Roma im Osten und Südosten Europas.

Ein Blick in Geschichte und Gegenwart
aus OWEP 2/2003  •  von Kajo Schukalla

Dr. Kajo Schukalla, Geograph und Ethnologe, ist Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker und seit über 25 Jahren in der Menschenrechtsarbeit tätig.

Wer heute in Deutschland von Roma spricht, tut dies in der Regel nicht mit Blick auf die Jahrhunderte lange Geschichte dieses Volkes in Deutschland, sondern in asylpolitischen Zusammenhängen. Dass diese Roma aus dem östlichen Europa gekommen sind, zumal auch aus Regionen, die vor der EU-Osterweiterung stehen, muss unseren Blick auf diese osteuropäischen Herkunftsgebiete und die Situation, aber auch die lange, zumeist leidvolle Geschichte der Roma lenken.

In den ehemals sozialistischen Staaten hat es im letzten Jahrzehnt gravierende Veränderungen für die Roma gegeben. Anstelle der erhofften Demokratie und Freiheit für alle Bürger und Völker lebte überall der Nationalismus der Mehrheitsvölker auf und nahm besonders im ehemaligen Jugoslawien extreme Ausmaße an, Hauptursache für Flucht und Zuwanderung in den Westen.

Ein europäisches Volk

Kein Volk ist in Europa so international vertreten wie die Roma. Stolz nennen sie sich deshalb oft das „europäischste Volk“. Und doch scheinen sie ein Volk ohne Heimat zu sein.

Sie selbst bezeichnen sich als Roma (Singular Rom), was „Menschen“ bedeutet. Namen wie Sinti, Kalderasch, Cale bezeichnen die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Untergruppe. Der Begriff Romanipe (Romani-Gemeinschaft) umschließt alle Stämme und Untergruppen, auch wenn einzelne Roma-Zweige sprachlich in die Mehrheitsgesellschaften assimiliert wurden. Die Sprache, das Romanes, auch „Romani chib“ genannt, hat eine Vielzahl von Dialekten entwickelt, was die Entwicklung einer gemeinsamen Schriftsprache verhinderte.

Wohl keinem anderen Volk hat man mehr Namen gegeben. Am häufigsten ist aber der Name Zigeuner, gleichfalls früh belegt, wobei die ursprüngliche Bedeutung bis heute umstritten geblieben ist. Eine plausible Erklärung führt den Namen auf die gnostische Sekte der Atsigani oder Athinganoi („Unberührbare“) zurück, die im westanatolischen Phrygien verbreitet waren. Die Athinganen zeichneten sich ebenso wie die Manichäer durch zahlreiche körperliche und rituelle Rein- und Unreinheitsvorstellungen aus, die möglicherweise mit aus dem indischen Kastensystem mitgebrachten Reinheitsvorstellungen verwechselt wurden und zu den Ableitungen Atsiganos (griechisch), Acigan (bulgarisch), Cygan (polnisch), Cykan (russisch), Cigano (portugiesisch), Tsigane (französisch), Tschinghiane (türkisch) und Zigeuner (deutsch) führten.

Herkunft und Wanderung

Dass die Heimat der Roma in Indien liegt, gilt seit über zwei Jahrhunderten aufgrund von Sprachvergleichen als erwiesen. Unsicher geblieben sind der Zeitraum der Abwanderung und genaue Wanderwege. Als gesichert kann angenommen werden, dass die Abwanderung aus dem nordindischen Großraum nicht in einer großen geschlossenen Wanderbewegung, sondern in kleinen Gruppen und zu unterschiedlichen Zeiten, frühestens seit Anfang des 4. Jahrhunderts erfolgte. Als Anlässe müssen kriegerische Ereignisse, Vertreibung, Verfolgung und wirtschaftliche Entwicklungen, etwa Wandergewerbezwang oder Transportdienstleistungen, angenommen werden. Die Gründe lagen somit vermutlich in der Wahl von Überlebensstrategien in einer ihnen schon damals feindlich gesonnenen Umwelt, nicht aber in einem angeborenen Wandertrieb, wie es Romantiker und Rassisten gleichermaßen bis heute immer wieder postulieren. Die Wanderung nach Europa erfolgte über Persien, Kurdistan und Armenien durch den griechischen Kulturraum und die südslawischen Siedlungsgebiete, wie dies entsprechende Lehnwörter in allen europäischen Romadialekten nahelegen. Die Kultureinflüsse der durchzogenen Länder spiegeln sich bis heute im breiten Spektrum der Romakulturen wider.1

Im 14. Jahrhundert beginnt die europäische Periode der Geschichte der Roma, Sinti, Cale und anderer romanisprachiger Stämme und Gruppen. Um 1348 berichten die ältesten Quellen von dunkelhäutigen Fremden in Serbien, 1370 in der Moldau, 1385 in der Walachei und 1399 im Gebiet der heutigen Slowakei. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts häufen sich dann die Nachrichten in Mitteleuropa. In Hildesheim werden sie 1407 als Tateren (Tataren, Tattern) bezeichnet, in der Annahme, es handele sich um versprengte Truppen der gefürchteten Mongolen oder Tataren Tamerlans, eine Bezeichnung, die sich in Norddeutschland und Skandinavien noch Jahrhunderte lang gehalten hat. Auch wurden sie je nach vermuteter geographischer Herkunft als Bohemiens (Böhmen), Egypter oder Egiptenleut, Gitanos (in Spanien), Gypsies (in England) oder auch einfach als Heiden oder eben als Zigeuner bezeichnet. 1444/45 belegen Dokumente die Anwesenheit von Roma in Galizien (Polen). Zu Anfang des 16. Jahrhunderts bezeugen Geleit- und Schutzbriefe ihren Aufenthalt in Litauen, Bessarabien und der Ukraine. Bis zu Anfang des 18. Jahrhunderts müssen sie sich bis nach Westsibirien ausgebreitet haben.

In diesen politisch unruhigen und wirtschaftlich schwierigen Jahrhunderten – mit „Türkengefahr“, Bauernaufständen und Religionskriegen seien nur einige Stichworte genannt – sahen sich Roma ebenso wie vielerorts Juden in einer Sündenbockfunktion, auf die sich die Aggressionen der Sesshaften richteten. Die Geschichte der Roma ist eine Geschichte der Ausgrenzungen und Vertreibungen. Auftakt zu Verfolgungen größeren Ausmaßes war das Edikt von 1482 durch den Kurfürsten Albrecht Achilles von Brandenburg, das unter Strafandrohung allen Roma den Aufenthalt in seinem Herrschaftsbereich untersagte. Ein wiederkehrender und oft tödlicher Vorwurf war die Beschuldigung, sie würden im Auftrag der Türken die Länder der Christen ausspionieren. Während in Deutschland die meisten „Zigeunergesetze“ in den hundert Jahren nach dem Dreißigjährigen Krieg bis ca. 1750 erlassen wurden, folgten mit einer gewissen Phasenverzögerung auch die Länder West- und Osteuropas. Zu den fortlebenden Spionagevorwürfen kamen Beschuldigungen der Kindesentführung und sogar des Kannibalismus. Der verbreitete Vorwurf der Kindesentführung muss schon angesichts des eigenen Kinderreichtums als absurd erscheinen. Als eine Erklärung mögen die unter Roma durchaus häufiger vorkommenden blonden Kinder angesehen werden. Besonders in Westeuropa wurde der Vorwurf auch durch Cervantes‘ populären Roman „La Gitanilla“ („Das Zigeunermädchen“) von 1631 verbreitet, worin ein Mädchen namens Preciosa von Roma entführt wird, später aber zu ihrer Familie zurück kehren kann. Dieser Stoff fand in zahlreichen Bühnenbearbeitungen auch in Osteuropa weite Verbreitung.

Wurden in West- und Mitteleuropa nach Phasen von Duldung und Verfolgung regional auch Ansätze einer Assimilations- und Ansiedlungspolitik verfolgt, so verlief die weitere Geschichte in Ost- und Südosteuropa anders.

Von besonderer Bedeutung war die Entwicklung in den rumänischen Kerngebieten Walachei und Moldau, die im Fernhandel früh zwischen den aufstrebenden Zentren in Flandern, Deutschland, Polen und dem oströmischen Reich eine Mittlerrolle übernommen hatten. Angezogen von der Aufwärtsentwicklung, möglicherweise auch im Gefolge der Heereszüge der Mongolen, Tataren und Kumanen wanderten im 13./14 Jahrhundert viele Roma zu und waren als spezialisierte Wandergewerbetreibende, Schmiede, Kesselmacher, Sieb- und Löffelmacher wirtschaftlich begehrte Leute. Mit dem Vorrücken der Türken über den Bosporus änderte sich jedoch die wirtschaftliche und politische Lage rasch. 1396 war Bulgarien bereits türkische Provinz und das Fürstentum Walachei dem Osmanischen Reich gegenüber tributpflichtig. Der Handel verfiel, die verarmenden Fürsten und Klöster belegten die noch freien Bauern mit immer höheren Steuern, sodass diese mehr und mehr in Schuldknechtschaft und schließlich in Leibeigenschaft gerieten und mit ihnen große Teile der Roma-Bevölkerung.

Im benachbarten Siebenbürgen als Bestandteil Groß-Ungarns und später Österreich-Ungarns war die Leibeigenschaft von Roma weniger entwickelt und wurde Ende des 18. Jahrhunderts offiziell ganz abgeschafft. In der Walachei und Moldau bestand sie hingegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fort. So kann es nicht verwundern, dass die Begriffe „Sklave“ (rob) und „Zigeuner“ vielfach sogar synonym verwendet wurden. Die Umstellung von der direkten Ausbeutung der Roma auf ein Arbeitsvertragssystem stand auch in Zusammenhang mit dem allmählichen Schwinden der türkischen Vorherrschaft nach dem Frieden von Adrianopel 1829. Die provisorische Regierung der Moldau beschloss zwar 1848 die Freilassung aller Roma, musste jedoch vor Durchführung dieser Reform zurücktreten, sodass die formelle Befreiung der Roma aus der Leibeigenschaft in der Moldau erst 1855, in der Walachei erst 1856 erfolgte. Die Freilassung der etwa 200.000 Roma führte zu neuen Wanderbewegungen, da sich in den bisherigen Territorien keine ausreichenden Existenzmöglichkeiten boten. Viele Roma zogen nach Bessarabien, Russland, Bulgarien, Serbien, Ungarn, West- und Mitteleuropa weiter. All diese erneuten Wanderungen erfolgten in der Regel in kleinen beweglichen Gruppen von oft nur 50 bis 150 Mitgliedern, die jeweils einer Sippe (Vitsa oder Tserha) oder einem Wirtschafts- und Sozialverband (Kumpania) angehörten.

Besonders in Russland sahen sich viele Roma Hungersnöten, Fremdenfeindlichkeit und politischen Wirren ausgesetzt und flohen westwärts. Bis etwa um 1920 nutzten viele die Chance der Emigration nach Nord- und Südamerika, Südafrika sowie Australien.2

Traditionelle Sozialorganisation

Bei den traditionellen osteuropäischen Roma lassen sich mehrere Ebenen der Sozialorganisation unterscheiden. Die kleinste soziale Einheit ist die erweiterte Familie (Großfamilie), Tserha genannt. Dieser Begriff bedeutete ursprünglich „Zelt“ und beschrieb entsprechend die traditionelle Wohngemeinschaft. Die Gemeinschaft mehrerer Großfamilien, die sich auf einen gemeinsamen Vorfahren beziehen, wird als Vitsa (pl. Vitsi) bezeichnet. Sowohl patri- als auch matrilineare Ausrichtungen der Verwandtschaftsorganisation sind aus Osteuropa bezeugt. Weitaus lockerer sind die gegenseitigen Verpflichtungen auf der sozialen Ebene des „Stammes“, als Natia oder Rasa bezeichnet.3

In regelmäßigen Abständen geistern immer wieder Berichte durch die Medien, die von „Zigeuner-Königen“ berichten, in den 1990er Jahren etwa von Ion Cioaba in Rumänien. Unter den Roma gab es immer regionale vermittelnde Anführer, Bulibasha, Vojvoda, Shero Rom oder Baro Rom (wörtlich „großer Mann“) genannt. Diese Männer waren eher Richter als Herrscher. Einen übergeordneten König haben Roma nie anerkannt. Die Selbstinszenierungen selbsternannter „Zigeuner-Könige“ bedienten mehr oder weniger geschickt die Phantasie der Nicht-Roma. Die Postulate einer Königswürde versuchten an königliche Ehrentitel anzuknüpfen, die Mitte des 17. Jahrhunderts von der königlich polnischen Kanzlei im Sinne einer indirekten Herrschaft an ausgewählte Roma-Repräsentanten vergeben wurden, damit diese alle Roma eines bestimmten Gebietes kontrollierten und vor allem im Auftrag der Krone besteuerten.

Zu den bekanntesten stammesähnlichen Großgruppierungen mit Verbreitungsgebiet in Ost- und Südosteuropa gehören die Kalderasch, traditionell Kesselflicker und Kupferschmiede, die Lowara, ursprünglich auf den Pferdehandel spezialisiert, die Ursari, früher als Bären- und Affenführer sowie Schausteller berühmt, die Tschurara, die „Siebmacher“, Rudari als Bergleute, Aurari als Goldwäscher und Machwaya mit Spezialisierung auf den Pferdehandel und später auf den Autohandel. Charakteristisch waren über Jahrhunderte hinweg Spezialisierungen auf sozioökonomische Nischen, die sich mit der industriellen Massenfertigung mehr und mehr auflösten oder den Lebenserwerb nicht mehr ausreichend sicherten.

Mit Sinti bezeichnet man die Angehörigen eines „Stammes“, der sich hauptsächlich in Mitteleuropa verbreitete und sich von sehr verschiedenen Gewerben ernährte. Das heute in Deutschland verbreitete Begriffspaar „Sinti und Roma“ ist aufgrund der zahlenmäßigen Größenordnung hier berechtigt, auch wenn Roma dann zugleich als Restkategorie wie als Oberbegriff zu verstehen ist. Das Begriffspaar kann aber auf keinen Fall beliebig auf andere Regionen Europas übertragen werden.4

Die weiteste Kategorie eines sozialen Wir-Gefühls kommt in dem Begriffspaar Rom – Gadjo (= Gadscho, fem. Gadja, pl. Gadji) zum Ausdruck. Als Gadji, „Fremde“ werden alle Nicht-Roma bezeichnet. „Roma“, schreibt der Rom Rajko Djurić, „führen zwei Leben, ein jedes mit seiner eigenen Wirklichkeit: Sie sind unter sich, wenn sie über die Straßen ziehen, irgendwo in der Nähe der Städte ihr Lager aufschlagen oder sich auch für dauernd am Rande jener übermächtigen Gadje-Gesellschaft der Nicht-Zigeuner niedergelassen haben, und sie müssen ein anderes Leben führen, bestimmt von der Notwendigkeit, immer wieder die für ihr Überleben notwendigen Kontakte zu den Gadje herzustellen. Sie sind noch immer ein Volk, und es trifft auf sie vieles von dem zu, was für andere Völker gilt, ein Volk allerdings ohne Heim und ohne Grab.“5

Opfer des Völkermords

Nach Schätzungen des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma wurden im Dritten Reich mehrere tausend Roma aus allen nationalsozialistisch besetzten Staaten Europas zur Sklavenarbeit gezwungen. In Deutschland selbst kam es 1938 nach ersten umfangreichen Deportationen zum Aufbau von Konzentrationslagern und nach Himmlers sogenanntem „Feststellungserlass“ vom 17. Oktober 1939 zu KZ-ähnlichen Sammelstellen zur Vorbereitung der Abtransporte zur Sklavenarbeit und in die Vernichtungslager. Auf der Basis der nationalsozialistischen Rassegesetze wurde planmäßig Völkermord an den europäischen Roma begangen. Genaue Zahlen über die Gesamtzahl der in den Konzentrationslagern, bei Massenerschießungen und Pogromen ermordeten Roma existieren nicht. Es muss aber von einer halben Million Menschen ausgegangen werden.6

Unter sozialistischen Verhältnissen

Wenngleich Unterschiede zwischen den sozialistischen Staaten der Nachkriegszeit bei der Behandlung der Roma-Minderheiten feststellbar sind, so kann man doch zusammenfassend sagen: In Abkehr von der nationalistischen und chauvinistischen Politik vor 1945 wurden Ende der 1940er Jahr demonstrativ verfassungsmäßig verankerte Nationalitätenrechte aufgestellt, die die Gleichberechtigung der nationalen und ethnischen Minderheiten sicher stellen sollten. Diese formalen Rechte erfuhren jedoch aufgrund fehlender politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen kaum eine praktische Umsetzung. Die Diskrepanzen zwischen Minderheitenrechten und nationalpolitischer Realität waren unübersehbar. Spätestens gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre bildete sich entgegen der sozialistischen Rhetorik eine Unter- und Überordnung der Nationalitäten in der Sozialstruktur heraus. Trotz offizieller ideologischer Tabuisierung wurden vor allem Roma Opfer einer auf allen gesellschaftlichen Ebenen stattfindenden Diskriminierung.7

Nach dem Fall der Mauern

Die Veränderungen seit Ende der 1980er Jahre haben in allen osteuropäischen Staaten neben den positiven demokratischen Entwicklungen auch zu großen innenpolitischen Problemen und schweren wirtschaftlichen Schwierigkeiten geführt. Vor allem in Rumänien und Jugoslawien hatten nationalistische Bewegungen versucht, das Macht- und Moralvakuum zu füllen. Die Roma wurden in dieser Situation mehr und mehr zum Ziel rassistischer Ausschreitungen, die in der Regel nicht von offiziellen Stellen ausgingen, sondern von nichtstaatlichen Organisationen und dem sprichwörtlichen „einfachen Mann von der Straße“. Mit den Reformprozessen in den osteuropäischen Staaten schien endlich auch die Reisefreiheit verwirklicht, eine der früheren Forderungen des Westens. Seit dem Frühjahr 1990 kam es dann tatsächlich zu einer starken Migrationsbewegung, in der viele Roma eine Chance für sich sahen, einer ökonomisch und auch menschenrechtlich immer auswegloser erscheinenden Situation zu entkommen. Während jedoch der Visumzwang für Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei rasch aufgehoben wurde, verschärften die Regierungen Westeuropas und einiger östlicher Anrainer die Einreise und Transitbestimmungen zum Beispiel für Rumänien und Bulgarien, aus denen viele Roma auszureisen suchten.

An dieser Stelle kann nicht auf die zahlreichen Konflikte in den 1990er Jahren, besonders im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, eingegangen werden, unter denen besonders auch Roma zu leiden hatten. Hier wären vor allem die bosnischen Roma, die gemeinsam mit den bosnischen Muslimen Opfer einer genozidalen Politik wurden, und ihre Verwandten im Kosovo zu nennen. Von den ehemals ca. 150.000 Angehörigen der Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter sind wohl nur noch 20 % in ihrer Heimat geblieben. Der internationalen Gemeinschaft ist es bis heute nicht gelungen, sie wirksam zu schützen, geschweige denn einen dauerhaften Minderheitenschutz in einem völkerrechtlich verbindlichen Gesamtrahmen durchzusetzen.8

Die für Frühjahr 2003 geplanten Abschiebungen von Roma nach Serbien und sogar nach Kosovo sind angesichts der aktuellen Lage in der Region menschenrechtspolitisch nicht zu verantworten. Die Belgrader Regierung unternimmt absolut nichts zur auch nur notdürftigen Reintegration abgeschobener Roma, denen ohne verwandtschaftliche Bindungen nur die Quartiersuche in Müllsiedlungen bleibt. Im Kosovo wird bis heute selbst die unmittelbare physische Existenz bedroht.

Roma heute

Das EU Accession Monitoring Program (EUMAP) wurde im Jahr 2000 zur Unterstützung einer unabhängigen Beobachtung der Osterweiterung der Europäischen Union aufgenommen. Es hat vor allem die Einhaltung der 1993 festgelegten politischen Kriterien für die Mitgliedschaft in der EU im Blick. Die Mitgliedschaft erfordert danach, dass „der Anwärterstaat die Stabilität der Institutionen erreicht hat, die Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Respekt der und Schutz für Minderheiten garantieren.“ Die EUMAP-Berichte 2002 haben die Minderheitenschutzpolitik für Roma und die Lage von Muslimen und Roma in fünf EU-Mitgliedsstaaten und zehn Kandidatenstaaten in Mittel- und Osteuropa untersucht. Dabei wird zunächst positiv festgehalten, dass in allen Ländern mit größeren Roma-Gemeinschaften nationale Aktionspläne in Kraft gesetzt wurden, um die gesellschaftlich weiterhin bestehende Diskriminierung zu bekämpfen und die fortbestehenden extrem schwierigen Lebensbedingungen zu verbessern. Die Umsetzung dieser Programme steht jedoch noch ganz am Anfang und wird sich mit den notwendigen finanziellen Aufwendungen schwierigen innenpolitischen Debatten stellen müssen.

Obgleich der Schutz der Kultur der Roma für viele zivilgesellschaftliche Roma-Organisationen herausragende Bedeutung hat, ist diese Dimension der Minderheitenpolitik bis heute in keinem Regierungsprogramm konkreter ausgearbeitet. Unbefriedigend ist auch die Beteiligung der Minderheiten an der Entwicklung, Realisierung und Evaluierung der Programme, die kein Selbstzweck ist, sondern eine entscheidende Voraussetzung für die Wirksamkeit der Programme darstellt.9 Zweifelsohne gibt es auch außerhalb des Kreises der EU-Kandidatenstaaten im jeweils nationalen wie im internationalen Rahmen Bemühungen zur Verbesserung der Situation der Roma, vor allem der Roma-Flüchtlinge. Gemessen an den Notwendigkeiten humanitärer Hilfe und vor allem struktureller Minderheitenförderung sind all diese Anstrengungen jedoch bei weitem nicht ausreichend.


Fußnoten:


  1. Wichtige Einschnitte bildeten die islamische Eroberung Persiens und Indiens (7.-11. Jahrhundert) sowie die Mongoleneinbrüche (13. Jahrhundert). Vgl. Rajko Djurić (u. a.), Ohne Heim – ohne Grab. Die Geschichte der Roma und Sinti, Berlin 2002, bes. S. 34 ff., 45 f.; Rüdiger Vossen, Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und Romantisierung. Katalog zur Ausstellung des Hamburgischen Museums für Völkerkunde, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 18 f. – Zur Sprachentwicklung vgl. Siegmund A. Wolf, Großes Wörterbuch der Zigeunersprache. Wortschatz deutscher und anderer europäischer Zigeunerdialekte, 3. Aufl., Hamburg 1993. ↩︎

  2. Vgl. Djurić (wie Anm. 1), S. 129 ff.; Vossen (wie Anm. 1), S. 55 ff. ↩︎

  3. Vossen (wie Anm. 1), S. 204 ff. ↩︎

  4. Vgl. Mirella Karpati (Hrsg.), Sinti und Roma. Gestern und Heute, Bozen, Rom (1993); Katrin Reemtsma, Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart, München 1996. ↩︎

  5. Djurić (wie Anm. 1), S. 17, vgl. auch S. 49 f. ↩︎

  6. Vgl. Romani Rose, Walter Weiss, Sinti und Roma im „Dritten Reich“. Das Programm der „Vernichtung durch Arbeit“, Göttingen, Heidelberg 1991; Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989. ↩︎

  7. Vgl. Brigitte Mihok, Ethnostratifikation im Sozialismus, aufgezeigt an den Beispielländern Ungarn und Rumänien, Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1990. ↩︎

  8. Paul Polansky, Tilman Zülch, Unter den Augen der KFOR. Massenvertreibung der Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter. (Gesellschaft für bedrohte Völker. Menschenrechtsreport 13), 7. erg. Aufl., Göttingen 2001. ↩︎

  9. Vgl. Open Society Institute: Monitoring des Minderheitenschutzes in der Europäischen Union. Die Lage der Sinti und Roma in Deutschland (dt. Ausgabe), Göttingen 2003, bes. S. 22 ff. und S. 39 ff. ↩︎