Not-wendige Visionen

aus OWEP 2/2002  •  von Eva-Maria Kiklas

Eva-Maria Kiklas, Radiologieassistentin i. R., engagiert sich im gesellschafts- und kirchenpolitischen Bereich.

Erinnerung an die Zeit der „Wende“

Ich bewahre sie auf wie andere ihren Hochzeitsstrauß: eine einfache weiße Haushaltskerze in einem aufgeschnittenen Plastikbecher, die letzte „Demo“-Kerze vom Februar 1990, Erinnerung an eine Hoch-Zeit in meinem Leben, nur vergleichbar der Zeit der großen Liebe. Es war eine Zeit der großen Gefühle, der großen Erlebnisse, der großen Hoffnungen und Erwartungen. Ich erinnere mich der ersten Demonstration, die von soviel Angst besetzt war, weil noch „verboten“, die noch nicht begleitet war von Leuten des Neuen Forums mit den Spruchbändern „Keine Gewalt“. Wenn der Zug ins Stocken geriet, fragten wir uns bange, was wohl die Ursache sei. Gab es am Kopf etwa schon Auseinandersetzungen mit der Polizei? Würde sich wiederholen, was 14 Tage vorher auf dem Fetscherplatz passiert war, als die Demonstranten in eine Falle gerieten, von der Polizei erwartet und umzingelt worden waren? Doch es gab keine Gewalt mehr, auch nicht, als die aufgebrachte Menge an den Gebäuden der Polizei vorbeimarschierte und ihren Zorn mit skandierten Rufen und mit Kerzen, die sie an diesen Gebäuden abstellte, zum Ausdruck brachte.

Während der folgenden vier Monate war ich fast jeden Montag in Dresdens Innenstadt mit im Zuge der Menschen, die plötzlich aus 40 Jahren Stagnation, Passivität und Angst erwacht waren, die das Joch eines totalitären Unrechtsregimes abschütteln wollen – mit Gewaltlosigkeit, mit Solidarität, mit brennenden Kerzen. Und welche Hoffnungen, welche Visionen entstanden in diesen Nächten auf den Straßen und Brücken Dresdens, in den Kirchen und auf den Kundgebungen, wenn wir Worten lauschten, die wir zwar alle heimlich gedacht, aber nie öffentlich auszusprechen gewagt hätten, wenn Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten den Mut fanden, vor Tausenden von Menschen zu sprechen.

Und welche Solidarität, welche Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit verband uns, die wir nebeneinander liefen, wenn wir einander die ausgelöschten Kerzen wieder anzündeten, wenn wir halfen, wo es nötig war, auch denen am Straßenrand, wenn sie uns brauchten, wenn wir spürten, dass der andere neben uns genauso dachte, fühlte wie wir! Mir war immer, als müsste ich meine Hände schützend halten über diese Menschen, denen es ohne Blutvergießen, ohne Gewalt, ohne Terror gelungen war, eine Macht zu stürzen, die so fest, so untastbar, so totalitär schien durch die Ketten der Angst, die sie einem Volke angelegt hatten. Waren es noch dieselben Menschen, die 40 Jahre lang duldsam, geduckt, angepasst und unauffällig in diesem Staate sich so vieles an Unfreiheit gefallen gelassen hatten? Und die Menschen, die in den Kirchen Dresdens zusammengekommen waren, deren heftigster Beifall der Forderung galt: „Unseren Kindern soll in den Schulen kein Feindbild mehr aufoktroyiert werden“, waren es dieselben, von denen man geglaubt hatte, dass viele Ideale im alltäglichen Versorgungsdenken verschüttet worden waren?

In mir entstand die Vision, dass diese Menschen nun die Kraft haben werden, etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes zu schaffen, ein Gemeinwesen, in dem die alten, bisher noch nie eingelösten Forderungen der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ endlich lebbare Realitäten werden würden.

Als mich nach meiner großen Enttäuschung einer fragte: „Hast du wirklich geglaubt, dass sich die Menschen so grundlegend ändern?“, da antwortete ich: „Ja, das habe ich geglaubt.“ Ich selbst war eine andere geworden. Vorher war ich politisch nicht sonderlich interessiert. In den Medien und der Presse waren nur Phrasen zu hören und zu lesen; und jede Verweigerung, alles Tun waren vom Gefühl der Ohnmacht begleitet. Nun erlebe ich durch mein Mittun, dass sich unser Welt veränderte, dass sich das Rad der Geschichte bewegte, indem viele Hunderte in die Speichen griffen. Ich fühlte in mir Kräfte wach werden, ich begann mich verantwortlich zu fühlen für das, was geschah. Diese „friedliche Revolution“, wie ich sie so gern nenne, füllte meine Gedanken völlig aus. Ich fühlte mich hineingenommen in den Ruf: „Wir sind das Volk“.

Alltag in der DDR ...

Ich war acht Jahre alt gewesen, als ich in einem kleinen Gebirgsdorf im Hause meiner Großeltern, in das wir aus einer schlesischen Stadt 1945 geflüchtet waren, den Zusammenbruch des Dritten Reiches erlebte. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen prägten meine Kindheit und Jugend. 1946 mussten wir Schlesien verlassen, kamen in eine sächsische Industriestadt, wo ich die Grund- und Oberschule besuchte. Ich las viel und ging leidenschaftlich gern ins Theater, spielte auch selbst in Laienspielgruppen, sodass mein Berufswunsch in diese Richtung tendierte. Zuerst wollte ich Dramaturgie, dann Germanistik studieren. Von ersterem riet mir mein Seelsorger ab mit der Begründung, dass dieser Beruf eine eindeutige ideologische und parteiliche Ausrichtung erforderte. Auf eine entsprechende Befürwortung durch meinen damaligen Schuldirektor durfte ich nicht hoffen. Ihm waren meine Aktivitäten in der kirchlichen Jugendarbeit bekannt und führten zu einigen harten Auseinandersetzungen. Auch mein zweiter Berufstraum ließ sich nicht verwirklichen. Da ich während meiner Oberschulzeit zweimal an Tuberkulose erkrankt war, ergriff ich die Möglichkeit, in einer Umschulungsheilstätte den Beruf einer Radiologieassistentin zu erlernen. Obwohl dieser Beruf von meinem Traumberuf weit entfernt war, übte ich ihn doch bald mit viel Freude und Erfolg aus. In meiner Freizeit engagierte ich mich wieder sehr intensiv in der Kirche, besonders in der Kinder- und Jugendarbeit. Das führte natürlich hin und wieder zu kleinen Konfrontationen mit der herrschenden Ideologie und ihren Vertretern im Arbeitsbereich. Ich musste aber feststellen, dass meiner konsequenten Haltung Respekt gezollt und ich dadurch nie zu Dingen gezwungen wurde, die ich ablehnen musste. Diese Erfahrung durfte ich auch viele Jahre später machen, als ich bereits in Dresden arbeitete und zur Stasimitarbeit gewonnen werden sollte. Es waren wohl meine zahlreichen Kontakte und das gute Verhältnis zu allen Mitarbeitern, die mich für die Staatssicherheit interessant machten. Doch mein „Verbrechen“ – ich hatte auf meiner Arbeitsstelle mehrere Telefonate einer Freundin, die „ausgereist“ war, entgegengenommen – war zu geringfügig, als dass man mich ernsthaft damit erpressen konnte. So hatte ich das Glück, dass es trotz der Drohung des Beamten, noch einmal miteinander zu sprechen, bei einer Unterredung blieb. Aber diese Begebenheit und die Versicherung des Beamten, man hätte mich lange genug beobachtet, machte mir schon ein wenig Angst.

In dieser Zeit sah ich auch einmal beim Nachhausekommen das Auto vor meinem Haus parken, in dem zwei Männer saßen. Galt ihre „Wache“ mir? Oder konnte die Aufmerksamkeit eines Mannes, der sich die Autonummern meiner Gäste notierte, die sich in einem monatlichen Literaturkreis bei mir versammelten, für uns alle gefährlich werden? Es war uns allen klar, dass wir gegen das bestehende Versammlungsgesetz verstieß. Aber keinen der 15 bis 25 Leute hielt dies ab, zu diesen Abenden zu kommen. Waren sie doch auch ein Freiraum, wo neben dem Thema Literatur auch die Politik einen breiten Raum einnahm und wir uns gegenseitig ermutigten und bestärkten.

Auch in öffentlichen kulturellen Bereichen, wie im Theater, in literarischen und kabarettistischen Veranstaltungen, in Bereichen der bildenden Kunst und der Volkshochschule fanden ich und meine Freunde Felder, auf denen wir ein Stückchen Freiheit und Aufbegehren, Mut und Hoffnung erleben konnten. All das war mir natürlich nur möglich geworden durch meine Übersiedlung nach Dresden, nach der Berufung zur Referentin für Jugendarbeit im Bistum Meißen im Jahre 1967.

Diese Jahre wurden die entscheidendsten meines Lebens, die kreativsten und intensivsten, die mir neue geistige Horizonte eröffneten und mich interessante Menschen kennen lernen ließen. Sie verbauten mir allerdings auch meine berufliche Karriere im später wiederaufgenommenen Beruf. Ein Angebot, als Lehrerin auf einer Fachschule tätig zu sein, wurde nach Kenntnis meiner „kirchlichen Vergangenheit“ wieder zurückgezogen. Doch da ich selbst zu der Erkenntnis gelangt war, dass ich die erwartete Systemnähe und den geforderten „Standpunkt“ nicht würde einnehmen können, hatte mich diese Entscheidung nicht so schmerzlich berührt. Ich fühlte mich ja in meinem Beruf wohl, und die Arbeit mit Kindern – ich arbeitete in einer Klinik für Kinderheilkunde – gab mir die Möglichkeit, meine Mütterlichkeit zu leben. Auch hatte ich damals als Alleinstehende in meinem Mitarbeiterkreis so ein Stückchen Heimat gefunden. Wir lebten miteinander, ertrugen einander, und unsere Ecken und Kanten ließen einander teilhaben am Glück und Leid in unserem Privatleben.

... und im vereinten Deutschland

Von diesem Geist ist – nicht nur in meinem Arbeitsbereich – nach gut zehn Jahren Marktwirtschaft nicht mehr zu viel zu spüren. Ist es das Konkurrenzdenken, die Angst um den Erhalt des Arbeitsplatzes, das größere Freizeitangebot, die zunehmende Individualisierung, die Werteverschiebung zugunsten der Habementalität, der Götze Geld der Grund? Wenn der Caritasverband für das vorige Jahr als Thema „Einsam“ und für das Jahr 2002 „Mittendrin draußen – psychisch krank“ wählte, wird deutlich, welche Nöte heute die Menschen quälen. Wohl haben wir jetzt viele Freiheiten – und ich bin glücklich, nun reisen zu können, wann und wohin ich will –, aber wie ist dieses Geschenk der Freiheit schon missbraucht worden.

Wohl ist das Warenangebot nun groß, aber ich kenne viele, die daran nicht teilhaben können; wohl hat nun jeder die Möglichkeit, sich kreativ in die gepriesene Marktwirtschaft einzubringen, aber wie viele sind schon gescheitert, weil sie sich gegen die Konkurrenz der großen Ketten nicht durchsetzen können. Die Arbeitslosigkeit und damit die Abwanderung besonders der jungen Leute nach dem „Westen“ ist steigend und die „Mauern“ zwischen Ost und West werden dadurch nicht niedriger.

Aber am meisten trauere ich um die vertane Chance, in einem Einigungsvertrag etwas Neues, ganz anderes zu wagen, etwas, das Deutschland ein großes Stück hätte weiterbringen können zu einer Gesellschaft mit einer höheren Qualität, in der nicht die Wirtschaft, sondern wirklich der Mensch im Mittelpunkt steht, in der es weniger Bürokratie und mehr Demokratie, weniger Gewalt und mehr Gerechtigkeit gibt. Warum muss alles, was es in der DDR gab, auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen werden? Wäre nicht manches in dem neuen Deutschland verwendbar gewesen? Hat es nicht auch hier Menschen gegeben die sich unter den gegebenen Umständen bemüht haben, das Leben erträglicher, menschlicher, freudvoller zu machen? Es waren doch nicht alle nur Stasiinformanten und Nichtstuer. Und warum wird versucht, uns Frauen in ein Rollenklischee zu pressen, das wir längst überwunden glaubten? Der hohe Anteil der arbeitslosen Frauen und die Titelblätter der Zeitschriften an den Kiosken sprechen eine deutliche Sprache. Ich erinnere mich noch an meine tiefe Betroffenheit, als ein Abgeordneter von einer Stadtverordnetenversammlung berichtete. Als Anträge zur Werbesatzung eingebracht wurden, erntete die Gleichstellungsbeauftragte Gelächter, als sie forderte, dass die Benutzung des weiblichen Körpers zu Werbezwecken verboten werden sollte. Der Antrag wurde abgelehnt.

Trotz allem: Hoffnung

Es tut mir immer weh, wenn solche Fragen und Äußerungen als DDR-Nostalgie, als Undankbarkeit und Ungeduld ausgelegt werden. Nein, der „Diktatur des Proletariats“ und der Planwirtschaft haben wir ja in der Oktobertagen 1989 eine deutliche Absage erteilt; und ich meine auch, dass wir nicht unbedingt den Lebensstandard wie in der alten Bundesrepublik haben müssen. Da sollten alle Deutschen, alte wie neuen Bundesländer, ihren Blick nach Osten und Süden richten und lieber teilen lernen, bevor andere, getrieben von ihrer Not, sich ihren Teil holen.

Ich hätte mir gewünscht, dass Deutschland, das man so gern als Herz Europas bezeichnet, durch seine Lage und seine Geschichte und nach seiner Wiedervereinigung nach 40 Jahren Trennung zum Vorreiter geworden wäre für ein Gesellschaftsmodell, in dem Frieden und Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Geschwisterlichkeit höhere Werte darstellen als Konsum- und Konkurrenzdenken, Wirtschaft und Geld. Die Tage im Herbst 1989 haben diese Visionen in mir erstehen lassen, und ich glaube, sie sind „not-wendig“, damit die Not in der Welt gewendet wird und damit Leben weiter möglich bleibt auf unserem blauen Planeten Erde.