Gehört Serbien zu Europa?
Ist diese Infragestellung voreingenommene rhetorische Spitzfindigkeit, (hypothetische) produktive Skepsis oder eine auf der jüngsten Geschichte basierende zynische Potenzierung dessen, was man als politisches finis Serbiae bezeichnen könnte? Die Fragestellung suggeriert eine Dichotomie, ja eine Antinomie zwischen diesen Begriffen: Europa und Serbien.
Zwei kontrastive Profile und zwei Charaktere bilden Serbiens historisches und metahistorisches Konterfei. Eine Durchdringung von Orient und Okzident, Rom und Byzanz prägen seine kulturelle Substanz und bilden die Achse seines Wertekanons. In diesen bipolaren Orientierungswerten besteht der immerwährende Spagat Serbiens.
Tief sind die Brunnen der serbischen Vergangenheit, aus denen es seine national-religiöse Inspiration schöpft. Am 15. Juni 1389 kam es auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) zur Entscheidungsschlacht zwischen dem osmanischen und dem serbischen Heer. Trotz großer Tapferkeit war die durch Verrat in den eigenen Reihen noch beschleunigte Niederlage angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Türken nicht aufzuhalten. Der serbische Fürst Lazar wurde gefangengenommen und mit vielen seiner Krieger an der Totenbahre von Sultan Murad hingerichtet, der in der Schlacht von einem Serben getötet worden war. Das war das Ende des glorreichen, mittelalterlichen serbischen Staates und die Türkenherrschaft brach herein. Kosovo ist Judäa und Samaria für jeden Serben. Der Kosovo-Mythos muss als der grundlegende, identitätsstiftende Mythos der Serben angesehen werden.
Die irrationale Energie einer epischen, heroisch-archaischen Ethik mündet in eine christliche, eucharistisch-eschatologische Verklärung und ist Urquell der nationalen Inspiration, Chiffre und Paradigma für das Eschaton. In der epischen Dichtung liegt ein immanentes Nationalprogramm, das als ethisch-religiöse Handlungsmaxime kategorischer Imperativ für das serbische Selbstverständnis ist. Trotz der Niederlage auf dem Amselfeld sind die Serben davon überzeugt, das Abendland vor dem Islam gerettet und sich für dieses geopfert zu haben. Sie sehen sich dazu auserwählt, wie Christus für das Himmelreich zu streiten, zu leiden und zu sterben. Bei ihrer historischen Tat, der Rettung des Abendlandes vor dem Islam, seien die Serben, so will es der Mythos, vom christlichen Europa im Stich gelassen worden.
Aus diesem Mythos heraus hat Serbien eine Art Opfertrauma entwickelt, das in den letzten Jahren durch die Intervention des Westens wiederbelebt wurde: die frühzeitige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens sowie die Unterstützung der Muslime in Bosnien und der albanischen Autonomiebestrebungen im Kosovo. Die Serben haben eine besondere Sensibilität für die Tragik ihrer eigenen Geschichte. Das sprichwörtliche historia magistra vita lautet in der serbischen Erfahrung historia magistra mortis.
Das Kriegsszenario des NATO-Bombardements wurde mit abenteuerlicher politischer Semantik euphemistisch "humanitäre Intervention" genannt. Das Vokabular wurde martialischer und die Rechtfertigung prononcierter: Aus der humanitären Intervention wurde ein „bellum iustum“ und schließlich ein Angriffskrieg. Ein erwünschter Nebeneffekt war es, neue Waffensysteme für eventuelle künftige Kriege zu erproben.
Auf dem Kosovo standen sich zwei Prinzipien gegenüber: einerseits das sich auf die Aufklärung berufende westliche Prinzip einer demokratisch legitimierten Staatlichkeit, beruhend auf den universellen Menschen- und Bürgerrechten sowie angereichert durch den kategorischen Imperativ der im Westen inzwischen kulturell verinnerlichten Erinnerung an den Holocaust, und andererseits das Prinzip kollektiver Zugehörigkeit, beruhend auf dem Primat der ethnisch-religiös fundierten Nation und geheiligt vom Prinzip staatlicher Souveränität und territorialer Integrität.
Das Vernunft- und Naturrecht, das sich auf dem europäischen Kontinent vom 16. bis zum 18. Jahrhundert herausbildete, fand seine Kodifizierung in der Rechtslehre Immanuel Kants. Bei ihm heißt es: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates gewaltsam einmischen.“ Kant ist der Meinung, dass kriegerische Gewalt die ultima ratio ist. Aber das Bombardieren ist nicht zukunftsweisend, es eröffnet keine neuen Umgangsformen mit Staaten, die das Völkerrecht missachten – diese Chance, wenn es sie denn gab, ist vertan. Das selbst ermächtigte Agieren der NATO ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats führt im Prinzip zu dem Status zurück, für den Milošević die Symbolfigur ist - nämlich den Naturzustand ("bellum omnium in omnes"). Darin besteht die fatale Logik des Naturzustandes, den die NATO als Präzedenzfall geschaffen hat.
Heute ist Serbien isoliert, es wird als Land ethnischer Säuberungen angeklagt und wurde deshalb von Flugzeugen des Atlantik-Paktes bombardiert. Niemand ist objektiv, wenn er vor Bomben in Deckung gehen muss. Verständlich sind daher die serbische Verbitterung und der Stolz, der jeden Gedanken an Kapitulation von sich weist. Dennoch werden sich die Serben, trotz antiwestlichem Affekt, schon bald fragen: Wie kam es dazu, dass Serbien im Laufe von zehn Jahren nahezu alles verloren hat? Jugoslawien ist zerfallen, in Kroatien leben fast keine Serben mehr, der Krieg in Bosnien ist verloren, Makedonien unabhängig, und die Aussichten, das Kosovo zu halten, sind eher trübe. Auch Montenegro überlegt, wie es das sinkende Schiff Rest-Jugoslawien verlassen kann.
Geopolitisch und kulturgeschichtlich kann kein Zweifel bestehen, dass Serbien seit jeher organischer Bestandteil Europas ist, wenngleich es im Spannungsfeld von Orient und Okzident häufig Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen war. Die Lage an der Schnittstelle verschiedener Kulturkreise und politischer Systeme erzeugt ein wechselndes, dichotomes Verhältnis zwischen Europa und Serbien, das bald als konform und konstruktiv, dann wieder als konträr und destruktiv erlebt wird. Dieses diffizile Beziehungsgefüge wurde am Beispiel der jüngsten Kriegsereignisse sehr deutlich.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt herrschen verhärtete Fronten. Serbien befindet sich in einem desolaten Zustand von Isolierung, Depression und Werteverlust. Um so leichter fällt es den dortigen Machthabern, ein westliches Feindbild aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Die europäischen Staaten hingegen haben in einem Zeitalter der Globalisierung die Spaltung Jugoslawiens vorangetrieben und Serbien zur Projektionsfläche von allem Negativen erklärt. Solche ungesunden, wechselseitigen Projektionen und Abspaltungsmechanismen verheißen jedoch nichts Gutes für das beginnende Jahrtausend. Es ist dringend geboten, eine Integration Serbiens in Europa und einen vertrauensvollen Lebenszusammenhang wiederherzustellen. Der Dialog über aporetische Positionen in den Wertvorstellungen sollte zu einem Leitparadigma werden. Das Paradox der wechselseitigen Irrationalität kann nur durch kooperatives und um Verständnis bemühtes Zusammenwirken aufgehoben werden, welches - so bleibt zu hoffen - in eine taugliche Koexistenz münden wird. Wir stehen nicht am "Ende der Geschichte", sondern an einem historischen Wendepunkt.