Ost und West – Brücken und Gräben

Erfahrungen aus acht Jahren Arbeit mit Renovabis für Menschen in Mittel- und Osteuropa
aus OWEP 4/2001  •  von Eugen Hillengass

P. Eugen Hillengass SJ ist Geschäftsführer von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa.

1993 – vor acht Jahren

Vor einem Hintergrund weltkirchlicher Ausblicke und Erfahrungen habe ich 1993 mit Renovabis zu arbeiten begonnen. Von Mittel- und Osteuropa kannte ich damals nur das Datum der historischen Wende, 1989, und konnte mir nicht vorstellen, welchen neuen Welten und Erfahrungen ich begegnen würde. Es erwies sich als ein Meer von Eindrücken, und darum kann ein solcher Erfahrungsbericht auch nur einige Streiflichter bieten. Diese Erfahrungen sind persönlich, sind subjektiv – und wollen es sein und bleiben.

Der Untertitel des Berichts sollte zunächst heißen „Erfahrungen aus acht Jahren Arbeit für Renovabis“. Ich habe ihn abgeändert, denn es geht nicht um Renovabis, sondern um Menschen in Mittel- und Osteuropa. Darum also dieser Untertitel: „Erfahrungen aus acht Jahren Arbeit mit Renovabis für Menschen in Mittel- und Osteuropa“. Zwischen Ost und West sind Brücken und Gräben sicher nicht das Einzige, aber wenn dieser Bericht mit einem Ausblick in die Zukunft enden soll, dann geht es doch in vielfacher Weise um Brücken, die wir schon beschritten haben oder noch beschreiten müssen, und manchmal auch um Gräben, vor denen der Fuß stockt.

Ganz am Anfang standen zwei Brücken, der Kontakt zu P. Werenfried van Straaten, dem großartigen Gründer seines Internationalen Werks Kirche in Not/Ostpriesterhilfe, und in den Anfangsjahren die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Hilfsfonds in Wien und seinem Leiter Msgr. Hubert Wilschowitz. Diese beiden Brücken stehen für viele andere, wo sich aus gemeinsamen Grundüberzeugungen die Zusammenarbeit entwickelt hat, auch wenn die Wege und Blickpunkte verschieden waren und sind. Der Übergang vom Europäischen Hilfsfonds zu Renovabis musste nicht nur zwischen den Organisationen, sondern vor allem bei den Partnern Brücken schlagen. Der Europäische Hilfsfonds vermittelte ja in seiner bedeutendsten Phase, in der Zeit des Eisernen Vorhangs, rasch und unbürokratisch Hilfe. Er belastete damals sich und die Partner viel weniger mit Bewilligungs- und Abrechnungsmechanismen, die bei einer deutschen Hilfsorganisation wie Renovabis einfach notwendig sind. Unsere Mittel stammen heute zum Teil aus steuerbefreiten Spenden oder von der Öffentlichen Hand und erfordern deshalb in dieser Hinsicht mehr Aufwand. Der Wechsel verlangte unseren Partnern einiges ab. Die Brücke wurde gebaut. Gräben zwischen „früher“ und „jetzt“ wurden vermieden.

Begegnungen mit der Geschichte in Mittel- und Osteuropa

Erste und durchgängige Erfahrung war die Begegnung mit Menschen aus der Sowjetunion und aus der sowjetischen Einflusssphäre in Mitteleuropa. Inzwischen hat sich manches gewandelt, aber jahrzehntelange Indoktrination hat viele Menschen in ihrem ganzen Sein geprägt und oft belastet, selbst dort, wo ein starker Glaube der marxistischen Ideologie widerstanden hat. Mit der Zeit milderten sich die Schäden, und die Bereitschaft verstärkte sich, wieder Initiative zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Diesbezügliche Defizite hatten unsere Arbeit vor allem am Anfang erschwert und den Ausbau mancher Kooperationen behindert, weil mit der Zuverlässigkeit des Partners nicht immer zu rechnen war.

Bei den Opfern der Unterdrückung kirchlichen Lebens fällt nicht selten ein gewisses Repräsentationsbedürfnis auf. Es geht dabei nicht um persönlichen Ehrgeiz, sondern um Repräsentation der Kirche, die so lange unterdrückt war. Ich kann verstehen, dass ein Bischof, von dessen Kathedrale man die Türme abgetragen hatte, jetzt zeigen will: „Wir sind wieder wer“. Deshalb wünscht er, dass die Türme wieder aufgebaut werden. Inzwischen weiß ich, dass es nicht das Repräsentationsbedürfnis des Bischofs, sondern das Selbstwertgefühl seiner Gemeinde ist, die aus den Katakomben heraufstieg. Sie will nun auch sichtbar bezeugen, dass sie wieder öffentlich existiert. Dafür sind Türme und Glocken Zeichen. Darum ist ein solcher Aufbau, auch wenn er von Renovabis nicht finanziert wird, für die Menschen ebenso notwendig oder sogar notwendiger als manches Stück Brot.

Wie sehr unser Glaube in West- und Mitteleuropa von Reformation, Aufklärung und Säkularisation beeinflusst wurde, ist mir im Kontakt mit Christen in Ostmittel- und Osteuropa, wo großen Teils diese geschichtlichen Wenden nicht oder doch ganz anders stattgefunden haben, immer wieder aufgefallen. Die geschichtlichen Strömungen haben unser Christentum verändert, geprägt und zu neuen Kontakten und Allianzen befähigt. Wo solche Erfahrungen fehlen, sind Ökumene, relative Unabhängigkeit von ethnischen Bindungen und Zusammenarbeit mit öffentlichen Funktionären schwieriger oder jedenfalls anders. Das zeigt, ganz abgesehen von den bekannten Positionen orthodoxer Verantwortlicher zum sogenannten Proselytismus, auf katholischer Seite der Umgang mit der parallelen Zugehörigkeit zu Ethnien und kirchlichen Gemeinschaften, etwa auf dem Balkan. Auch wo große Offenheit für das Miteinander der verschiedenen Gemeinschaften besteht, ist doch die prioritäre eigene Einbindung in Ethnie und Kirche selbstverständlicher als im Westen. Darum muss in all diesen Fällen zwischen Ost und West, zwischen West und Ost Brückenbau stattfinden, damit man sich gegenseitig besser „einordnen“ und verstehen kann.

Eine andere Quelle von Missverständnissen oder gegenseitiger Fremdheit zwischen West und Ost ist die „gleichzeitige Ungleichzeitigkeit“, in der wir leben. Durch die Kommunikationsmedien wird die Welt immer kleiner und jederzeit im eigenen Wohnzimmer präsent. Hingegen sind uns ländliche Lebensformen und handwerkliche Produktionsweisen immer weniger vertraut, und deshalb wirkt auf uns die Art zu leben von vielen Zeitgenossen in weiter entfernten Teilen Osteuropas und im Südosten unseres Kontinents manchmal recht fremd. Dazu kommen die Nationalismen der Ethnien, zum Beispiel auf dem Balkan und in weiten Teilen Russlands. Was fremd ist, wird aber allzu oft als Bedrohung empfunden. Trotz der Medienverbindungen, ja möglicherweise sogar verstärkt durch diese, wird die Zurückhaltung gegenüber dem Unbekannten größer. Das gilt ebenso in umgekehrter Richtung: Das westliche Konsumdenken der neuen Reichen bedrängt viele Menschen, gerade auch in Osteuropa. Auch die postkonziliare Theologie ängstigt zahlreiche kirchlich Verantwortliche im Osten, weil sie diese nur vom Hörensagen kennen oder aus verzerrten Darstellungen, oder sie schwer einordnen können: weitere Gräben, die durch geduldigen Austausch von Information allmählich überbrückt werden müssen.

In diesen Kontext gehören Begriffe, die in West und Ost, vor allem aber im Osten leicht einen bedrohlichen Klang bekommen. Es ist der Pluralismus, vor allem wenn er sich auf Werte bezieht. Es ist die Anonymisierung, die überall da Unsicherheit schafft, wo bisher Überschaubares verschwimmt. Und es ist die Globalisierung, die dort als bedrohlich empfunden wird, wo sie im Verständnis des Menschen keine neuen Möglichkeiten eröffnet, sondern vieles was greifbar und beschreibbar war, was also als stabil empfunden wurde, schwankender werden lässt. Wo durch den Zusammenbruch des Kommunismus und Marxismus Lebensängste stärker empfunden werden, da tragen solche Phänomene zu Fremdheit, Unbehagen und Unsicherheit bei. Der Priester und die Ordensfrau sind in all diesen tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohungen Menschen, die den Gläubigen Sicherheit vermitteln und die deshalb für Gottesdienst und Katechese, nicht zuletzt aber für caritative Hilfe gesucht werden. Mit ihren sonstigen Aufgaben beim Aufbau der Gemeinden und wegen ihrer geringen Zahl sind sie deshalb häufig überfordert. Die Gefahr besteht, dass sie müde und ausgelaugt werden. Die Sorge um ihre Priester treibt viele Bischöfe in Osteuropa um, vor allem wenn man an die Vereinzelung aufgrund der großen Entfernungen denkt.

Die Betrachtung geschichtlicher Zusammenhänge soll aber nicht abgeschlossen werden, ohne auf etwas Überraschendes hinzuweisen, dem ich sowohl in Transkaukasien, vor allem in Armenien und Georgien, als auch auf dem südlichen Balkan begegnet bin. Dies sind Länder, die schon in apostolischer und frühchristlicher Zeit mit dem Christentum in Kontakt kamen. Die alten Handelsstraßen am Schwarzen Meer und die Wege der Apostel und ihrer Schüler von Griechenland nach Mazedonien und in den albanischen Raum haben dort bleibende christliche Spuren hinterlassen, die älter sind als die Christianisierung unseres Vaterlandes. Auf dem südlichen Balkan hat der Islam dann vieles überdeckt, aber zunächst war das Christentum vorhanden. Im Gespräch wird von den Verantwortlichen zuweilen auf diese alte Tradition hingewiesen, um Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung zu betonen. Mir haben solche Hinweise geholfen, im Anspruch unseres eigenen Christentums bescheidener zu werden.

Begegnungen mit Partnern in Mittel- und Osteuropa

Die Begegnungen in Mittel- und Osteuropa sind zunächst Begegnungen mit Menschen. Wir reden vom „Austausch der Gaben“ zwischen West und Ost und nennen als eine Gabe aus dem Osten den Glaubensgeist. Zeugnisse solchen Glaubensgeistes habe ich gefunden bei den babuschki, den älteren Frauen, die während der Unterdrückungs- und Verfolgungszeit in Russland an den Traditionen des Glaubenslebens festhielten und damit ein vorbildliches Laienapostolat lebten. Wir „fanden“ 1995 ein Dorf von Wolgadeutschen, einige hundert Kilometer südlich von Sotschi am Schwarzen Meer, in Abchasien, wo über mehr als fünfzig Jahre ohne jede Assistenz kirchlich Beauftragter die babuschki Taufe, Rosenkranz, Eheschließung und Beerdigung aufrecht erhielten und so den Glauben weitergaben. Sie bauten Brücken.

Abgesehen von diesen Möglichkeiten in entlegenen Gebieten waren christliches Leben und christliche Verkündigung gefährdend und wurden deshalb im Großen und Ganzen nur von den wenigen Priestern im Geheimen gepflegt. Jeder dieser Priester war „Pfarrer und Bischof und Papst in einem“, wie mir einmal einer von ihnen erklärte, und trug die ganze Last. Es ist verständlich, dass der Übergang von einer solchen Kirche zu Formen geteilter Verantwortung und der Mitverantwortung von Laien im Verwaltungsbereich Schwierigkeiten brachte. Laien müssen in ihre Verantwortungen hineinwachsen können und wollen, und Priester müssen Verantwortungen abgeben. Viele Brücken über viele Gräben müssen hier noch gebaut werden.

Aber auch die Heroen der Untergrundkirche fanden sich ungewohnten Schwierigkeiten gegenüber. „Ich war nie Kaplan, ich war nie Pfarrer und jetzt soll ich eine Diözese leiten“ klagte einer dieser Männer, die im Untergrund und später in den ersten Jahren des Aufbaus Ungeheures geleistet haben. Es ist verständlich, dass solche Bischöfe zunächst auf die ihnen bekannten Formen des Glaubens zurückgegriffen haben. Dabei war eine solch gewaltige Aufbauarbeit zu leisten, dass für Fortbildung kaum Zeit blieb.

Ein anderer dieser Heroen wurde Bischof, weil er dem Atheismus widerstanden hatte und deshalb zehn Jahre in der Todeszelle saß. Er hat Standfestigkeit gezeigt, und er hat diese Standfestigkeit auch im Aufbau seiner Diözese bewiesen. Aber eine solche persönliche Geschichte erzieht nicht zu Flexibilität und baut so zwar Brücken zum Aufbau der Diözese, schüttet aber keine Gräben zu zwischen verschiedenen Ansichten über kirchliche Entwicklung.

Die Generation der Helden der Untergrundkirche in Osteuropa kommt allmählich an das Ende ihrer Wirksamkeit. Eine andere Generation wächst heran: Bischöfe und andere Verantwortliche, die auf Menschen zugehen, die im sozialen Bereich Aufbauarbeit leisten und die vor allem untereinander zerstrittene Gruppen aufeinander zuführen. Ein Beispiel hierfür sind die Europaschulen in der Erzdiözese Sarajewo. Die drei Ethnien der Bosniaken, Kroaten und Serben, oder mit anderen Worten die Muslime, Katholiken und Orthodoxen, werden gemeinsam unterrichtet und erhalten vor allem eine Zusatzausbildung über die Geisteskultur der jeweils anderen Volksgruppen. Dies und die jahrelange schulische Gemeinsamkeit sollen den Weg ebnen, sodass zwischen den Ethnien wieder Brücken möglich werden.

Für eine derartige Vermittlung ist es wichtig, dass sich nicht nur Großgruppen gegenüber stehen, sondern dass – gleichsam als Katalysatoren – Kleingruppen das Gespräch der Großgruppen untereinander ermöglichen. Das zeigt sich bei den Interreligiösen Räten in Bosnien und im Kosovo. In beiden Fällen ging die Initiative vom katholischen Ortsbischof aus. In Bosnien treffen sich im Interreligiösen Rat der katholische Erzbischof, der orthodoxe Metropolit und der muslimische Reisu-l-ulema. Der Katalysator aber, der das möglich macht, ist der Rabbi für die Kleingruppe von 1.000 Juden. Er hat keine Macht und gerade darum ist er die Kraft, die alles zusammenhält. Ähnlich ist es im Kosovo zwischen den albanischen Muslimen und den serbischen Orthodoxen, wobei dort die albanischen Katholiken die Kleingruppe bilden, die mit einem Bevölkerungsanteil von fünf Prozent eine Katalysatorfunktion erfüllt, nicht aber Machtfaktor bedeuten kann.

Schwieriger ist es, Brücken zu schlagen zwischen Kirchen, die sich als Mehrheits- und Minderheitskirchen gegenüber stehen. In manchen Ländern ist es notwendig, zwischen den mit dem Papst verbundenen katholischen Kirchen solche Brücken zu bauen. Das gilt für lateinische Christen ebenso wie für unierte. Die Schwierigkeit besteht vor allem dann, wenn die eine Kirche eindeutig Mehrheitskirche ist und die andere sehr viel kleiner. In der Ukraine, in Weißrussland, in Polen, in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien und auf dem Balkan bestehen solche Verhältnisse. Der Brückenbau gelingt in einem Fall mehr, im anderen weniger.

Das Verhältnis zwischen katholischen und orthodoxen Kirchen ist noch mehr von der Notwendigkeit geprägt, einen modus vivendi zu finden. Die Verbindungen zwischen Kirchen und staatlichen Organen machen die Suche nach einem Ausgleich nicht leichter. Meine Kontakte mit dem Moskauer Patriarchen und die Gespräche des Stellvertretenden Geschäftsführers von Renovabis, Herrn Dr. Gerhard Albert, mit dem Patriarchen in Belgrad gestalteten sich immer sehr freundlich und positiv. Gleiches gilt von anderen orthodoxen Kirchenführern. Auch bei der Finanzierung von Projekten hat Renovabis gute Erfahrungen gemacht. Wo allerdings Partner vor Ort zusammenarbeiten müssten, da sind die Erfahrungen, wohl auch aufgrund mentaler Verschiedenheiten, zuweilen weniger positiv. Immer aber werden auch sehr positive Beispiele angeführt: Brücken des täglichen Zusammenlebens ohne Unterschiede, tägliche Arbeit ohne Gräben, zunehmend Eheschließungen über alle Verschiedenheit hinweg, der isoliert lebende katholische Priester, der beim orthodoxen Ortsbischof zur Beichte geht, gegenseitige Glückwunschbesuche von Vertretern der verschiedenen Kirchen an den wechselseitigen Festtagen. Besonders ermutigend sind die Berichte von den Schauplätzen des Hasses auf dem Balkan, wo von kirchlichen Würdenträgern die gegenseitige Hilfe und das gemeinsame beruhigende Einwirken auf die aufgeregten Gemüter berichtet werden. Bei solchen Kontakten war ich selbst Zeuge, bis hin zum frühmorgendlichen Besuch eines Metropoliten im katholischen Bischofshaus, um dem Papst zu begegnen, als das offizielle Gespräch noch nicht möglich war.

Partnerschaften in Deutschland für Mittel- und Osteuropa

Der Auftrag von Renovabis bezieht sich nicht nur auf die Menschen, die Kirchen und die Länder in Mittel- und Osteuropa, sondern ebenso auf die Menschen in Deutschland und ihre Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa. Von allem Anfang an konnte ich feststellen, wie groß die Hilfsbereitschaft in Deutschland für Menschen in Mittel- und Osteuropa ist. Zahlreiche Partnerschaften sind entstanden. Gemeinschaften aller Art, allen voran die Vertriebenenorganisationen, bemühen sich um den Bau von Brücken.

Auf der anderen Seite kann aber auch die Scheu vor dem Fremden nicht übersehen werden. Leider werden so mitunter Vorurteile aufgebaut und gepflegt. Das Unbekannte wird oft als bedrohlich empfunden. Das schafft Gräben, die es zu überbrücken gilt. In der eigenen Familie habe ich es erlebt: Als es mir gelang, Reisen über unsere Grenzen nach Osten und Südosten zu organisieren, da entstand bei den Reisenden Interesse und Anerkennung für das, was sich jenseits der Grenzen entwickelt und was man dort findet. Vor Jahren hat Renovabis mit dem Austausch von Seelsorgern mit Polen und der Tschechischen Republik begonnen, und alle Teilnehmer kamen begeistert zurück. Sie haben Neues gesehen und Neues gelernt und wurden zu Freunden ihrer Gastgeber. Bei diesem Austausch geht es nicht um Seelsorgsaushilfe, sondern um ein Kennenlernen, das nicht von Sprachkenntnissen abhängt.

Doch grundsätzlich ist es richtig, dass Sprache als Vehikel des Verständnisses eine große Bedeutung besitzt. Immer wenn ich eine Sprache lernte, wurden mir die Mentalitätsunterschiede und das andersartige Denken klarer, die damit zusammenhängen. Darauf kommt es bei den Sprachen an, nicht auf die Möglichkeit, ein Stück Brot zu kaufen. Deshalb ist es bedauerlich, dass nur ganz wenige Schulen in Deutschland die Sprachen unserer östlichen Nachbarn als Wahlfächer anbieten. Wenn wir unsere Nachbarn in ihrer Mentalität nicht verstehen, dann bleibt alles andere Bemühen Stückwerk. Das spüren auch unsere Partner in Mittel- und Osteuropa. Das eine oder andere Mitglied unserer Geschäftsstelle, das sich um die Sprachen unserer Partnerländer bemüht, kann feststellen, wie groß die Überraschung und Freude über diese Bemühung ist: Hier will jemand wirklich auf uns eingehen und nicht einfach westliches Verständnis und westliche Lebensart exportieren.

Im Laufe der Jahre hat Renovabis Menschen aus Mittel- und Osteuropa weit über tausend Studienstipendien gewährt. Gerade bei den Stipendiaten geht es darum, dass sie Brückenbauer, Mittler zwischen den Welten sind. Deshalb verlangen diese Stipendien Nacharbeit, um die Mittlerfunktion auch zu unterstützen: Zurück in ihrer Heimat müssen die Stipendiaten zu Treffen eingeladen, mit Informationen über ihre Gastländer versorgt und zur Weiterarbeit an übergreifenden Themen motiviert werden.

Ausblicke nach acht Jahren Arbeit mit Renovabis für Menschen in Mittel- und Osteuropa

Manchmal werden wir müde, denn immer neue Notlagen zeigen sich, und unsere Kräfte und Mittel sind beschränkt. Ist das nicht eine sinnlose Sisyphosarbeit? Da fällt mir das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Luk 10,30-35) ein, allerdings etwas abgewandelt: Der Samariter sieht den Verletzten, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und ruft: „Gerne würde ich helfen, doch ich weiß, drei Meilen weiter liegt wieder einer und fünf Meilen danach noch einer und so fort. Mein Tragtier kann nur einen tragen oder höchstens zwei, und Öl und Wein für die Wunden reichen auch nicht. Leider – da fange ich gar nicht an“. Die Antwort lautet: „Dein Nächster liegt hier, für die anderen lass‘ den Herrgott sorgen“. Es geht darum, dass wir anfangen, nicht dass wir zu Ende kommen.

Wir dürfen aber auch feststellen, dass Fortschritte erzielt wurden. Man hört immer wieder, der Osten sei ein großes Loch, wo man hineinschaufeln könne, und die Gräben würden doch nicht geschlossen. Ich halte diese Sichtweise für falsch. Natürlich gehen Entwicklungen langsam. Man kann aber auch nicht erwarten, dass Schäden aus jahrzehntelanger Diktatur, aus siebzig Jahren Kommunismus, aus vierzig Jahren Fremdherrschaft in wenigen Jahren überwunden werden. Weder materiell noch geistig gibt es „blühende Landschaften“. Aber Selbstverantwortung und Demokratie breiten sich aus. Kirchliches Leben wächst, auch über die reine Sakramentenspendung hinaus. Freie Bildung wird organisiert, um nur einige Beispiele zu nennen.

Zugleich muss man aber auch erkennen, dass dauernde Verschiedenheiten bleiben, und das ist gut so. Unsere Welt sollte nicht eintönig sein. Die slawische Mentalität, die östliche Spiritualität, das „Atmen Europas mit zwei Lungenflügeln“ wären keine Bereicherung, wenn es keine Verschiedenheit gäbe und nichts Neues entdeckt werden könnte. Der Unterschied zwischen West- und Ostkirche ist nicht ein geschichtlicher Unfall, der überwunden werden müsste, sondern Ausdruck der Verschiedenheit der Mentalitäten. Diese mentale Verschiedenheit hat zur kirchlichen Spaltung geführt und nicht die Spaltung zur mentalen Verschiedenheit. Im Letzten ist menschliche Verschiedenheit ein Zeichen für den Reichtum des Schöpfers. „Gott ist größer als unser Herz“ (1 Joh 3,20), schreibt der Apostel Johannes als Summe seines langen Lebens. Darum sind auch die Arten der Menschen und die Formen ihres Lebens unendlich vielfältiger als unsere Vorstellungen davon, und deshalb kann ökumenische Einigung nicht Vereinheitlichung meinen und europäische Integration nicht nur Erweiterung Westeuropas sein. Allerdings müssen wir noch lernen, das Fremde nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern als Bereicherung.

Schließlich wird man wohl zugeben müssen, dass Marxismus und Kommunismus dauernde Schäden angerichtet haben, die nur sehr langsam heilen. Das geistig-geistliche Menschenbild wird nur ganz allmählich wachsen können. Letztlich geht es um die Versöhnung des Menschen mit sich selbst, dass er nichts verdrängt und nichts auslöscht, sondern zu „geheilter Erinnerung“ findet, zu einem Leben im „Heil“ und aus dem Heil Gottes heraus. Dies ist ein langer Prozess.

Wie mir scheint, gibt es dazu aber gerade jetzt einen Kairos, einen günstigen Augenblick. Sicher ist es wahr, dass die Not in den Ländern der Dritten, Vierten und Fünften Welt viel tiefer verwurzelt ist als die Not in Mittel- und Osteuropa. Ich meine aber, dass die Not in Mittel- und Osteuropa im Augenblick dringender Unterstützung verlangt, weil die Gelegenheit zu einem Wandel jetzt günstig ist. In zehn oder zwanzig Jahren kann der Augenblick verpasst sein, die Zeichen der Hoffnung und des Wandels aufzunehmen und zu verstärken. Der Weg ist langwierig, aber es ist ein Weg. Die Herausforderung heißt jetzt „Europa“. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Ausweitung der Europäischen Union, sondern um das geistige Zusammenwachsen eines Kontinents, der – davon bin ich fest überzeugt – im Laufe vieler Jahrzehnte oder vielleicht auch eines oder zweier Jahrhunderte selbst Russland umfassen wird, zur Bereicherung der Bevölkerung ganz Europas und der Welt. Es geht nicht darum, irgend etwas zu überstürzen, sondern es geht darum, offen zu bleiben oder zu werden.

Was ich für den säkularen Raum erwarte, erwarte ich um so mehr für die Weltkirche. Sie darf nicht eine westeuropäische Kirche bleiben, sie muss die Bereicherung annehmen, die sich ihr nun geschichtlich bietet, und sie muss deshalb wachsen in jene Dimensionen hinein, die die göttliche Vorsehung für sie bereit hält.