1923: Einführung des neujulianischen Kalenders in einigen orthodoxen Kirchen (nicht in Russland)

aus OWEP 4/2017  •  von Evgeny Pilipenko

Dr. Evgeny Pilipenko: Mitarbeiter des kirchlich-wissenschaftlichen Zentrums „Orthodoxe Enzyklopädie“, Moskau.

Bis zum Jahr 1582 verwendete das gesamte Christentum den julianischen, aus Alexandria stammenden Kalender, der im 1. Jahrhundert v. Chr. durch Gaius Julius Cäsar eingeführt und auf dem Ersten Ökumenischen Konzil in Nicäa 325 für die Berechnung des Osterdatums und somit für den liturgischen Jahreszyklus in Gebrauch genommen worden war. Da dieser Kalender sich im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung als sehr ungenau erwies, ersetzte ihn Papst Gregor XIII. 1582 durch einen neuen. Als diesem im 18. Jahrhundert auch die protestantischen Länder folgten, galt er seitdem für die ganze westliche Welt. Die orthodoxen Kirchen verurteilten 1583 auf einer Synode in Konstantinopel sowie in späteren Stellungnahmen die päpstlichen Neuerungen als der väterlichen Tradition widersprechend, sodass sich in den Staaten, in denen die Orthodoxie vorherrschend war, die Kalenderreform erst Anfang des 20. Jahrhunderts durchzusetzen begann. In Russland wurde der gregorianische Kalender im Februar 1918 übernommen und der damals bestehende dreizehntägige Unterschied zum Westen abgeschafft; die orthodoxe Kirche folgte diesem Schritt jedoch nicht.

1923 schlug der orthodoxe Kongress unter der Leitung des ökumenischen Patriarchen Meletios II. die Einführung eines reformierten — neujulianischen — Kalenders nach Überlegungen des serbischen Astronomen M. Milanković vor. Gemäß ihm werden die unbeweglichen Feste gregorianisch, der österliche Zyklus julianisch berechnet. Er dürfte präziser als der westliche Kalender sein, fällt aber mit ihm bis 2800 zusammen. Als das Oberhaupt der russischen Kirche Patriarch Tichon von dieser Entscheidung erfuhr, verordnete er nicht ohne Druck seitens des sowjetischen Geheimdienstes den Übergang ab 2./15. Oktober 1923 zur neuen Zeitrechnung im Einklang mit der Wissenschaft und dem Willen der Weltorthodoxie, denn das betreffe weder Dogmen noch Kanones. Der Erlass stieß jedoch auf einen so starken Widerstand der Gemeinden in ganz Russland, dass seine Gültigkeit bereits nach 24 Tagen eingestellt werden musste. Während mehrere autokephale Kirchen der Kalenderreform später zustimmten, ist die Russische Orthodoxe Kirche bis heute beim julianischen Kalender geblieben.