Religiös-kirchlicher Wandel in Mittel- und Osteuropa – ein Überblick
In allen Ländern Ost- und Mitteleuropas, außer in Polen, führte die Herrschaft des Kommunismus zu einer Schwächung der kirchlichen Bindungen in der Bevölkerung und zu einem Rückgang der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion und Kirche. Dabei wirkte sich die Herrschaft des Kommunismus auf die Stabilität und Vitalität von Religion und Kirche jedoch sehr unterschiedlich aus. Tabelle 1 zeigt, in welch unterschiedlichem Ausmaß die einzelnen Länder und innerhalb der Länder die unterschiedlichen Konfessionen von dem Prozess der Entkirchlichung betroffen waren. Zur Erklärung dieser regionalen und konfessionsspezifischen Differenzen sei hier auf vier beeinflussende Faktoren hingewiesen.
Tabelle 1:
Veränderung der Konfessionsanteile während der Zeit der kommunistischen Herrschaft
Die wichtigste Ursache für den Rückgang der kirchlichen Bindung sowie für die Entstehung regionaler Differenzen in diesem Prozess bildete zweifellos die politische Repression, der die Religionsangehörigen und religiösen Gemeinschaften während der kommunistischen Ära ausgesetzt waren. In Ländern, in denen der Repressionsgrad hoch war (Ostdeutschland, Tschechoslowakei, Sowjetrepubliken), fiel auch der Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen besonders drastisch aus. In Ländern, in denen die politische Repression nicht so stark war, wie etwa in Ungarn, Polen oder Jugoslawien, konnten die Religionsgemeinschaften und Kirchen ihren Mitgliederbestand weitaus besser bewahren.
Eine weitere wichtige Ursache für den Entkirchlichungsprozess in den mittelosteuropäischen Ländern, aber auch für Grenzen dieses Prozesses liegt in der Modernisierung begründet, die sich in den Ländern Ostmitteleuropas seit dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichem Maße vollzog. Viele der vor allem agrarisch geprägten Länder durchliefen in den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft staatlich forcierte Prozesse der Industrialisierung, der Mobilisierung, Urbanisierung und Rationalisierung. Das Wohlstandsniveau erhöhte sich ebenso wie das Bildungsniveau oder die Frauenerwerbsquote. Diese Modernisierungsprozesse hatten einen unverkennbaren Einfluss auf das religiös-kirchliche Feld. Aufgrund der Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit ging der Einfluss der Familie auf die Weitergabe des christlichen Glaubens an die Kinder deutlich zurück. Die Erhöhung des Bildungsniveaus trug zur Distanzierung von Inhalten des Glaubens bei: Höhergebildete glauben durchschnittlich seltener an Gott als weniger hoch Gebildete (nachgewiesen für Ungarn, Bulgarien und die DDR). Besonders einschneidend waren die Wirkungen der regionalen Mobilität: In Ländern wie Bulgarien oder Ungarn, in denen die Landflucht besonders stark war, wurde mit der Zerstörung der traditionellen dörflichen Milieus den Kirchen eine wichtige sozialstrukturelle Stütze genommen. In Polen hingegen, wo die Kollektivierung der Landwirtschaft misslang, blieben die traditionellen ländlichen Milieus erhalten und die Kirche konnte sich auf sie stützen.
Ein weiterer Faktor, der den Grad der Entkirchlichung in starkem Maße beeinflusst hat, ist die Konfession. Im Großen und Ganzen lässt sich feststellen, dass es der katholischen Kirche von allen Konfessionen am besten gelungen ist, ihren Mitgliederbestand zu bewahren, den evangelischen Kirchen dagegen am schlechtesten. Die Orthodoxe Kirche erwies sich in den sowjetischen Republiken, insbesondere in Russland, Weißrussland und in der Ukraine, ebenfalls nicht als besonders resistent.
Eine auffällige Stärkung erfuhren die Kirchen auch dort, wo sie eine besondere Nähe zu nationalen Ideen besaßen. Insbesondere dort, wo die Kirche die Identität von Nationen repräsentierte, die nicht zentral, sondern jenseits der politischen Machtzentren gelegen waren, konnte die nationale Idee zur Stärkung der Kirchen beitragen. So waren die Verluste der Orthodoxen Kirche in Russland weitaus einschneidender als die der Orthodoxen Kirche in der Ukraine oder in Weißrussland oder gar in Rumänien oder in Serbien. In Ländern wie Serbien, Kroatien, Slowenien, Bulgarien oder Polen diente die Kirche teilweise seit Jahrhunderten als Repräsentantin und Bewahrerin der nationalen Identität gegenüber der Herrschaft fremder Mächte.
Im Großen und Ganzen lässt sich sagen, dass die Kirche dort besonders stabil war, wo sie imstande war, mit den Interessen des Volkes, seien es soziale, politische oder nationale Interessen, eine enge Verbindung einzugehen, wo sie nicht auf der Seite der Herrschenden, sondern auf der des Volkes stand. Natürlich lassen sich neben den vier genannten weitere Faktoren ausfindig machen, die die Widerstandsfähigkeit der Kirchen während der sozialistischen Ära beeinflusst haben, etwa den, welche politische Position sie im Zweiten Weltkrieg einnahmen, wie stark während der sozialistischen Ära die Verbindung zum Ausland gewesen ist, wie eng ihre Kooperation mit dem sozialistischen Staat war, ob es sich um kleine oder große Religionsgemeinschaften handelte oder ob sich eine Religionsgemeinschaft in einer religiös pluralen Situation befand oder das religiöse Weltanschauungsmonopol besaß. Mit den angegebenen Faktoren sind jedoch unzweifelhaft wichtige Ursachen benannt, die zur Erklärung der regionalen Differenzen im Ausmaß der Entkirchlichung und Säkularisierung in den postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas beizutragen vermögen.
Veränderungen der religiösen Landschaft nach dem Umbruch von 1989/90
In fast allen ehemals kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas kam es unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einem beachtlichen Aufschwung von Religiosität und Kirchlichkeit. Ausnahmen bildeten Polen, wo Religiosität und Kirchlichkeit schon vor 1989 außergewöhnlich hoch waren und sich unmittelbar nach 1989 ein leichter Rückgang der Kennziffern vollzog, und Ostdeutschland, wo die Kirche zwar eine auffällige Rolle im Prozess des gesellschaftlichen Umbruchs spielte und daher unmittelbar nach dem Umbruch zunächst relativ hohes Vertrauen genoss, dann aber innerhalb kurzer Zeit immer mehr an Sympathien verlor.
Auch wenn sich das religiöse Wachstum für die Jahre unmittelbar nach 1989 in vielen Ländern Mittel- und Osteuropas gut belegen lässt, so ist doch noch nicht klar, wie sich die Entwicklung in der Zeit danach vollzog. Kam es in dieser Zeit zu einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Dimensionen von Religion, etwa zu einem Auseinandertreten von individueller und institutionell verankerter Religiosität, oder zu einer Differenzierung zwischen traditionellen und neueren Formen der Religion? Zur Beantwortung dieser Frage scheint es sinnvoll zu sein, unterschiedliche religiöse Dimensionen zu unterscheiden und zu untersuchen, wie diese Dimensionen untereinander zusammenhängen. Für die Analyse der westlichen religiösen Entwicklungen unterscheidet man in der Regel zwischen Kirchlichkeit und Religiosität. Während erstere in der Regel an der Kirchgangshäufigkeit abgelesen wird, dient als Indikator für Religiosität zumeist entweder der Glaube an Gott oder die Selbsteinschätzung als religiös. In den Ländern Mittel- und Osteuropas lassen sich jedoch noch zwei weitere religiöse Dimensionen ausmachen, die die Veränderungen auf dem religiösen Feld beeinflussen: einmal eine im Westen nur selten anzutreffende, wenn auch nicht völlig unbekannte Form entindividualisierter Kirchlichkeit, die sich in einem hohen Vertrauen in die Kirche bei gleichzeitiger persönlicher Distanz zu Religion und Kirche manifestiert. Außerdem zeigt sich in den mittel- und osteuropäischen Ländern eine weite Verbreitung von Magieglauben und Okkultismus. Auch diese Phänomene sind natürlich für den westeuropäischen Raum belegt, scheinen aber im Osten Europas quantitativ bedeutsamer zu sein als im Westen.
Die hier unterschiedenen vier religiösen Dimensionen lauten also:
- Persönliche Religiosität, hier vor allem ausgedrückt in den beiden Indikatoren „Glaube an Gott“ und „Selbsteinschätzung als religiös“;
- Persönliche Kirchlichkeit, hier erfasst durch die Variable „Gottesdienstbesuch“;
- Unpersönliche Kirchlichkeit, hier erfasst durch die Indikatoren „Vertrauen in die Kirche“ und geringe Beteiligung am kirchlichen Leben, zum Beispiel am Gottesdienst;
- Okkultismus, hier festgemacht an den Variablen „Glücksbringer“, „Wunderheiler“, „Zukunftsvorhersage“, „Astrologie“.
Wie entwickelten sich diese unterschiedlichen religiösen Dimensionen nach 1989 und wie verhalten sie sich zueinander?
Unterschiedliche Dimensionen von Religion
1. Persönliche Religiosität: Betrachtet man als Beispiel für die Entwicklung der persönlichen Religiosität Slowenien, so muss man feststellen, dass zwischen 1988 und 1992 die religiöse Selbsteinschätzung angestiegen ist. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Gruppe derer, die sich als nicht religiös definieren, betrachtet. Der Anteil dieser Gruppe ging von 30,7% im Jahr 1988 auf 23,2% im Jahr 1992 zurück.
Werfen wir einen Blick auf die religiöse Entwicklung in der Tschechoslowakei, so können wir dieselbe Tendenz beobachten. Auch dort stieg der Grad der Religiosität nach 1989 deutlich an: Gaben in den achtziger Jahren gleichmäßig 22% bis 23% an, an Gott zu glauben, so waren es 1990 bereits 29% und 1991 sogar 34%, die das taten. Auch in Russland belegen Untersuchungen eine ähnliche Entwicklung: Waren es 1990 noch 29%, die behaupteten, an Gott zu glauben, so waren es 1996 mit 47% fast doppelt so viele.
Auch in Ungarn stieg der Anteil derer, die sich als religiös bezeichneten, in der Zeit nach 1989 deutlich an (vgl. Tabelle 2). Dabei wuchs nicht nur der Prozentsatz derer, die sich als religiös in ihrer eigenen Art und Weise definierten, sondern auch der Anteil derer, die sich als religiös entsprechend den Lehren der Kirche bezeichneten. Der Anteil derjenigen, die sich als nicht religiös verstanden, ging hingegen zwischen 1988 und 1993 um etwa 13 Prozentpunkte zurück.
Tabelle 2: Selbsteinschätzung als religiös in Ungarn (in %)
2. Persönliche Kirchlichkeit: In Slowenien zeigt sich zu Beginn der 90er Jahre eine deutliche Erhöhung der Kirchgangshäufigkeit: Waren es 1988 nur 12,4% der Bevölkerung, die regelmäßig jede Woche zum Gottesdienst gingen, so war der Anteil derer, die dies von sich behaupteten, vier Jahre später auf fast das Doppelte gestiegen.
Doch nicht in allen Ländern stieg der Gottesdienstbesuch so deutlich an wie in Slowenien. In Russland zum Beispiel nahm der Anteil derer, die mindestens einmal im Monat den Gottesdienst besuchen, kaum zu: von 6% im Jahr 1991 auf 7% 1996. In Ungarn ging die Kirchgangsrate zwischen 1991 und 1996 sogar zurück; ebenso sank die Gottesdienstbeteiligung in Polen. Die Frage, die sich hier ergibt, lautet natürlich, ob sich damit ein Auseinanderdriften von persönlicher Religiosität und Kirchlichkeit abzeichnet. Diese Frage soll unten ausführlich behandelt werden. Zunächst soll jedoch auf die Entwicklung der anderen beiden religiösen Dimensionen eingegangen werden.
3. Unpersönliche Kirchlichkeit: Bei der Untersuchung der Verbreitung unpersönlicher Kirchlichkeitsformen lässt sich für die orthodoxen Länder konstatieren, dass sich in den Jahren nach 1989 in der Tat eine Form entindividualisierter Kirchlichkeit herausgebildet hat, die so für die westeuropäischen Länder nicht typisch ist. In der Zeit unmittelbar nach 1989 zeigten Befragungen, dass in vielen orthodoxen Ländern die individuelle Religiosität deutlich geringer war als in einer Vielzahl westeuropäischer Länder, zugleich aber das Vertrauen in die Kirche weitaus höher. Dieses hohe Vertrauen in die Kirche war aber nur schwach verbunden mit individueller Religiosität und mit individueller Kirchlichkeit. Am kirchlichen Leben nahm der Einzelne kaum teil, und auch sonst verband ihn persönlich wenig mit der Kirche. Wie Tabelle 3 zeigt, lag das Vertrauen in die Kirche im Jahr 1991 in Russland mit Abstand höher als in allen anderen aufgeführten westeuropäischen Ländern. In Russland sagten 75% der Befragten von sich, dass sie Vertrauen in die Kirche hätten, in Westdeutschland nur 28%. Das Vertrauen in die Kirche überstieg in Russland sogar die Vertrauensrate von Irland, wo nur 46% bekannten, Vertrauen in die Kirche zu haben.
Tabelle 3: Vertrauen in die Kirche und in religiöse Organisationen in ausgesuchten europäischen Ländern 1991 (in %)
Vergleicht man hingegen die Frequenz des durchschnittlichen Gottesdienstbesuches in den einzelnen Ländern, dann liegt Russland mit einem Anteil von 5,5% Gottesdienstbesuchern pro Monat noch unter dem stark entkirchlichten Ostdeutschland (7%) und deutlich unter Westdeutschland (24%) und Großbritannien (21%). Auch wenn man einen Blick auf die Gebetshäufigkeit wirft, nimmt Russland wiederum in ganz Europa den niedrigsten Rangplatz ein. Das extrem hohe Vertrauen in die Kirche geht also nicht einher mit einem hohen Niveau kirchlicher oder religiöser Praxis. Wenn sich die Russen an die Kirche wenden, so tun sie das nicht aufgrund individueller religiöser oder kirchlicher Bedürfnisse. Ihre Zuneigung zur Kirche beruht vielmehr auf ihrem Wunsch, die Kirche möge als integrativer Faktor wirken, gesellschaftliche Werte vermitteln, soziale Aufgaben erfüllen und der Gesellschaft im ganzen die normative Grundlage vermitteln.
Auch in der Ukraine stoßen wir auf das Muster der entindividualisierten Kirchlichkeit. Auch dort ist der Anteil derer, die der Kirche vertrauen, so hoch wie in Russland (75%). Gleichzeitig aber wird der individuelle Bedarf an Religion und Kirche eher als niedrig eingeschätzt. Der Anteil derer, die meinten, Religion sei nützlich für die Gesellschaft, überstieg deutlich den Anteil derer, die Religion für sich selbst persönlich als hilfreich ansahen.
Betrachtet man die Entwicklung der Vertrauenswerte in der Zeit nach 1989/90, muss man allerdings feststellen, dass das Vertrauen in die Kirche seit der Zeit unmittelbar nach dem Umbruch in vielen Ländern Ostmitteleuropas deutlich rückläufig ist. In Russland zum Beispiel fiel der Anteil derer, die meinten, Religion sei für das Regieren des Landes unverzichtbar, zwischen 1988 und 1991 von 44% auf 21%. Waren es 1988 noch 74%, die dafür plädierten, dass die Kirche das gesellschaftliche Leben beeinflusst, so waren es 1991 nur noch 48%. Besonders dramatisch fiel der Rückgang des Vertrauens in die Kirche in Polen aus. Dort schrumpfte der Prozentsatz derer, die der Kirche vertrauen, von 87,8% im Jahre 1989 auf 40,5% im Jahre 1994 (vgl. Schaubild 1).
Schaubild 1: Vertrauen in die Kirche in Polen (in %)
Betrachtet man diese Veränderungen in der Einstellung zur Kirche, so gewinnt man den Eindruck, dass Kirche insbesondere in politischen Umbruchs- und Krisensituationen eine herausragende Rolle zu spielen vermag. In diesen Situationen bildet die Wahrnehmung religiöser und politischer Funktionen eine Einheit, so dass die Kirchen gesamtgesellschaftliche Relevanz erlangen können. Dieser enge Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Funktionserfüllung löst sich mit der Entstehung funktional differenzierter Gesellschaftsverhältnisse, in denen das Politische nicht mehr die gesamte Gesellschaft dominiert, sondern nur noch ein Bereich neben anderen gesellschaftlichen Teilbereichen darstellt, auf, so dass Kirche und Religion ihre herausragende Funktion verlieren.
4. Okkultismus: Neben der Form entindividualisierter Kirchlichkeit fällt auf dem religiösen Feld für die mittelosteuropäischen Staaten noch eine weitere Besonderheit auf: das hohe Niveau der Bejahung abergläubischer und okkulter Vorstellungen. In vielen Staaten lässt sich ein auffallend hohes Niveau des Glaubens an Wunderheiler, Glücksbringer, an die Möglichkeit die Zukunft vorherzusehen und an den Einfluss der Sterne auf das menschliche Leben feststellen. In Ostdeutschland zum Beispiel liegen alle religiös-kirchlichen Indikatoren deutlich niedriger als in Westdeutschland. Hinsichtlich okkulter Aussagen verschwinden jedoch die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland. Wenn es um den Glauben an Wunderheiler, Glücksbringer, Zukunftsvorhersage oder Astrologie geht, stimmen die Ostdeutschen den entsprechenden Aussagen in etwa genauso häufig zu wie die Westdeutschen.
Zunehmende Individualisierung im religiösen Bereich
Will man den Wandel des Verhältnisses der unterschiedlichen religiösen Dimensionen nach 1989 kennzeichnen, dann lässt sich feststellen, dass sich der Zusammenhang zwischen persönlicher Religiosität und persönlicher Kirchlichkeit abschwächt, wenn er auch nicht verloren geht. In Russland zum Beispiel wächst die Zahl der Gläubigen seit 1990 deutlich, wenn auch mit einer leichten Abschwächung in den Jahren zwischen 1992 und 1996. Von einem Anstieg des Gottesdienstbesuches lässt sich dagegen kaum sprechen. Er blieb in den neunziger Jahren bei etwa 6 bis 7% (mindestens einmal monatlich). In der Ukraine nimmt der Anteil derer, die sich als religiös definieren, zwischen 1993 und 1996 um ein Drittel zu. Er bewegt sich von 42% auf 56%. Die Zahl der Religionsgemeinschaften als Indikator für Kirchlichkeit wächst zwischen 1993 und 1996 nur halb so schnell: um ein Sechstel. In Ungarn ging der Gottesdienstbesuch von 1991 auf 1996 deutlich zurück. Betrachtet man hingegen die Entwicklung der Religiosität, so ist von 1991 bis 1996 zwar ebenfalls ein Rückgang zu verzeichnen, allerdings ein deutlich geringerer, und von 1996 bis 1998 stieg sie sogar an. In Polen ist das Auseinandergehen von individueller Religiosität und Kirchlichkeit besonders deutlich zu beobachten. Dort sank die Kirchgangshäufigkeit auf einer Skala von 0 bis 54 von 37 im Jahre 1990 auf 33 im Jahre 1995. Gleichzeitig blieb der Gottesglaube - hier als Indikator für Religiosität benutzt - zwischen 1989 und 1994 trotz beachtlicher Schwankungen insgesamt jedoch gleich, ja, nach einem deutlichen Einbruch unmittelbar nach 1989 stieg er sogar auf einen höheren Wert als zuvor an.
Die Differenzierung von Religiosität und Kirchlichkeit, wie wir sie in Polen beobachten können, bildet sich auch darin ab, dass die Menschen, wenn man sie danach fragt, selbst sagen, dass jeder über sein Verhältnis zu Religion und Kirche selbst entscheiden und sich nicht von der Kirche abhängig machen soll. Stellt man die Antwortvorgaben „Jeder soll selbst entscheiden“ und „Jeder soll der Kirche gehorchen“ einander gegenüber, so geben im katholischen Polen 67,8% an, jeder solle über die Form seiner Glaubensausübung selbst entscheiden, nur 29,8% meinen, man solle sich darin nach der Kirche richten. Fragt man danach, wie man sich in Fragen der Politik, der Moral, der Sexualität, also in nichtreligiösen Bereichen, verhalten soll, so ist der Anteil derer, die für die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen eintreten und die Unterordnung unter die Entscheidungen der Kirche ablehnen, noch höher.
Auch wenn sich ein Prozess der Individualisierung auf dem religiösen Feld in den ehemals kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas abzeichnet - hier vor allem nachgewiesen für die mitteleuropäischen Länder -, so muss man doch auch die Grenzen dieses Prozesses sehen. Die Differenzierung von Religiosität und Kirchlichkeit bedeutet keine Abkopplung der einen von der anderen Dimension. Vielmehr kann man anhand eines Ländervergleichs sehen, dass dort, wo kirchliche Normen und Verhaltensvorschriften stark beachtet werden, auch die Religiosität hoch ist, und dass dort, wo die ersteren weniger stark akzeptiert sind, auch Letztere an Bedeutung einbüßt. In Polen sind Kirchlichkeit und Religiosität gleichermaßen hoch, in Ungarn liegen beide Dimensionen niedriger, und in Ostdeutschland geht mit der noch stärkeren Abschwächung der einen auch die andere Dimension noch deutlicher zurück. Auch wenn sich der Zusammenhang von Religiosität und Kirchlichkeit insgesamt gesehen abschwächt, so löst er sich doch nicht auf.
Der partiellen Individualisierung des Religiösen, wie sie sich in den Ländern Ostmitteleuropas beobachten lässt, entspricht ein weiteres Phänomen: das Aufkommen kleinerer religiöser Sekten und Gruppierungen in diesen Ländern. Gedacht ist dabei vor allem an die neuen religiösen Bewegungen wie Scientology, Hare Krishna, Osho, Vereinigungskirche, aber auch an die Ausbreitung der Siebenten-Tags-Adventisten, der Pfingstler und anderer protestantischer Sondergemeinschaften. Ob die nichttraditionellen religiösen Bewegungen und Gruppierungen aus dem westlichen Ausland stammen oder autochthon sind, in jedem Falle stellen sie eine ernsthafte Konkurrenz für die einheimischen Nationalkirchen dar, die auf die neuen Konkurrenten häufig durch Ausgrenzungs- und Delegitimierungsversuche reagieren. Insbesondere durch Einflussnahme auf die Gesetzgebung versuchen die Nationalkirchen, ihre Vorzugsstellung zu sichern und die Wirkungsmöglichkeiten der kleinen Religionsgemeinschaften zu beschränken. Diese Gruppierungen fallen statistisch zwar bislang kaum ins Gewicht, dennoch sind sie in vielen Ländern zu einem Streitfall der öffentlichen Debatten geworden. Während die einen ihnen vorwerfen, sie wären psychisch, politisch und wirtschaftlich gefährlich, sie seien antinational ausgerichtet, würden von westlichen Organisationen Geld und Know-how erhalten und die eigene Nation verraten, betonen die anderen, dass die neuen kleinen religiösen Gruppierungen zu Unrecht verdächtigt würden, dass der Staat die Pflicht habe, die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu schützen und keine Religion zu benachteiligen, und dass die großen Nationalkirchen die kleinen religiösen Gemeinschaften nur diffamierten, um ihr Weltanschauungsmonopol zu bewahren.
Die gesellschaftliche Situation von Religion und Kirche hat sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums dramatisch verändert. Ihr Stellenwert hat sich in fast allen mittel- und osteuropäischen Ländern unübersehbar erhöht. Ob sich nach dem Wiederaufleben von Religion und Kirche wieder Prozesse der Entkirchlichung durchsetzen, ob es mit zunehmender Modernisierung zu einer Individualisierung auf dem religiösen Feld kommt oder ob Religion und Kirche stark miteinander verbunden bleiben, lässt sich jetzt noch nicht eindeutig abschätzen. Vieles spricht dafür, dass sich nach dem einheitlichen Wiederaufschwung von Religion und Kirche in ganz Mittel- und Osteuropa die Differenzen zwischen den Ländern verstärken und dass Prozesse der religiösen Individualisierung in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern zunehmend an Bedeutung gewinnen.