Und er führte sie durch das Rote Meer ...

Eine Porträtskizze des Primas von Polen, Stefan Kardinal Wyszyński
aus OWEP 4/2001  •  von Adam Boniecki

Pater Adam Boniecki ist Chefredakteur der in Krakau erscheinenden katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“.

In der dämmerigen Krypta der Warschauer Kathedrale hat jemand auf dem Sarkophag des vor 100 Jahren geborenen, vor 20 Jahren verstorbenen Stefan Kardinal Wyszyński das Band an einem Kranz so ausgebreitet, dass jeder die Aufschrift lesen kann: „Der ungekrönte König Polens“.

Zum ersten Mal sah ich ihn am 6. Februar 1949, als er die Warschauer Pro-Kathedrale (die Kathedrale lag noch in Trümmern) in Besitz nahm. In dem unerhörten Gedränge wussten wir alle: hier vollzieht sich Geschichte. Ich erinnere mich an die tiefe, melodiöse Stimme und die unbekannte Art, sich an die Gläubigen zu wenden: „Kinder Gottes, meine Kinder“. Später hörte ich ihn mehrere Male predigen. Zu Predigten des Primas ging man, denn jede von ihnen war ein Ereignis. Wenn er die Fronleichnamsprozession, die mit einer großen Predigt endete, durch die Warschauer Straßen führte, war die Stadt leer. Alle waren dann mit ihm auf der zur Altstadt führenden Straße Krakowskie Przedmieście. In jenen düsteren Jahren, als es das Hauptprinzip war, auf jedes Wort zu achten oder gar nichts zu sagen, sprach er laut und furchtlos. Er redete von dem, wovon alle wussten: von Unrecht und Erniedrigung. Er sprach voller Ruhe und Kraft. Diese Kraft teilte sich den Zuhörern mit. So habe ich ihn aus den fünfziger Jahren in Erinnerung. Und eine weitere Begegnung ist mir im Gedächtnis: als ich 1956 zur erzbischöflichen Residenz ging, ihn zu begrüßen, nachdem er freigelassen worden war. Keiner der von den Kommunisten eingesperrten Bischöfe ging so in die Freiheit wie er: als Sieger. Er kehrte auf Bitten der Machthaber nach Warschau und Gnesen zurück. Sie waren es, die seine Ruhe und Kraft brauchten. Ich war damals knapp über 20 Jahre alt und weinte vor Rührung, denn ich glaubte, ich schaue den Triumph des Guten über das Böse.

Der Primas hatte natürlich das Gefühl einer Mission, vor allem aber war er eine Persönlichkeit, die zu Hochachtung nötigte. Ja, er war der ungekrönte König Polens. Die Ersten Sekretäre der Partei wechselten, er überdauerte. Er war das unumstrittene Oberhaupt der Kirche in Polen. Nicht das Amt prädestinierte ihn dazu, denn jeder Bischof ist selbstständig, untersteht nur dem Papst. Die Kirche in Polen war damals eine belagerte Festung, in der für Dispute und Trennungslinien kein Platz war. In der belagerten Festung gibt es einen Befehlshaber, und dieser Führungspersönlichkeit gebührt Gehorsam. Seine Strategie war klar: Er wusste, er musste die Nation um das Religiöse und Nationale konzentrieren. Er wusste, in der Zeit der Teilungen Polens war der Ort, an dem die Polen ihre Identität wiederfanden, Jasna Góra – jenes legendenumwobene National- und Marienheiligtum in Tschenstochau. Also scharte er die Nation um Jasna Góra. Ein genialer Stratege? Vielleicht. Aber Kardinal Wyszyński lässt sich nicht verstehen ohne seinen Glauben. Er glaubte. All die Frömmigkeitsakte, zu denen er die Gesellschaft mobilisierte – die Gelöbnisse, die Hingabe an die Muttergottes, die Gebetswachen von Jasna Góra für alle polnischen Pfarreien, die Wanderung der Schwarzen Madonna durch das Land usw. – ergaben sich aus seinem Glauben. Eine Führungspersönlichkeit darf nicht schwanken. Er handelte entschieden, ohne Zwiespalt, weil er dem Herrgott und der Muttergottes vertraute. Er konnte zu den Menschen hart, unangenehm, aber auch voller kluger Sensibilität sein. Als junger Priester erhielt ich von ihm einen strengen Brief, in dem er mich wegen eines Artikels ermahnte. Der Artikel beschrieb ein meiner Meinung nach interessantes Experiment in Frankreich. Und er setzte sich an die Maschine und schrieb diese wenigen zornerfüllten Sätze. Denn es ging um das Bild der Kirche. Er war unermüdlich überall dort gegenwärtig, wo er es für nötig hielt, er war scharfsichtig und konzentriert, hart und doch ungewöhnlich menschlich. Einst läutete bei ihm ein Polizist: Herr Primas, wir haben auf der Straße einen völlig betrunkenen Priester gefunden. Was sollen wir mit ihm tun? Die Antwort: „Verfahre mit ihm, wie du mit deinem Vater verfahren würdest.“

Die Schöngeisterei der Intelligenz war ihm ein Ärgernis. Das Milieu, in dem ich lebte, und die Zeitschrift, in deren Redaktion ich arbeitete, waren fasziniert vom Zweiten Vatikanischen Konzil. Leidenschaftlich beschrieben wir die Erfahrungen Frankreichs und der Niederlande. Wir kritisierten seinen – wie wir meinten – Triumphalismus. Er aber versammelte in Tschenstochau Millionen. Die Seminare waren voll, die aus Spenden lebende Katholische Universität Lublin konnte wirken. Bei den kommunistischen Machthabern weckte der Primas Furcht, wenngleich sie über alle Machtmittel verfügten. Er schlug sie durch seine Rechtschaffenheit, sein selbstloses Engagement und durch Klugheit. Deshalb gingen alle Parteichefs, wenn sie sich bedroht fühlten, zu ihm: Bierut, Gomułka, Gierek, Jaruzelski.

Johannes Paul II. wusste: Ohne diesen Primas des Millenniums hätte es keinen polnischen Papst gegeben. Denn wegen des Primas war die Kirche so, wie sie war: eine außergewöhnliche Erscheinung in den Ländern des realen Kommunismus. Berühmt ist die Szene, als Johannes Paul II. vor dem ihm huldigenden Primas auf die Knie fällt und seine Hand küsst. Eine spektakuläre Geste? Johannes Paul II. pflegt keine Gesten zu machen, an deren Sinn er nicht glaubt. Diese Geste umschließt die lange Geschichte ihrer Zusammenarbeit. Wenngleich sie sich in vielen Dingen unterschieden, viele Dinge anders sahen, wenngleich – wie sich denken lässt – manchmal der Stil des einen den anderen ärgern konnte, so waren sie doch tatsächlich gemeinsam, schenkten sich Respekt und Sympathie, denn sie brauchten in keiner Hinsicht miteinander zu rivalisieren. Als dem Primas die Erlaubnis für die Reise zur Synode nach Rom verweigert wurde, fuhr Wojtyła zum Zeichen der Solidarität ebenfalls nicht. Man mag sich überlegen, durch welches Wunder dem Land Polen ein solcher Mann der Vorsehung zuteil wurde. Hat die Gesellschaft, die die Notwendigkeit einer Führungspersönlichkeit spürte, sich ein solches Bild vom Primas geschaffen, oder war er tatsächlich der Mann, den uns die Vorsehung gab? Sein Lebenslauf beantwortet bis zu einem gewissen Grade diese Frage. Es bleibt eine Tatsache, dass er in jenen schrecklichen Zeiten da war und in der Geschichte seines Volkes eine entscheidende Rolle spielte. Er führte es durch das Rote Meer. Leider waren die Israeliten nach dem Zug durchs Rote Meer weder besser noch klüger. Eher im Gegenteil ... Erst die zweite Generation erreichte das Gelobte Land. Und dennoch musste man, damit die zweite Generation das Ziel erreichte, die erste aus dem Haus der Unfreiheit führen. Dies tat der Primas.

Ein Organistensohn wird Primas

Geboren wurde er am 3. August 1901 als Sohn eines Organisten in der kleinen Ortschaft Zuzela am Bug. Polen war damals unter drei Mächte aufgeteilt. Zuzela lag im russischen Teilungsgebiet. Er hatte drei Schwestern. Die Mutter starb 1910 bei der Geburt des fünften Kindes, das nur wenige Tage lebte. Ab 1912 besuchte Wyszyński eine Oberschule in Warschau. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wechselte er an das Gymnasium von Łomża in dem von den Deutschen besetzten Gebiet. Dort engagierte er sich für Aktivitäten der geheimen, nach Unabhängigkeit drängenden Pfadfinder. Von der deutschen Polizei ertappt, wurde er mit 25 Peitschenhieben bestraft.

In jener Zeit beschloss er, Priester zu werden. Er wechselte an das Kleine Seminar Włocławek und trat 1920 in das dortige Priesterseminar ein. Wegen einer schweren Lungenkrankheit wurde er allein, später als die übrigen Studienkollegen, am 3. August 1924 geweiht. Einige Monate arbeitete er als Vikar an der Kathedrale. Er unterrichtete die Kinder von Arbeitern. Damals begegnete er zum ersten Mal dem Elend der Arbeiter. Zum weiteren Studium wurde er an die Katholische Universität Lublin geschickt, wo er an der Fakultät für Kirchenrecht und Sozialwissenschaften studierte und nach vier Jahren promoviert wurde. In Lublin schloss er sich der katholischen Jugendvereinigung „Odrodzenie“ (Erneuerung) an, die die künftige katholische Elite Polens vereinte. Dort lernte er jene kennen, die in Zukunft eine wichtige Rolle in der polnischen Kultur – auch in kommunistischen Zeiten – spielen sollten. Eine Reise durch die Länder Westeuropas (Italien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Niederlande) ergänzte die Ausbildung des jungen Theologen. Ihn interessierten hauptsächlich soziale Probleme sowie die Funktionsweise der Katholischen Aktion und der christlichen Gewerkschaften. Nach der Rückkehr in die Heimat (1930) lehrte er Sozialwissenschaften am Geistlichen Seminar in Włocławek, war Redakteur der Monatszeitschrift „Ateneum Kapłańskie“ und wirkte unter Arbeitern in den christlichen Gewerkschaften.

Die Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg hinterließ in der Diözese Włocławek schmerzliche Spuren. Zahlreiche Geistliche kamen in deutschen Konzentrationslagern um. Dem von der Gestapo gesuchten Priester Wyszyński gebot der Bischof, sich zu verstecken. Er tauchte während des ganzen Krieges bei Warschau unter, dort betrieb er in der Konspiration Bildungsarbeit, ab August 1944 war er Militärseelsorger bei der im Untergrund wirkenden Heimatarmee. Nach Kriegsende kehrte er nach Włocławek zurück, reorganisierte das zerstörte Geistliche Seminar und wurde dessen Rektor. 1946 ernannte ihn der Papst zum Bischof von Lublin.

Am 22. Oktober 1948 starb der bisherige Primas von Polen, Kardinal Hlond. Sein Nachfolger wurde der jüngste polnische Bischof: Stefan Wyszyński. Als Erzbischof von Gnesen und Warschau ließ er sich in Warschau nieder. Im Begrüßungsbrief an die Diözesanen schrieb er: „Ich bin weder Politiker noch Diplomat noch Funktionär noch Reformer. Dagegen bin ich euer geistiger Vater, der Hirte und Bischof eurer Seelen, ich bin Apostel Jesu Christi.“

In Polen endete die erste Konsolidierungsetappe der kommunistischen Macht. In den Jahren 1944-1947 hatten die Kommunisten die katholische Kirche zwar als Gegner gesehen, sich aber offiziell um gute Beziehungen zu ihr bemüht. Zuerst hatten sie ihre ganze Energie darauf verwandt, den antikommunistischen Untergrund, den bewaffneten Widerstand und die legale Opposition zu liquidieren. Tausende von Menschen wurden eingesperrt und ermordet, die offene Opposition beseitigt. 1947 verkündete Sicherheitsminister Stanisław Radkiewicz vor dem Führungsaktiv seines Ressorts, dass die katholische Kirche jetzt der Hauptgegner sei. Nicht enden wollende Schikanen nahmen ihren Anfang. Man raubte der Kirche die Caritas, schloss katholische Schulen, schuf Priesterorganisationen zur Kollaboration mit dem Regime. Schon 1945 hatten die polnischen Behörden verkündet, das Konkordat der Vorkriegszeit sei vom Hl. Stuhl zerrissen worden, weil dieser während der deutschen Besatzung einen deutschen Bischof für die Diözese Kulm ernannt und für die deutschen Katholiken in Großpolen einen Deutschen als Apostolischen Administrator eingesetzt habe. Gleichzeitig war zu beobachten, wie der Prozess zur Vernichtung der katholischen Kirche in anderen sozialistischen Ländern fortschritt. Besonderen Eindruck machten Verhaftung und Prozess gegen den ungarischen Kardinal Mindszenty (1948). In Polen wurden Priester verhaftet, Bischöfe inhaftiert oder interniert.

1950: ein riskanter Schritt

Ab 1949 verlangte die kommunistische Partei ein Abkommen zwischen Staat und Kirche. Wegen wachsender Repressalien entschloss sich der Primas zum Abschluss einer „Übereinkunft“. Sie wurde am 14. April 1950 von Vertretern des Episkopats und des Staates unterzeichnet. Das war ein präzedenzloser Akt in der Kirchengeschichte. Das „Abkommen“ stellte das einzige Rechtsdokument dar, das den Status der Kirche in Polen beschrieb und die Respektierung der Religionsfreiheit im Ausgleich für eine erklärte Loyalität der Kirche gegenüber dem Staat garantieren sollte. Nicht alle Bischöfe standen hinter dem Kompromiss. Der Krakauer Kardinal Sapieha z. B. meinte, dieses Zugeständnis gehe zu weit. Auch der Hl. Stuhl verhielt sich gegenüber der Entscheidung des Primas mit großer Reserve. Erst sein Besuch in Rom im April 1951 und seine Gespräche mit Pius XII. boten Gelegenheit, die Lage der Kirche und die unternommenen Schritte zu erläutern. Der Papst erkannte die Gründe des Primas an und erteilte ihm eine Reihe außergewöhnlicher Vollmachten. Er soll damals gesagt haben: „Polonia farà da se“ (Polen wird selbständig handeln). Die Behörden verstießen ständig gegen das „Abkommen“, während sie zugleich der Kirche dessen Bruch vorwarfen. Am 29. November 1952 verkündete Pius XII. dann die Ernennung Erzbischof Wyszyńskis zum Kardinal. Die Behörden verweigerten ihm jedoch die Reise nach Rom.

Das Nein des Primas und die Folgen

Am 9. Februar 1953 erließen die Kommunisten ein Dekret über die Besetzung aller kirchlichen Posten. Indem sie die Kirche als staatsabhängige Institution behandelten, versuchten sie sie zu ihrem Instrument zu machen. Dieses Februar-Dekret trat trotz Widerspruchs der kirchlichen Seite sofort in Kraft. Der Primas und die noch in Freiheit befindlichen Bischöfe äußerten entschiedenen Protest gegen diese Einmischung in die innere kirchliche Jurisdiktion. In dem berühmten Brief an die Behörden vom 8. Mai 1953 schrieben sie: „Und wenn es geschehen sollte, dass äußere Stellen es uns unmöglich machen, geeignete und kompetente Menschen auf geistliche Posten zu berufen, dann sind wir entschlossen, diese überhaupt nicht zu besetzen, statt dass wir die religiöse Leitung der Seelen in unwürdige Hände gäben. Wer aber sich unterstehen würde, irgendeinen kirchlichen Posten von anderer Seite entgegen zu nehmen, der soll wissen, dass er dadurch unter die schwere Strafe des Kirchenbannes fallen wird ... Es ist uns nicht erlaubt, göttliche Dinge auf den Altären des Kaisers zu opfern. Non possumus!“ Dennoch suchte man weiter nach einem Kompromiss, einem modus vivendi, und die Bischöfe erklärten sich bereit, „staatliche Gelöbnisse“ abzulegen. Der Staat hielt dies für ein Zeichen der Schwäche und forderte die absolute Unterordnung unter das Dekret. Wegen seiner standhaften Weigerung wurde Primas Wyszyński in der Nacht des 25. November 1953 verhaftet und heimlich aus Warschau abtransportiert. Pius XII. exkommunizierte alle, die zu seiner Inhaftierung beigetragen hatten.

Mehr als zwei Jahre (bis Ende 1955) war der Primas – ohne Prozess und Gerichtsurteil – vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Man hielt ihn in Rywałd/Rehwalde fest, danach in Stoczek/Springborn bei Lidzbark Warmiński/Heilsberg im Ermland, wo er ernsthaft erkrankte. Im Oktober 1954 wurde er in den Süden Polens nach Prudnik Śląski/Neustadt an der Prudnik geschafft. Außer dem Primas hielten die Behörden in den Jahren 1953-1956 acht Bischöfe in Haft. Im Oktober 1955 befand sich der Primas im südostpolnischen Komańcza im Hause von Ordensschwestern. Er konnte Gäste empfangen, durfte jedoch den Ort nicht verlassen. Die Haftzeit nutzte er für die Ausarbeitung eines großen, betont marianisch ausgerichteten Seelsorgeprogramms für die Kirche Polens, das an das nahende Millennium der Taufe Polens anknüpfte. Dort schrieb er den Text für die Gelübde der Nation. Sie wurden am 26. August 1956 auf Jasna Góra von einer Millionenschar Pilger feierlich abgelegt. In der Mitte vor dem Altar auf den Wällen des Klosters von Tschenstochau hatte man den leeren Stuhl des Primas aufgestellt. Darauf lag ein Strauß Rosen.

Das Volk fordert seine Freilassung

Als es im Oktober 1956 zu einer starken politischen Spannung in Polen kam, was den neuen Parteiführer Władyław Gomułka an die Macht brachte, forderten die Gläubigen die Freilassung des Primas. Die Ereignisse in Ungarn bewegten die öffentliche Meinung so, dass es offensichtlich nur ihm gelingen konnte, die aufgewühlte Stimmung zu beruhigen und so Polen vor einer sowjetischen Intervention zu retten. Der neue Parteichef erklärte sich mit den Bedingungen des Kardinals einverstanden. Alle Bischöfe kehrten in ihre Diözesen zurück, die Behörden kassierten das Februar-Dekret von 1953 und stimmten der Schaffung einer Gemeinsamen Kommission von Staat und Kirche zu. Ende Oktober 1956 kehrte der Primas nach Warschau zurück. Im Dezember 1956 unterschrieb man ein Dokument, das die grundlegenden Beziehungen zwischen Staat und Kirche regelte. Im Mai 1957 begab sich der Primas nach Rom. Es war eine Triumphreise. Am 18. Mai 1957 überreichte Pius XII. Wyszyński die Kardinalsinsignien.

Im August 1958 geschah etwas, was fast Routine war. Der Primas ließ den auf einer Kajakfahrt befindlichen Professor Karol Wojtyła zu sich rufen und informierte ihn über seine Ernennung als Weihbischof in Krakau. 1964 stellte er ihn dem Hl. Stuhl als einen von drei Kandidaten für den Krakauer Metropolitansitz vor, wobei er anmerkte, er selber bevorzuge Wojtyła.

1957 begann die Vorbereitung auf das Jubiläum des Millenniums der Taufe Polens. Ein Element der Vorbereitungen bestand darin, dass eine Kopie des Muttergottesbildes von Tschenstochau durch alle Pfarreien Polens wandern sollte. Dies wurde zu einer unerwartet lebhaften Mobilisierung der geistigen Kräfte. Die Wanderung des Bildes durch das Land erfreute sich bei der gläubigen Bevölkerung eines so großen Zuspruchs, dass die kommunistischen Behörden schließlich das wandernde Bild requirierten und auf dem Gelände des Klosters von Tschenstochau „inhaftierten“, wo es von der Polizei bewacht wurde. Im übrigen vergeblich, denn nach einigen Jahren wurde es gestohlen und zog weiterhin durch Polen. Während der „Verhaftung“ des Bildes dauerte die Wanderung durch das Land an, und ein leerer Rahmen erinnerte dort, wo das Bild stehen sollte, an das zugefügte Unrecht. Zu den Hauptfeierlichkeiten des Millenniums am 3. Mai 1966 sollte Paul VI. kommen, doch die polnischen Behörden verboten ihm die Einreise. Die auf Jasna Góra begangenen Millenniumsfeierlichkeiten mit über einer Million Menschen wurden für die Kirche zum Symbol des geistigen Sieges. Die Menschen fühlten sich innerlich frei, sie hatten ihre Identität wiedergefunden.

Wyszyński und das Konzil

Kardinal Wyszyński war von Anfang an aktiv am Konzil beteiligt. Er nahm an allen Sessionen teil und leitete die Arbeit der teilnehmenden polnischen Bischöfe. Dort akzeptierte man auf Initiative des Primas das Prinzip kollektiver Arbeit. Die Bischöfe sprachen im Namen der ganzen Gruppe, wobei sie natürlich die Möglichkeit ließen, dass einzelne Bischöfe in eigenem Namen das Wort ergriffen. Fast jeden Tag notierte Wyszyński in seinem Tagebuch Reflexionen. Ein bedeutender Teil dieser Aufzeichnungen ist heute zugänglich, woraus Einzelheiten über seine Einstellung zum Konzil entnommen werden können. Zweifellos wusste er die Bedeutung des Ereignisses zu schätzen, wenn er es in der Perspektive der kirchlichen Erfahrungen in Polen sah und die Strategie für die Verwirklichung der Konzilsbeschlüsse in Polen bedachte. Der Primas kam vom Kampffeld zum Konzil. Im Kampf um das Überleben der Kirche im kommunistischen Polen war er der Hauptstratege. Auf dem Konzil fühlte er sich als Experte für Fragen des Kommunismus, und als solcher galt er. Z. B. berichtete er auf einer geschlossenen Sitzung über die Lage der Kirche in den unter sowjetischer Machthoheit stehenden Ländern. Fügen wir hinzu, dass im Westen die Kenntnis der Verhältnisse recht begrenzt war.

Man darf annehmen, dass die westliche Welt (und Kirche) beim Primas ein gewisses Misstrauen weckte. Der Kommandant einer belagerten Festung wusste, dass Experimente, Streitigkeiten, ja sogar Veränderungen eine Bedrohung für die Einheit, also der Beginn einer Niederlage sein können. Bei der Vermittlung des Konzils an die Gläubigen in Polen betonte der Primas nachdrücklich dessen religiösen Aspekt. Ihn ärgerten die instrumentalisierenden politischen Berichte der Regimepresse, die der Konzilsdebatte eine rein politische Bedeutung zu geben versuchte. Auch ging es darum, das Konzil in das Pastoralprogramm der Kirche in Polen hineinzuschreiben. Deshalb wurde die Vermittlung des Konzils eng mit den Vorbereitungen auf das Millennium des Christentums in Polen verbunden. Er selbst wollte vor allem den Aspekt der Solidarität mit der Gesamtkirche herausstellen. Er kündigte also (mit Erfolg) nationale Gebete für das Konzil unter der Bezeichnung „Konzilswachen“ an. Im Rahmen dieser Gebetsaktion kamen Millionen Gläubige – als Diözesan-, Pfarr- und Standesgruppen – zu nächtelangen Gebeten für das Konzil nach Jasna Góra. Er ließ „Bücher der guten Tat für das Konzil“ anlegen, wodurch er den guten menschlichen Willen im Zusammenhang mit der Konzilsidee mobilisierte. In diesem Geiste sprach er über das Konzil.

Veränderungen ging er mit großer Vorsicht an. Das wurde besonders auf zwei Gebieten sichtbar: bei der Erneuerung der Liturgie und der Neubestimmung des Ortes für die Laien in der Kirche. Er fürchtete eilige Veränderungen, und zur Irritation vieler, auch des Verfassers, schien er Veränderungen zu hemmen. Er fürchtete die Wiederholung des Szenario aus jenen Ländern, wo die Entfernung des Lateins und die erneuerten Riten eine große Zahl Menschen von der Kirche weg trieben. Er wollte auch nicht, dass Laien eine Entscheidungsrolle in der Kirche übernahmen. Um Laien keinen Gefahren auszusetzen? Ja, aber auch deshalb, um die Kirche vor der Infiltration durch Agenten des Regimes zu schützen. Die Zentralisation der Entscheidungen, die Selektivität der Informationen aus der Welt verärgerten Gruppierungen von katholischen Laien, die der Kirche treu ergeben waren. Wyszyńskis Vision von Kirche stützte sich auf die Vision der Enzyklika „Corpus Christi Mysticum“. Die Perspektive des Konzils, in der die Kirche als „Volk Gottes“ gesehen wurde, war dem Primas wohl nie besonders nahe.

Eine Frucht der Konzils-Erfahrungen und -Begegnungen war die Einladung an alle Bischöfe der Welt, an der Feier des Millenniums der Taufe Polens teilzunehmen. Der entsprechende Brief an den deutschen Episkopat fand in Polen erst später seine rechte Wertung und Würdigung. Dieser Brief, der den berühmten Satz „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ enthielt, versetzte die polnischen Behörden in Wut. Sie konnten sich nicht damit abfinden, dass die Bischöfe es wagten, als Vertreter der Nation auf dem internationalen Forum zu agieren.

Für die „Solidarność“ – gegen Radikalität

Am 16. Oktober 1978 wurde der Pole Kardinal Karol Wojtyła auf den Stuhl Petri gewählt. Während des Konklaves hatte der Primas ihn ermuntert, im Falle der Wahl positiv zu reagieren. Die Behörden der Volksrepublik Polen hatten ziemlich lange die Illusion gehabt, sie könnten den Primas in Konflikt zu dem offenen und „modernen“ Krakauer Metropoliten bringen. Daraus wurde nichts. Beide bekundeten, solidarisch in Dingen der Kirche, ihre Einmütigkeit. Die Behörden hatten zuvor erwartet, der Krakauer Metropolit könnte als nächster Primas ein leichterer Partner werden. Doch bald zerstob auch diese Illusion. Als Kardinal Wyszyński das kanonische Alter erreicht hatte, das den Amtsverzicht erforderte (75 Jahre), wandten sich die polnischen Behörden an den Hl. Stuhl mit der Bitte, er möge seine Funktionen weiter ausüben können. Schließlich kam die Wahl Wojtyłas zum Papst. Zur Legende wurde der erleichterte Seufzer eines hohen Parteifunktionärs, man würde mit Wojtyła im Vatikan leichter zurecht kommen, als wenn er vor Ort als Primas wirkte. Bekanntlich hat er sich völlig geirrt. Es kam die Zeit der „Solidarność“, der Streiks. Der Primas unterstützte die entstehende unabhängige Gewerkschaft, stellte sich vor Wałęsa und engagierte sich persönlich für die Registrierung der „Bauern-Solidarność“. Inständig warnte er jedoch vor übergroßem Radikalismus. Einst sagte er zu mir, er fürchte nicht so sehr den Einmarsch sowjetischer Truppen als vielmehr Wirtschaftssanktionen. Er wusste, dass die polnische Industrie sich auf sowjetische Rohstoffe stützte. Wenn man Polen davon abschnitt, mussten Hunger und Not die Folge sein. Allerdings nahmen Aktivisten der „Solidarność“ seine ständigen Appelle zum Maßhalten mehr als einmal übel.

Der erste Papstbesuch in Polen (Juni 1979) war nach dem Millenniumsfeierlichkeiten die zweite und noch viel stärker wahrgenommene Gelegenheit für die polnische Gesellschaft, sich der eigenen Kraft bewusst zu werden. Das waren für Primas Wyszyński große und glückliche Tage. Dann kam die schwere Krankheit. Eine Woche vor seinem Tode sagte er als Abschied zum Ständigen Rat der Bischofskonferenz: „Ich hinterlasse keinerlei Programm, damit mein Nachfolger durch kein Programm gefesselt sei. Er muss die Lage Polens und der Kirche von Tag zu Tag erkennen und entsprechend ein Arbeitsprogramm aufstellen ...“ Er starb am 28. Mai 1981 am Himmelfahrtsfest. Am 31. Mai fand auf dem Siegesplatz in Warschau, wo der Papst zwei Jahre zuvor die hl. Messe gefeiert hatte, das Begräbnis des Primas des Millenniums statt – ein Begräbnis, das eines Königs würdig war.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.