Von der politischen Freiheit zur religiösen Freiheit

Der orthodoxe Religionsunterricht in Bulgarien
aus OWEP 2/2019  •  von Bojidar Andonov

Prof. Dr. Bojidar Andonov ist Lehrstuhlinhaber für Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Sofia, außerdem seit 2014 Mitglied des Expertenrates des Bildungsministeriums für den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen Bulgariens und seit Februar 2019 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates von Ordo socialis (Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre e. V.). Seit 2009 wirkt er auch als Lehrbeauftragter für Homiletik/Religionsunterricht und Pastoraltheologie am Institut für Orthodoxe Theologie der Ludwigs-Maximilian-Universität München.

Zusammenfassung

Am Beispiel Bulgariens wird deutlich, wie langwierig die Wiedereinführung des Religionsunterrichts nach dem Ende des kommunistischen Systems verlaufen ist und mit welchen Problemen er gegenwärtig zu kämpfen hat.

Rechtliche und historische Grundlagen

Nach der politischen Wende (1989) in Bulgarien wurden die Voraussetzungen für eine freie Religionsausübung geschaffen. Die bulgarisch-orthodoxe Kirche sah sich damals besonders vor folgende Fragen gestellt: Kann die Kirche ein Bollwerk gegen die auch in Bulgarien eindringenden Sekten und „religiösen“ Lehren sein, und wird sie durch ihre Gottesdienste, Predigten zu aktuellen Themen, ihre Sozialarbeit sowie ihre religiöse Unterweisung auf die Herausforderungen der Zeit ausreichende Antworten geben können, damit das Volk wieder zu den fast vergessenen Werten des Christentums zurückfinden kann?1

Der Heilige Synod der bulgarisch-orthodoxen Kirche reagierte von Anfang an zu langsam und unsicher auf die neuen politischen Verhältnisse im Lande. Damit wurde die Chance vertan, nach der Wende eine bedeutsame Rolle in der bulgarischen Gesellschaft zu spielen. In dieser Zeit schaltete sich die Theologische Fakultät2 in die Bemühungen um Wiederzulassung des Religionsunterrichts an den Schulen ein und richtete am 11. Februar 1992 ein Schreiben an den Bildungsminister Marin Dimitrov (Union der demokratischen Kräfte), in dem sie anbot, bei der Vorbereitung zur Wiedereinführung des Religionsunterrichts behilflich zu sein und einen Fachausschuss zur Aufstellung und Ausarbeitung von entsprechenden Lehrplänen einzurichten. Dieses Angebot der Theologischen Fakultät blieb jedoch seitens des Bildungsministeriums ohne Reaktion.

Der Heilige Synod stieß bei den Regierenden auf keinerlei Verständnis oder Unterstützung. Die Zeitung Duma, das Organ der Sozialisten, reagierte sofort auf die Forderungen in scharfer Form. In dem Artikel „Die orthodoxe Propaganda ist wichtiger als der Religionsunterricht“ äußerte sich Jassen Borislavov so, dass man dahinter ohne Mühe die Meinung der Regierenden erkennen konnte: „Der Heilige Synod hat vor kurzem einen Brief an das Bildungsministerium geschrieben, in dem er sich zum wiederholten Male für die Einrichtung des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen ausgesprochen hat ... Es ist notwendig, noch einmal die Gründe zu wiederholen, weswegen der Religionsunterricht keinen Platz an den staatlichen Schulen haben kann, weil offensichtlich ist, dass die Synodalbischöfe sie nicht verstanden haben.“

Trotz Widerstands der Sozialisten berief der Bildungsminister der Übergangsregierung am 15. April 1997 eine Kommission zur Vorbereitung des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen ein. Mit der Anordnung, zum Schuljahr 1997/98 mit dem probeweisen Religionsunterricht bei den Kindern der 2.-4. Klasse zu beginnen, wurde die Wiedereinführung des Religionsunterrichts an den staatlichen Schulen Bulgariens im August 1997 Realität. Als Motive für die Wiedereinführung des Religionsunterrichts nannte die Konzeption für die Ausbildung im Fach Religion an den allgemeinbildenden Schulen der Republik Bulgarien (1998) u. a. folgende Punkte: die prägende Rolle des Christentums für das soziale, kulturelle und geistige Leben der Bulgaren während ihrer langen Geschichte, eine Wiedererweckung der Traditionen und eine Aneignung der kulturellen Werte des Christentums. Ausdrücklich wurde der Religionsunterricht als kürzester und fruchtbarster Weg für die geistig-sittliche Erneuerung Bulgariens bezeichnet.

Zunächst wurde der Religionsunterricht 1997/98 nur in der 2.-4. Klasse zugelassen, ab 1998/99 dann in den Klassen 1 - 8. 2003 erfolgte dann die gesetzliche Regelung, wonach ab Schuljahr 2003/04 das Fach Religion in den Klassen 1 - 12 als frei wählbares Fach unterrichtet werden sollte. Mit dieser Anordnung des Bildungsministeriums wurde der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen Bulgariens Realität.

Bildungssystem

Das heutige Bildungssystem Bulgariens ist fast das gleiche wie vor 1989. Mit der Unterrichtsreform von 1990 wurde die einheitliche Mittelschule als einziger Schultyp in Bulgarien eingeführt. Sie erfasst im Prinzip alle Jugendlichen von der 1. bis zur 12. Schulklasse und ist in folgende Stufen bzw. Zweige gegliedert: Elementarstufe: 1. bis 4. Klasse – Progymnasialstufe: 5. bis 8. Klasse – danach Differenzierung in Realgymnasium, Fachgymnasium oder fremdsprachiges Gymnasium: 9.-12. Klasse. Nach dem Gymnasium darf man im Anschluss an eine Aufnahmeprüfung an der Hochschule studieren.

Der Religionsunterricht innerhalb des öffentlichen Schulwesens

Themen

Heute wird Religion an den öffentlichen Schulen in allen drei Stufen unterrichtet. Im Folgenden nenne ich einige Themenschwerpunkte:
* Grundschule (Klassen 1-4): „Jesus Christus – göttlicher Lehrer“. Elementare biblisch-historische und religiös-sittliche Kenntnisse. * Progymnasialstufe (Klassen 5-8): „Die Kirche – das christliche Leben und die christlichen Traditionen“. Erweiterung der Kenntnisse in Glaubens- und Sittenlehre des Christentums; Einführung in Orthodoxie, Katholizismus, Protestantismus sowie in Judentum, Islam und Buddhismus. * Gymnasium (Klassen 9-12): „Soziale Dimensionen des Christentums“. Anwendung religiös-sittlicher Kenntnisse im gesellschaftlichen und individuellen Leben.

Der Inhalt der Lehrbücher soll auf die jeweiligen Stufen des Unterrichts abgestellt und der Ablauf des Unterrichts nach einem Lehrplan für jede Klasse gesondert vorgegeben werden, unabhängig von den zur Verfügung stehenden Lehrbüchern. Jedes Unterrichts- und Hilfsmittel soll von methodischen Handreichungen für den Lehrer begleitet werden. Z. Zt. erfolgt der Unterricht noch vorwiegend anhand der drei Lehrbücher Religija (Religion) für die Klasen 1-2, 3-4 und 5-6 (jedes Lehrbuch in einer Auflage von ca. 20.000 Exemplaren). Ein Lehrerhandbuch fehlt noch.

Von der 1. bis zur 12. Klasse umfasst der Religionsunterricht jeweils eine Wochenstunde, also insgesamt 28 - 33 Stunden pro Jahr. Zwei Zahlen sollen die Reichweite illustrieren: Im Schuljahr 2004/05 wurde orthodoxer Religionsunterricht 13.209 Schülern an 190 Schulen erteilt, im Schuljahr 2017/18 waren es 9.350 Schüler in 190 Schulen.

Der Zugang zum Religionsunterricht

Prinzipiell steht es allen Schülern offen, am Religionsunterricht teilzunehmen. Die Teilnahme ist freiwillig. Beim Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen Bulgariens dominiert z. Zt. die orthodoxe Glaubensrichtung. Eine Berücksichtigung bzw. eine Zusammenarbeit mit der katholischen, der evangelischen oder anderen christlichen Konfessionen sowie mit anderen Religionsgemeinschaften gibt es nicht. In den Lehrbüchern finden sich jedoch Informationen darüber.

Im November 2017 hat man im Expertenrat des Bildungsministeriums über mehr Offenheit im Religionsunterricht gegenüber der katholischen und protestantischen Konfession, dem Judentum und anderen Weltreligionen, besonders aber auch gegenüber dem Islam beraten, da 13 Prozent der bulgarischen Bevölkerung Muslime sind. So kam der Expertenrat zum Schluss, dass Bulgarien eine Neukonzeption des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen benötigt. Bildungsminister Krassimir Valchev war davon sehr angetan und hat die entsprechenden Leitlinien bereits im November 2018 gebilligt; sie treten ab dem Schuljahr 2019/20 in Kraft. Bis zum Schuljahr 2020/21 sollen auch die Lehrbücher und Lehrmaterialien für diese drei Richtungen des Religionsunterrichts ab 1. bis zur 12. Klasse geschrieben und gedruckt werden.

Ab Mitte Dezember 2018 hat das Bildungsministerium bereits einen Umqualifizierungskurs der Grundschullehrer/innen mit dem Schwerpunkt Geschichte, Bulgarische Literatur und Philosophie angeordnet, damit sie neben ihren eigenen Fächern ab dem Schuljahr 2020/21 auch Religionsunterricht lehren können. Dieser Umqualifizierungskurs findet an den Theologischen Fakultäten in Sofia und Veliko Tarnovo statt, und zwar für diejenigen Lehrkräfte, die Religion-Christentum und Religion-nicht konfessionell unterrichten sollen. Die Lehrkräfte, die Religion-Islam unterrichten sollen, werden an der Universität für Bibliothekswissenschaften und Informationstechnologien (UNIBIT) in Sofia ausgebildet.

Außerdem gibt es zur Deckung des Bedarfs an Religionslehrer/innen neben dem Bachelorstudium an der Theologischen Fakultät in Sofia auch einen Master-Studiengang für Religionslehrer/innen; ein spezielles Lehramtsstudium an den Theologischen Fakultäten gibt es z. Zt. nicht. Jeder Absolvent des Theologiestudiums, der das Lehramt ausgewählt hat, hat das Recht, Religion an den öffentlichen Schulen zu unterrichten, ohne eine spezielle Erlaubnis oder Bestätigung seitens der Kirche. Der Religionsunterricht und die Religionslehrer werden von Inspektoren des Bildungsministeriums überwacht. Die Bezahlung erfolgt vom Staat. Es gibt noch keinen Verband der Religionslehrer und keine geregelte Fortbildung.

Staatliche Prüfung

Das Theologiestudium umfasst 8 Semester. Im 7. und 8. Semester lernen die Lehramtsstudenten Religionspädagogik (Didaktik und Methodik) sowie Pädagogische Psychologie. Dazu müssen die Studenten noch an einem Praktikum an ausgewählten öffentlichen Schulen, in denen es den Religionsunterricht gibt, teilnehmen, wobei im ersten Semester nur hospitiert, im zweiten aber selber Unterricht vorbereitet und gehalten wird. Am Ende des Studiums steht für die Lehramtsstudenten ein so genanntes „Praktisches Staatsexamen“ an diesen Schulen. Bei diesem Examen soll jeder Student vor einer Kommission eine selbst vorbereitete Unterrichtseinheit präsentieren.

Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen

Eine kulturgeschichtliche Begründung für religiöses Lernen, wie sie auch in der Konzeption für die Ausbildung in Religion des bulgarischen Bildungsministeriums (1998) gegeben wird, reicht heute nicht mehr aus, weil sich die Schüler nicht persönlich angesprochen fühlen. Ihnen genügt nicht mehr, die historische Rolle der bulgarisch-orthodoxen Kirche, ihrer Heiligen und Märtyrer während der türkischen Herrschaft, die Verfolgungen während der kommunistischen Zeit kennenzulernen und zu reflektieren. Sie interessieren vielmehr die sie persönlich betreffenden Grundfragen wie z. B.: die Frage nach Gott, dem Tod, dem Sinn des Lebens, nach Glück, Liebe, Gerechtigkeit, Frieden. Was geschieht nach dem Tod? Was kann ich hoffen, was tun? Was ist Schöpfung? Was ist das Gute, was das Böse? Die Notwendigkeit des Religionsunterrichts sollte von daher begründet werden, dass er sich auf dem Hintergrund und mit Bezug auf die religiösen, vor allem die christlich-orthodoxen Traditionen und Inhalte, jedoch auch im Dialog mit anderen Religionen am überzeugendsten mit solchen Fragen auseinanderzusetzen und Antworten zu geben vermag. Gerade auch der verhältnismäßig hohe Anteil von 13 Prozent Muslimen an der Gesamtbevölkerung erfordert eine Beschäftigung mit anderen Religionen und trägt zur Vermittlung der Werte Toleranz und Achtung anderer bei.

Noch ein zweites anthropologisches Argument erscheint wichtig. Es ist nicht nur Lebenshilfe, sondern gehört zu den Merkmalen eines gebildeten Menschen, sich mit solchen existentiellen Fragen kompetent auseinandersetzen zu können. Daraus ergibt sich die auch bildungspolitisch wichtige pädagogische Aufgabe des Religionsunterrichts. Kein anderes Fach ist besser geeignet, den Schülern menschlich und argumentativ die notwendige und gewünschte Hilfestellung bei der Suche nach einer Orientierung zu geben – unabhängig von der Altersstufe oder davon, ob sie einer Kirche angehören und wie sie Religion und Kirche prinzipiell gegenüberstehen. Solange es an den Schulen kein spezielles Fach gibt, das sich mit diesen Grundfragen adäquat, kompetent, fundiert und komplex beschäftigt und das aus erzieherischen und bildungspolitischen Gründen dringend notwendig erscheint, solange zumindest ist der Religionsunterricht an der Schule erforderlich – auch wenn seine zeitlich enge Begrenzung sowie die Abhängigkeit von vielerlei Faktoren und Einflüssen seine Möglichkeiten in nicht geringem Maße einschränken.


Fußnoten:


  1. Zu den folgenden Ausführungen vgl. ausführlich Bojidar Andonov: Der Religionsunterricht in Bulgarien. Geschichte, Gegenwart und Zukunft religiöser Bildung in der orthodoxen Kirche Bulgariens. Essen 2000; ders.: „Bulgarien“. In: Norbert Mette (u. a., Hrsg.): Lexikon der Religionspädagogik. Band 1. Neukirchen-Vluyn, S. 239-244. ↩︎

  2. Im Jahre 1991 wurde die Theologische Fakultät Sofia wieder in die Universität „Kliment von Ohrid“ integriert. ↩︎