUM die Position Russlands in der syrischen Frage völlig unterstützen und den Versand humanitärer Hilfe an die Opfer organisieren, gibt es gegenüber Russland in dieser Frage auch kritische Stimmen.

Aus dem Russischen übersetzt von Anna Kulke.


Fußnoten:


  1. Nach den Ergebnissen der gesamtrussischen Volkszählung. Vgl. Soobschtschenie Rosstata. In: Demoskop Weekly. Nr. 491-492, 19-31.12.2011. Quelle: http://www.demoscope.ru/weekly/2011/0491/perep01.php (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  2. Pew Research Center: Religious Belief and National Belonging in Central and Eastern Europe. 10.05.2017. Quelle: http://www.pewforum.org/2017/05/10/religious-belief-and-national-belonging-in-central-and-eastern-europe/ (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  3. Etwa: http://www.narodsobor.ru/events/demography/33348-chislo-musulman-v-mire-postoyanno-rastyot (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  4. Aleksej Malaschenko (Quelle: http://carnegie.ru/commentary/60764 (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  5. RIA Nowosti (Quelle: https://ria.ru/interview/20141003/1026731232.html (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  6. Mit Sufismus werden asketisch-spirituelle Strömungen im Islam bezeichnet, die in mancher Hinsicht der christlichen Mystik ähneln (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  7. https://www.sova-center.ru/religion/publications/2003/10/d1072/ (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  8. Rawil Gainutdin in http://dumrf.ru/regions/77/speech/9735 (letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎

  9. Julija Galkina (http://www.the-village.ru/village/city/city-interview/264372-migrantofobia; letzter Zugriff: 25.11.2021). ↩︎