Religiöser Wandel in Mittel- und Osteuropa – Eine Herausforderung für die Kirchen

aus OWEP 4/2000  •  von Michael Albus

Dr. theol. Michael Albus ist Journalist beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) und verantwortlicher Redakteur dieser Zeitschrift.

Im letzten Jahrzehnt ist in den Ländern Mittel- und Osteuropas nahezu alles in Bewegung geraten. Tiefgreifende Veränderungen sind im Gange. Diese Prozesse sind noch lange nicht abgeschlossen. Sie brauchen viel Zeit.

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft hatten viele Menschen die Hoffnung, dass auch die religiös-kirchliche Praxis sich verstärken und verdichten würde. Diese Hoffnung hat sich nicht im erwarteten Ausmaß erfüllt. Im Grunde machen die Religion und der Glaube in den Ländern Mittel- und Osteuropas, wenn auch in erheblich kürzerer Zeit, den selben tiefgreifenden Wandel durch wie in den Ländern Westeuropas in den letzten Jahrzehnten. Man kann trotz der lokalen und regionalen Differenziertheit der Prozesse geradezu von einer Angleichung der Bewegungen sprechen.

Die christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften haben das "Monopol" für Religion und religiöse Praxis verloren. Sie haben säkulare Konkurrenz bekommen. Eine neue Unübersichtlichkeit hat Platz gegriffen. Es wimmelt von Sinnagenturen. Immer mehr Menschen gehen auf der nach wie vor heftigen und intensiven Suche nach dem Sinn ihres Lebens haarscharf an den Kirchen vorbei. Sie basteln sich ihre eigene Religion zusammen, gehen zu anderen Formen religiöser Praxis über, als sie in den "alten" Kirchen vorzufinden sind. War es früher der staatlich verordnete Materialismus des Ostens, der Kirche und Religion bedrohte, so ist es heute der allgemein praktizierte Materialismus des Westens, der nach dem Wegfall der ideologischen Schranken frei, ungehindert und mit Macht in die ehemals kommunistischen Länder einströmt und dabei auch die Religion, den Glauben und die Kirchen nicht verschont.

Es wäre allerdings verfehlt, von einem Verschwinden der Religion und der religiösen Praxis zu sprechen. Das Gegenteil ist der Fall. Das ist aber auch nicht anders zu erwarten, wenn man von der unabweisbaren Tatsache ausgeht, dass der Mensch durch seine bloße Existenz und unberührt von jedem politischen und gesellschaftlichen System religiös ist und bleibt. Die Formen, Figuren und Suchwege verändern sich.

Dieser Vorgang, der nicht neu ist in der Geschichte, trifft die Kirchen Mittel- und Osteuropas in einem Zustand der Schwäche. Sie sind eben nicht hinreichend gestärkt aus den Zeiten der Verfolgung hervorgegangen. Ihre Kraftlosigkeit, die im Ghetto der Verfolgung entstanden ist, wird nun vielerorts ganz ungeschminkt offenbar. Das mag man beklagen. Aber ignorieren kann man es nicht. Weder im Westen, noch in der Mitte, noch im Osten Europas. Im Übrigen greift diese Entwicklung schon längst über Europa hinaus. Angesichts der rasanten Prozesse der Globalisierung auf vielen Gebieten muss man von einem weltweiten Prozess sprechen. Nicht überall ist er gleich weit fortgeschritten. Die Ungleichzeitigkeiten sind evident. Umkehrbar ist diese Entwicklung jedoch nicht mehr. Von dieser Illusion gilt es Abschied zu nehmen.

Offenheit ist gefordert

Leichtfertig und oberflächlich wäre es auch, von einer zunehmenden Atheisierung in den Ländern Mittel- und Osteuropas zu sprechen. Es gibt dort sicher nicht mehr "harte" Atheisten als zu Zeiten des Kommunismus. Allenfalls gibt es mehr Säkularisierte und Kirchenferne. Darunter eine nicht unbeträchtliche Anzahl, die von den christlichen Kirchen noch einiges erwarten und denen man nur wünschen kann, dass ihre Erwartungen nicht enttäuscht werden. Diese Einzelnen, die sich nicht sogleich in die geordnete Heerschar der Gläubigen und der Getauften einordnen lassen, verdienen mehr denn je die Aufmerksamkeit der christlichen Kirchen. (B) Voraussetzung dafür sind jedoch die Offenheit und die Bereitschaft, sich auf sie einzulassen, auf ihre "andere" Religiosität zu achten und zu hören. Das hat eine andere Art, Kirche zu sein, als bisher zur Folge. Die "feste Burg" ist dafür keine hinreichende institutionelle Gestalt mehr. Beweglichkeit ist angesagt. Dass dies in einen schmerzlichen Prozess führen kann, ist nahezu unausweichlich. Dabei kommt auch Angst mit ins Spiel.

Die Wahrheit der christlichen Religion besteht heute eher in der Bereitschaft, sich in einem erneuten Bemühen den Menschen und ihren Fragen sowie der Welt und ihren drängenden und bedrängenden Aufgaben zuzuwenden, statt gutsituiert oder bequem oder ängstlich abseits zu stehen. Hans Urs von Balthasar, einer der bahnbrechenden katholischen Theologen des letzten Jahrhunderts hat schon 1952 den Sachverhalt so beschrieben:

"Dieses Abseitsstehen, Mit-sich-selber-Beschäftigtsein hat bei den Jungen, die sich jeweils auf Wandlungen – Katastrophen oder unerhörte Erweiterungen – gefasst machen und sie mit zu vollziehen gewillt sind, ein Gefühl des Unbehagens, ja der Unwirklichkeit gegenüber der alten und mit soviel Altersweisheit dozierenden und fordernden Kirche geweckt. In den Ländern zumal, die die Kriege erlebten und geistige Einstürze geliebter und geglaubter Traditionen, gilt das Überlieferte nicht erst durch seinen Inhalt, sondern schon durch seine Form, durch die Tatsache, dass es Gewesenes vertritt, als verdächtig. Die Sprache der Jungen verändert sich rasch und wird barsch und 'basic'. Ungeduld ist ihr an die Stirn geschrieben, sie will nur noch ein Absprungbrett sein in das Kommende, zu dem sie offen und bereit ist."1

Von Balthasar sieht zwei Möglichkeiten, zwei Mittel, durch die das historische Gebilde seine Lebendigkeit für Gegenwart und Zukunft behalten oder wiedergewinnen kann: "Das eine ist gewaltsam und kommt von außen: es ist die Zerstörung der Tradition, der Denkmäler und Bibliotheken, der Archive und Verwaltungskörper, vielleicht die Aufhebung für Generationen des historischen Gedächtnisses und der Zwang, infolgedessen auf roher Stufe neu anzufangen. Das Zweite ist geistig und kommt von innen: die Kraft des Übersteigens, der alle Traditionen durchblutenden Lebendigkeit, die das Gewesene kennt und sich davon zu lösen vermag, soweit die Verantwortung und die Bereitschaft für die Zukunft es fordert."2

Der Weg verläuft zwischen den Fronten

Der Weg, den es für die Kirchen in den Ländern Mittel- und Osteuropas zu gehen gilt, verläuft zwischen vielen Fronten. Er ist kein bequemer Weg. An seinen Ecken und Enden lauern Gefahren. An vielen seiner Stationen stehen auch Zeugen einer lästigen Geschichte. Vor dieser Grundherausforderung stehen die christlichen Kirchen. Sie können sich nicht davon dispensieren. Und mit ein paar gut gemeinten Aktionen ist es dabei nicht getan. Eine tief greifende geistige Auseinandersetzung tut not. Es geht um den persönlichen Glauben der Menschen, der im Wandel, im Umbruch begriffen ist. Die Kirchen müssen die Tatsachen zur Kenntnis nehmen, die diesen Wandel bedingen und ihn begleiten.

Die Tatsachen

  • Trotz eines geradezu explosiven Anwachsens der technischen Möglichkeiten, etwa auf dem Gebiet der Kommunikationstechnologie, entstehen immer mehr geschlossene, fensterlose Innenwelten, die das Leben der Einzelnen bestimmen und prägen.
  • Ohnmachtsgefühle breiten sich aus. Viele Menschen sind angesichts der erfahrenen Unmöglichkeit, am Ganzen etwas zu ändern, wie gelähmt. Sie werden bestenfalls noch Zuschauer von Ereignissen, die fremdgesteuert sind.
  • Einsamkeit wächst. Unter anderem auch aus einer Unfähigkeit heraus, in Gemeinschaft leben zu können. Der Wille dazu ist zwar da; aber das Fehlen der Kraft, ihn umzusetzen, ist offenkundig: Singles, erhöhte Störanfälligkeit von Beziehungen, zerbrechende Ehen, Flucht aus bislang tragenden Institutionen, auch resignative Verweigerungen.
  • Die Probleme neu gewonnener Freiheiten wachsen. Die Freiheiten sind aber auch bedroht, dem Zugriff von autoritären und fundamentalistischen Bemächtigungsideologien ausgesetzt.
  • Es gibt eine neue Unübersichtlichkeit im privaten wie öffentlichen Bereich. Die Verhältnisse sind so komplex, so kompliziert, dass der Einzelne den Überblick verliert. Die Folge: Es kommt zu technischen, zu radikalen Kurzschlusslösungen, die in Wahrheit keine Lösungen sind.
  • Diffuse Ängste breiten sich aus wie Pilzgeflechte unter einer glitzernden Oberfläche, hinter den Fassaden einer schimmernden Freiheitswelt. Die Folge: Psychische Belastungen werden übergewichtig, sind nicht mehr tragbar.
  • Man weicht in virtuelle Welten aus, weil man der Übermacht einer schwierigen Lebenswelt nicht mehr Herr oder Frau oder Kind wird. Das Ergebnis ist in vielen Fällen der Wirklichkeitsverlust. Er macht die Menschen anfällig für Ideologien.

Der Wandel

In diesen Kontexten, die hier nur in Umrissen beschrieben sind, vollzieht sich der Wandel im persönlichen Glauben der Menschen. Im Wandel dieses Glaubens der Einzelnen und mancher kleinen Gemeinschaften ist Folgendes zu beobachten:

  • Die Frage nach dem Geheimnis unseres Lebens, das wir Christen Gott nennen, wird wichtiger als die Frage nach der Institution Kirche.
  • Menschliche Schicksale haben Vorrang vor Sach-, Ordnungs- und Strukturfragen.
  • Persönliche Glaubwürdigkeit ist wichtiger als sachliche, dogmatische, lehramtliche Korrektheit.
  • Das Verlangen und Suchen nach einem "letzten Halt", nach Geborgenheit in allen Unbehaustheiten, in allen Umbrüchen wächst.
  • Der Glaube an einen "allmächtigen" Gott ist im Schwinden begriffen. Immer mehr wird gefragt nach der Macht des Menschen. Und damit nach seiner Verantwortung.
  • Die Menschen sind einem Gott auf der Spur, der sich nicht in Sätzen beschreiben lässt, der aufblitzt als Ahnung in bestimmten Erfahrungen des Lebens, im Glück wie im Unglück.
  • In einem Bild beschrieben: Der Glaube der Menschen ist heute ein Schiffchen auf hoher See, keine feste Burg mehr. Er gleicht einem Gang über schmale Grate, ist ein Balanceakt.
  • Die Menschen suchen mehr und mehr nach den Wurzeln, nach den Fundamenten des Glaubens in ihrem eigenen Leben. Viele Denk- und Satzgebäude, die darüber aufgebaut worden sind, sind ihnen fremd geworden und werden ihnen fremd bleiben.
  • Es geht im religiösen Wandel in Mittel- und Osteuropa auch um politische, soziale, gesellschaftliche und kulturelle Befunde. Aber es geht nicht um sie allein. Es geht vor allem und im Kern darum, ob die Menschen bei der Suche nach dem Sinn ihres schwierigen Lebens ein Obdach, eine Unterkunft, vielleicht sogar eine Heimat für ihre Seele finden können. Das ist die Anfrage an die christlichen Kirchen.

Fußnoten:


  1. H. U. von Balthasar, Schleifung der Bastionen, Einsiedeln 1952, S. 8. ↩︎

  2. Ebd., S. 11f. ↩︎