Die Russische Orthodoxe Kirche an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

aus OWEP 2/2000  •  von Marina Schischowa

Marina Schischowa ist Mitarbeiterin des Orthodoxen Instituts für Missiologie, Ökumene und neue religiöse Bewegungen in St. Petersburg und Geschäftsführerin des ökumenischen Instituts „Apostolische Stadt – Nevskij Prospekt“.

Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) – die größte der 15 autokephalen orthodoxen Kirchen – befindet sich heute, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, im Zustand des Wachstums, der eine neue Blüte des kirchlichen Lebens in Russland erwarten lässt. Gleichzeitig droht jedoch der Prozess der Säkularisierung, die in verschiedenen Ländern der Erde beständig zunimmt, auch die religiöse Wiedergeburt Russlands zu bremsen. Wenig tröstlich, sondern eher bedrückend ist das Vorhandensein fundamentalistischer Tendenzen in verschiedenen christlichen und nicht-christlichen Religionsgemeinschaften, die nur auf den ersten Blick Zeugen eines religiösen Enthusiasmus sind. In bedeutendem Maße haben sie nicht religiöse, sondern ideologische und politische Wurzeln. Die Darstellung der Position der Russischen Orthodoxen Kirche im heutigen Russland erfordert daher eine gründliche und detaillierte Analyse der religiösen Prozesse.

Die tausendjährige Geschichte der ROK kennt verschiedene Perioden: Phasen der Blüte und der Zerstörung, des Triumphes und des Leidens, der Krankheit und der Wiedergeburt. Die Orthodoxie in Russland - das ist nicht nur die Kirche als Institution, die administrative Struktur der Kirche, die Geistlichkeit, die Liturgie, die Sakramente, die Spiritualität, das Mönchtum. Die Orthodoxie in Russland - das ist eine tausendjährige Kultur, die die Menschen geprägt hat. Viele von ihnen betrachten die Heiligen als ihr Ideal. Die Orthodoxie - das ist die Tradition, die es ermöglicht, die Liturgie mit dem Herzen aufzunehmen und zu bewahren. Die Orthodoxie - das ist eine Kultur und Spiritualität, zu deren grundlegenden Werten die Demut gehört.

Die offizielle Bezeichnung „Russische Orthodoxe Kirche“ entspricht streng genommen nicht ganz den Tatsachen. Die russische Kirche umfasst viele Nationen. Zu ihr gehören nicht nur Russen, Ukrainer und Weißrussen - also slawische Bevölkerungsgruppen - sondern auch Mordwinen, Tschuwaschen, Moldawier, Esten und viele andere Nationen, die auf dem Territorium Russlands vor 1917 leben. Zutreffender wäre es, von der „Orthodoxen Kirche in Russland“ oder dem Moskauer Patriarchat zu sprechen. Heute gibt es auf dem Territorium der Russischen Föderation 70 Eparchien; mit Berücksichtigung der Nachbarländer (Ukraine, Weißrussland, Moldova und andere Länder der früheren UdSSR) wie auch des weiteren Auslands (Eparchien in Europa und Amerika) umfasst die ROK derzeit 127 Eparchien. Zum Klerus gehören 151 Bischöfe, 17.500 Priester und etwa 2.300 Diakone. Die Zahl der Pfarreien beträgt inzwischen über 19.000. Auf dem Territorium Russlands gibt es 299 orthodoxe Klöster (151 Männer- und 148 Frauenklöster). Auch die Zahl der geistlichen Lehranstalten hat sich erhöht: Es gibt heute 5 Geistliche Akademien, 26 Geistliche Seminare, 29 Geistliche Lehranstalten, 1 Theologisches Institut, 2 orthodoxe Universitäten sowie eine ganze Reihe von Pastoralkursen, Chorleiter-Schulen und Lehrstätten für Ikonenmaler.1 Bei diesen statistischen Daten fällt auf, dass die Zahl der Pfarreien die Zahl der Priester um 1.500 übersteigt.

In den sieben Jahrzehnten nach 1917 konnte die herrschende atheistische Ideologie die Kirche zwar nicht zerstören (wie z.B. in Albanien), doch sie hat diese erheblich geschwächt. Die Mehrheit der Menschen in den letzten zwei, drei Generationen der UdSSR wuchs ohne Glauben auf. Deshalb konnte die ersehnte, für die Mehrheit dennoch unerwartete Liberalisierung nicht sofort zu einer massenhaften religiösen Bekehrung führen. Man sollte dabei nicht vergessen, dass es schon in den 60er und 70er Jahren – insbesondere unter der Intelligenz und im studentischen Umfeld – eine Welle von Bekehrungen zur Kirche gab. Eine Bewertung der gegenwärtigen Lage der ROK muss berücksichtigen, dass jene Bekenntnisfreiheit, die wir heute in Russland haben, nicht nur dank der revolutionären politischen Veränderungen in unserer Gesellschaft im Jahr 1991 gewonnen wurde. Sie wurde vorbereitet und reifte durch sehr wichtige, wenn auch von außen kaum wahrnehmbare Prozesse innerhalb der Kirche (im Bereich der theologischen Ausbildung und im Bereich der Pastoral). Ganz allmählich nahm die ROK wieder einen Raum im Bewusstsein der Gesellschaft ein. Bis 1988 war das von außen kaum zu bemerken. Aber spätestens mit den Feiern zum tausendjährigen Jubiläum der Taufe der Kiewer Rus‘ wurde dies offensichtlich.

Festigung der gesellschaftlichen Position

Nach 1991, als die kommunistische Partei ihre Macht verlor, entstand eine grundsätzlich neue Lage für das religiöse Leben des Landes, die allgemein als „religiöse Wiedergeburt“ bezeichnet wird. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zur Kirche ist heute insgesamt wohlwollend. Es gibt eine Vielzahl von Anzeichen dafür, dass die Regierung, das Parlament und die föderalen und lokalen Organe der Kirche ihre Aufmerksamkeit schenken. Es genügt darauf zu verweisen, dass der Patriarch von Moskau und ganz Russland Aleksij II. zur Amtseinführung von Präsident Jelzin eingeladen wurde und auch acht Jahre später, am 31. Dezember 1999, an der Übergabe der Amtsvollmachten von Jelzin auf den amtierenden Präsidenten Vladimir Putin teilnahm, der sich den Segen des Patriarchen erteilen ließ. Viele fragten, ob dies nicht der Verfassung widerspreche, insofern der Staat in der Verfassung als weltlich bezeichnet wird. Der Patriarch und die Mitglieder des Synods betonen jedoch immer wieder, dass die Kirche nicht beabsichtige eine Staatskirche zu werden.

Es ist interessant, dass in allen soziologischen Umfragen, die die Einstellung der Bevölkerung zu den Parteien, zur Regierung und zu gesellschaftlichen Organisationen erheben, die Kirche das größte Vertrauen genießt und auch der Patriarch persönlich in dieser Hinsicht an erster Stelle vor allen Politikern und gesellschaftlichen Funktionären steht. Dies ist bemerkenswert, doch es wäre ein Fehlschluss zu meinen, innerhalb der Bevölkerung bildeten die Gläubigen oder zumindest diejenigen, die mit der Kirche sympathisieren, eine Mehrheit. In diesen Umfragen spiegelt sich vielmehr die große Enttäuschung über die politischen Institutionen wider sowie jene Hoffnungslosigkeit, die heute breite Schichten der Bevölkerung erfasst hat.

Was die Religiosität der Menschen betrifft, gibt es unterschiedliche soziologische Daten. Es gibt zum Beispiel eine Statistik, der zufolge nur 11,6 % der russischen Bürger die Religion als einen wichtigen Bestandteil ihres Lebens betrachten; 31,3 % der Befragten hielten sie für einigermaßen wichtig; 33,7 % der russischen Staatsbürger hielten die Religion für unwichtig und 19,6 % für völlig unwichtig; 3,7 % waren unentschieden.2 Es gibt auch weniger tröstliche Statistiken, denen zufolge die Zahl der praktizierenden Christen aller Konfessionen kaum mehr als 2 % der Bevölkerung beträgt.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Religiosität der Jugend. Heute beenden diejenigen die Schule, die erst nach dem Fall des Atheismus als herrschender Ideologie in die Schule gekommen sind. Man kann zwar nicht sagen, dass diese Jugend kirchlich ist, aber in ihrer Mehrheit steht sie der Kirche zumindest nicht feindlich gegenüber, wie dies in den 30er Jahren der Fall war. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1997, bei der knapp 4.000 junge Menschen im Alter von 17 bis 31 Jahren u.a. nach ihrer Einstellung zur Religion befragt wurden, zeigt, dass die Weltanschauung der Jugend eklektisch, oberflächlich und schwankend ist. Ihre Religiosität ist eher potenziell und trägt einen konformistischen Charakter. Für Jugendliche ist der Wunsch charakteristisch, dass sie wie alle sein wollen, und das bedeutet, sich als Gläubiger, als Orthodoxer zu bezeichnen, die kirchlichen Feiertage zu begehen, zu heiraten, die Kinder zu taufen. Diese Daten bieten jedoch keine ausreichende Grundlage für die Auffassung, dass die Jugend im Ernst beabsichtige, sich dem Glauben und der Kirche zuzuwenden. Dennoch deuten sie darauf hin, dass es unter den Jugendlichen inzwischen eine Neigung zur Religion gibt, die die frühere Orientierung am Atheismus überwiegt. Das bedeutet, dass die junge Generation, die an der Schwelle des 21. Jahrhunderts ins Erwachsenenleben eintritt, empfänglicher und loyaler gegenüber der Religion ist.

Theologische Ausbildung und Wissenschaft

Als einer der Indikatoren für die Religiosität und die Kirchlichkeit der Jugend kann das Interesse der jungen Menschen dienen, in den Dienst der Kirche zu treten und eine theologische Ausbildung zu absolvieren. In den letzten Jahren ist die Zahl der kirchlichen Hochschulen erheblich angewachsen. Das Problem, für diese Schulen entsprechend qualifizierte Professoren und Dozenten zu finden, ist sehr groß. Mehrheitlich sind die Dozenten Priester, die zugleich in Pfarreien tätig sind. Diese fromme Tradition stellt zusammen mit der ökonomischen Krise ein schwerwiegendes Hindernis für die Gewinnung gut ausgebildeter junger Dozenten dar. Die unsichere materielle Lage der Hochschullehrer stößt die Jugend ab und trägt dazu bei, dass sie den Pfarrdienst der akademischen Karriere vorzieht. Auch die Tatsache, dass man eine theologische Ausbildung nur im Rahmen der kirchlichen Hochschulen erhalten kann, spielt eine Rolle, insofern die Dozenten der kirchlichen Hochschulen vom Staat nicht als Wissenschaftler und Professoren anerkannt werden.

Die Gründe für die Krise der theologischen Bildung sind verständlich. Die Kirchenleitung bemüht sich um Erneuerung und Durchführung von Reformen. Gemäß einer im Jahr 1998 vom Heiligen Synod beschlossenen Reform sollen die Seminare zu Hochschulen entwickelt werden und die Akademien für die Ausbildung der Professoren und Dozenten zuständig sein. Es gibt auch Versuche theologische Fakultäten für Laien zu gründen: in Moskau das Tichon-Institut, die Orthodoxe Universität, die Alexander-Men‘-Universität, das Biblisch-Theologische Institut. Auch das Russische Christliche Geisteswissenschaftliche Institut in St. Petersburg ist hier zu erwähnen, das von der Orthodoxen Geistlichen Akademie, der Akademie der Wissenschaften und der Akademie für Bildung gegründet wurde. Dieses Institut vermittelt auf christlicher Basis eine geisteswissenschaftliche Ausbildung (Philosophie, Philologie, Psychologie, Kunstwissenschaft, Religionswissenschaft) und bietet auch ein theologisch-pädagogisches Programm an.

Die theologische Ausbildung wurde in Russland immer in kirchlichen Lehranstalten vermittelt. Im Unterschied zu Westeuropa gab es an russischen Universitäten keine theologischen Fakultäten. Die religiöse Wiedergeburt in Russland am Ende des 20. Jahrhunderts lässt die Frage aufkommen, ob es notwendig ist theologische Fakultäten an weltlichen Hochschulen zu gründen. Es geht um die Entwicklung neuer Formen der theologischen Ausbildung. Die große Aufgabe der religiösen Bildung und Katechese erfordert entsprechende Spezialisten. Die grundlegende Aufgabe der geistlichen Lehranstalten in Russland wird noch für viele Jahre die Ausbildung des Klerus sein. Der Mangel an Priestern kann sicher ausgeglichen werden, jedoch nicht auf die Schnelle. Schon heute gibt es mehr als tausend vakante Pfarreien und die weiterhin wachsende Zahl der Pfarreien erfordert, dass die Geistlichen Seminare auch in Zukunft all ihre Kräfte auf die Ausbildung der Priester konzentrieren. Die Hauptaufgabe der Geistlichen Akademien wird die Ausbildung der Dozenten für die Seminare sein.

Die Lösung des Priestermangels ist dringend, reicht jedoch keineswegs aus, um die Orthodoxe Kirche in Russland wieder zur geistlichen Stütze der Gesellschaft zu machen. Die Kirche muss wieder zu einer Kultur bildenden Kraft werden, zu einer Stütze bei der Suche nach dem Sinn des Lebens, zu einer Schule der Moral und der Liebe. Die Zukunft der Kirche wird heute nicht nur davon bestimmt, wie die Kirche den Pfarrklerus auf seine pastorale Tätigkeit vorbereitet, sondern auch davon, wie energisch sich die kirchliche Wissenschaft nach einer 70-jährigen Unterbrechung entwickelt und wie breit die religiöse Bildung der Kinder in das Leben der Gesellschaft eingeführt wird. Diese Aufgaben kann man nur lösen durch neue Formen der theologischen Ausbildung an Instituten und Universitäten, wie sie oben bereits erwähnt wurden.

Es erscheint heute notwendiger als je zuvor, eine kirchliche Wissenschaft mit den unterschiedlichsten theologischen und historischen Disziplinen zu entwickeln, die sich um interdisziplinäre Forschung bemüht und ihre Ergebnisse in einem breiten Kreis von Spezialisten diskutiert. In der vorrevolutionären Zeit befand sich die russische theologische und kirchenhistorische Wissenschaft auf einem hohen akademischen Niveau. Um den Fortschritt der theologischen Wissenschaft zu unterstützen, ist es wichtig, nicht nur interdisziplinäre Forschungen zu betreiben, sondern diese auch in zwischenkirchlicher Zusammenarbeit durchzuführen. Die Erfahrungen der interkirchlichen Partnerschaft „Apostolische Stadt – Nevskij Prospekt“ in St. Petersburg sind in dieser Hinsicht bemerkenswert.

Ein bemerkenswerter Gradmesser der religiösen Wiedergeburt in Russland ist die Anzahl der wiederhergestellten und neu gebauten Kirchen. Trotz der starken Verteuerung der Baukosten durch die ökonomischen Reformen werden auch heute Kirchen gebaut und ausgeschmückt. Es genügt auf das Beispiel der Christi-Erlöser-Kathedrale in Moskau zu verweisen, das offensichtlichste Zeichen für die Wiedergeburt der Orthodoxen Kirche in Russland. Nicht alle waren der Überzeugung, dass es notwendig sei einen solch prunkvollen Bau zu errichten, doch heute erhebt sich diese Kathedrale am alten Platz. Patriarch Aleksij II. hat in der Zeit seit seiner Erhebung zum Patriarchen mehr als 100 neue Kirchen in verschiedenen Eparchien eingeweiht. Es ist bezeichnend, dass es in Moskau heute 350 geöffnete Kirchen gibt; noch vor kurzer Zeit waren es nur 45.

Kirche und Politik

Der Heilige Synod der ROK hat den Priestern verboten, sich als Kandidaten bei den Wahlen aufstellen zu lassen und in den politischen Parteien mitzuwirken. Dieses Verbot gilt jedoch nicht für Laien, denn Christen sollen nicht gleichgültig auf die Entwicklung der Gesellschaft schauen. Auch für orthodoxe Christen gehört es sich nicht, die Verantwortung für die Schöpfung Gottes und für das Gemeinwesen zu vergessen. Von Christen werden nicht nur persönliche Sorge um die Mitmenschen, nicht nur persönliche Askese und ein moralisches Leben, sondern auch Klugheit, theologische und kirchliche Antworten auf die vielfältigen Fragen erwartet, die sich heute stellen. Diese Seite der Aktivität der orthodoxen Christen in Russland erfordert heute große Aufmerksamkeit. Auch hier hilft die Erfahrung des zwischenkirchlichen Dialogs den aktiven Gläubigen, sich in den neuen Bedingungen der sozialen und politischen Realität zurecht zu finden.

Doch leider ist gerade dieser Bereich in der ROK besonders schwach entwickelt. Politisch aktive orthodoxe Christen finden sich heute nur unter den monarchistisch und nationalistisch gesinnten Gläubigen. Oft stellt man sich die Frage, ob ihre Bekehrung nicht eher mit ideologischen als mit religiösen Motiven verbunden war. Es ist bemerkenswert, dass die monarchistischen Tendenzen oft mit einer antiökumenischen Einstellung verbunden sind. Die antiökumenischen, fundamentalistischen Tendenzen dienen heute den Kräften, die eine Spaltung der Kirche beabsichtigen. Ein Beispiel dafür ist, dass die russische Auslandskirche versucht, eigene Pfarreien auf dem Territorium Russlands unter der neuen Bezeichnung „Freie Russische Orthodoxe Kirche“ zu gründen und auf diese Weise zur Stärkung des Fundamentalismus beiträgt, wobei sie sich mit den griechischen Altkalendariern und manchmal sogar mit den Anhängern Lefebvres verbindet.

Die antiökumenischen Stimmungen und die Frage des Verhältnisses der ROK zum Ökumenischen Rat der Kirchen verdienen besondere Aufmerksamkeit und erfordern eine gründlichere Analyse, als es an dieser Stelle möglich ist.3 Die Verstärkung der antiökumenischen, antikatholischen und antiprotestantischen Stimmung ruft Befürchtungen hervor, insofern diese deutlich der europäischen Integration und friedensstiftenden Initiativen entgegenstehen. Der Antiökumenismus ist in erster Linie verbunden mit dem Defizit an religiöser und theologischer Bildung. Dieser Mangel trug dazu bei, dass das plötzliche Interesse an Religion nicht entsprechend befriedigt werden konnte und so der fundamentalistischen Propaganda Tür und Tor geöffnet waren. Es erscheinen Zeitungen – ohne kirchlichen Segen – mit ganz frommen Titeln („Orthodoxes Russland“ u.a.), die Feindschaft säen, den Bischöfen Ökumenismus vorwerfen usw. Es gibt sogar eine „orthodoxe“ Zeitschrift, die sich „Orthodoxie oder Tod“ nennt. Sicherlich werden nicht diese Leute die Zukunft der Kirche bestimmen, doch es ist erforderlich, die fundamentalistische und nationalpatriotische Welle sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft zu überwinden. Um dieses zu erreichen, gilt es in erster Linie die Bildungsarbeit und andere missionarische Initiativen zu unterstützen, die schöpferisch und nicht fundamentalistisch ausgerichtet sind.

Kirche und Kultur

Im Dezember 1994 hat die Bischofssynode der ROK in ihrem Beschluss „Die orthodoxe Mission in der heutigen Welt“ betont, dass „es unbedingt erforderlich ist, eine Synthese einer einheitlichen christlichen Kultur zu schaffen, die ein schöpferisches Abbild der ewigen und unveränderlichen Wahrheit des orthodoxen Glaubens in einer sich ständig ändernden Wirklichkeit ist... Ein wichtiger Teil des missionarischen Dienstes der Kirche muss ihr Beitrag zur Kultur, zu Kunst, Wissenschaft und anderen Bereichen des Lebens sein. In Verbindung damit muss man auch den Beitrag der Kirche zur Lösung der Probleme im Bereich der Ökonomie, Ökologie, der Friedensstiftung, der Organisation des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens sehen, wie auch die Teilnahme orthodoxer Christen an den allgemein-menschlichen Bemühungen zur Lösung dieser Probleme.“4 In der Tat ändert sich die Wirklichkeit schnell und grundlegend. Die alten Antworten passen nicht immer auf die neuen Fragen. Dies gilt zum Beispiel für manche Orthodoxe, die heute wieder die Sympathie für einen monarchischen Aufbau der Gesellschaft zum kirchlichen Maßstab der Frömmigkeit erklären möchten.

Oft ist in jüngster Zeit von einer globalen Krise der Kultur die Rede, doch meist wird darunter nur ein Wandel der Kulturtypen verstanden. Die krisenhaften Erscheinungen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts liegen vor Augen: die Bedrohung durch die ökologische Katastrophe, die unkontrollierte Verschwendung der Energievorräte, die Zerstörung traditioneller Kulturen, die wachsende Abhängigkeit von Drogen usw. Die Kirche sollte die Hoffnung auf Überwindung dieser Krise nicht so sehr mit der Wiedererrichtung und dem Bau neuer Kirchen verbinden als vielmehr mit neuen missionarischen Anstrengungen, mit neuen Formen der Evangelisierung.

Die missionarische Aufgabe der Kirche

In unseren Tagen kann man häufig Vorwürfe gegenüber Missionaren westlicher christlicher und nicht-christlicher Denominationen hören. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie nach Russland gehen, das seit mehr als tausend Jahren religiös ist und den orthodoxen Glauben trotz Verfolgungen bewahrt hat, als ob sie in eine religiöse Wüste kämen. Auch wenn die Missionare manchmal tatsächlich nicht sehr freundliche Methoden anwenden und scharfe Kritik an der Orthodoxie üben, liegt die Hauptverantwortung für diese Situation bei der ROK. Wenn die orthodoxe Kirche missionarisch aktiv wäre, könnten ihr weder andere Kirchen und Traditionen noch Sekten und Kulte gefährlich werden. Eine solche aktive Missionstätigkeit sollte in entschiedenem Maße mit Hilfe der Laien verwirklicht werden und eine religiöse Bildung und Katechese einschließen. Sie müsste soziale und diakonische Programme ebenso beinhalten, wie die Teilnahme der Kirche an der Demokratisierung der Gesellschaft. Leider wird der Begriff ‚Demokratie‘ in Russland von einem erheblichen Teil der Gesellschaft mit ökonomischen Schwierigkeiten assoziiert, mit dem Untergraben der traditionellen Kultur und der Liberalisierung der Moral. Die missionarische Aufgabe der orthodoxen Kirche besteht m.E. zunächst darin, die kirchliche Position dahingehend zu verdeutlichen, dass der orthodoxe Mensch nicht zum Verlassen der Welt und der Gesellschaft aufgefordert ist, sondern zum Dienst Gottes in eben dieser Gesellschaft, in der wir leben.

Positiv zu vermerken ist, dass bereits neue kirchliche Strukturen entstanden sind, wie z.B. die Abteilung des Heiligen Synods für soziale Dienste und Wohltätigkeit. Es gibt Schwesternschaften und Bruderschaften, in denen sich Laien dem diakonischen Dienst widmen. Jedoch muss man noch vielen Orthodoxen erklären, dass man über orthodoxe Spiritualität nicht losgelöst von den sozialen Aufgaben des Christen reden darf. All dies sind wesentliche Fragen der Missiologie, eines Lehrfaches, das erst vor ganz kurzer Zeit in das Lehrprogramm der geistlichen Schulen aufgenommen wurde. Anfang dieses Jahres wurde in Verbindung mit dem Orthodoxen Institut für Missiologie in St. Petersburg die Russische Vereinigung der Missionswissenschaftler gegründet, der Wissenschaftler aus verschiedenen Kirchen – mehrheitlich aus der orthodoxen Kirche – angehören, die sich mit der Frage der Mission im weitesten Sinne befassen.

Für das heutige Russland sind die gleichen Tendenzen charakteristisch, die in der ganzen Welt zu beobachten sind (Säkularisierung, die Welle des Fundamentalismus, die Neigung zu exotischen Kulten und New Age). Jedoch verlaufen all diese krankhaften Prozesse in Russland, das sich immer durch eine gewisse Besonderheit auszeichnete und auch heute ein besonders krasses Beispiel des postkommunistischen Osteuropa ist, schärfer als in anderen Ländern. Wenn es gelingt die aufgezeigten Krankheiten in Russland zu überwinden, könnten sowohl Westeuropa als auch andere Regionen der Welt daraus ihre Lehren ziehen.

Aus dem Russischen übersetzt von Johannes Oeldemann.


Fußnoten:


  1. Die Daten geben den Stand von Dezember 1998 wieder. Sie sind der Rede des Patriarchen Aleksej II. auf der jährlichen Moskauer Eparchialversammlung entnommen. ↩︎

  2. Die Daten stammen vom Forschungsinstitut ROMIR und wurden im Januar 2000 publiziert. ↩︎

  3. Einige Materialien hierzu finden sich in dem Artikel von Erzpriester Vladimir Fedorov, Stolpersteine der Ökumene, in: G2W 1998, Heft 5, S. 25 – 30. Vgl. auch: Ders., Orthodoxie in Russland heute, in: Evangelische Theologie 1998, Heft 5. ↩︎

  4. Bischofssynode der ROK, 29.11. bis 2.12.1994. Dokumente und Vorträge, hrsg. vom Moskauer Patriarchat, S. 175 – 177. ↩︎