Was bedeutet Heimat für mich?

(Erfahrungen)
aus OWEP 3/2003  •  von Jan Anchimiuk

Der Verfasser, Erzbischof Jeremiasz (Jan Anchimiuk), geboren im Dorf Odrynki in der Gegend von Białystok, ist Ordinarius der Diözese Wrocław-Szczecin (Breslau-Stettin) der Polnischen Autokephalen Orthodoxen Kirche.

Heimat ist für mich vor allem das Elternhaus, das heimatliche Dorf und die nächste Umgebung. Einen besonderen Platz im Begriff und im Erleben von Heimat und Vaterland nimmt eine kleine Kapelle ein, die sich etwa zwei Kilometer entfernt von unserem Dorf im Wald befindet. Sie steht an einer Stelle, an der im 16. Jahrhundert ein Kloster des heiligen Johannes Theologos war, das höchstwahrscheinlich beim Schwedeneinfall im 17. Jahrhundert zerstört wurde. Das Kloster stand unweit des Weges, auf dem mehrmals im 17. Jahrhundert die schwedischen Truppen und Anfang des 19. Jahrhunderts die Truppen Napoleons entlang marschierten. Bis heute gebrauchen die älteren Menschen in meinem Heimatdorf die Bezeichnung „Schwedenpfad“ für einen kleinen Wegabschnitt, der jetzt durch den Wald zu den bestellten Feldern führt. Die orthodoxe Pfarrkirche befindet sich im Städtchen Narew, das acht Kilometer vom Dorf entfernt ist. In diesem Städtchen war im 16. Jahrhundert ein kleines Schloss erbaut worden. Wie die örtliche Tradition zu berichten weiß, hatte es die aus Italien stammende polnische Königin Bona errichten lassen.

Die Geschichte des heimatlichen Dorfes, das Leben in der Pfarrei, insbesondere die Teilnahme an den Gottesdiensten, die seit Generationen übermittelten Erzählungen über die Kriege, vor allem über den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution sowie über den Zweiten Weltkrieg, formten das Bewusstsein der Kinder und Jugendlichen über lange Jahre hin.

Das waren keine Erzählungen von Ereignissen, die weit entfernt lagen. Im Jahre 1915 waren alle Bewohner des Dorfes aus Furcht vor den deutschen Truppen in das Hinterland des Russischen Kaiserreichs geschafft worden. Die Familie meines Vaters ließ sich in der Gegend von Nowosibirsk nieder, die im Nachbarort lebende Familie meiner Mutter wohnte eine gewisse Zeit in Samarkand, später in Taschkent. Mein Heimatdorf wurde während des Ersten Weltkrieges restlos niedergebrannt.

In der Zeit des Zweiten Weltkriegs verlief die Frontlinie zweimal – im Jahre 1941 und im Jahre 1944 – durch das Dorf. Zahlreiche Dorfbewohner starben während des Krieges unter den Granaten und Kugeln beider kämpfender Parteien. Über die Hälfte aller Gebäude im Dorfe wurde eingeäschert.

Die Generation, zu der ich gehöre (in diesem Jahre vollende ich mein 60. Lebensjahr), war durch ein besonders Verhältnis zum Heim der Familie, zu den eigenen Feldern, Wäldern und Wiesen, zur (orthodoxen) Kirche, zu den Sitten und Gebräuchen, zur Kultur und Sprache, die ein Dialekt der altrussischen Sprache ist, gekennzeichnet.

Das sind besondere Werte. Das kleine dörfliche Haus bedeutete Zuflucht, einen Ort der Freude und der Trauer. In dem Haus fanden die Hochzeiten statt, und hier beging man auf festliche Weise die kirchlichen Feiertage. Unvergesslich bleiben die Eindrücke vom gemeinsamen Gebet vor Heiligabend und vor dem Fest der Taufe des Herrn (Theophanie). Unvergessen bleibt die Erinnerung an den Geschmack der Nahrung nach den die ganze Nacht dauernden Gottesdiensten zu Weihnachten, zu Theophanie, zu Ostern. In vielen Dörfern in der Gegend von Białystok bleiben die Verstorbenen noch zwei Nächte im Hause aufgebahrt. Alle Bewohner des Dorfes ohne Ansehen der Konfession (ein Viertel der Bewohner sind römisch-katholische Christen) kommen, um von den Toten Abschied zu nehmen. Sogar von weither reisen die Verwandten an.

Die Felder, die Wälder, die Wiesen – das sind Orte der Arbeit, einer bisweilen sehr schweren Arbeit auf dem Felde, beim Hüten der Kühe, der Schafe, der Pferde. Das ist jedoch auch die Atmosphäre bei der Rast am Nachmittag, der Duft von Gräsern und Getreide, der Geschmack von Quellwasser – manchmal Gespräche über die Schönheit der uns umgebenden Welt, über Erde und Himmel. Am Abend schufen die Genugtuung über die getane Arbeit, die Freude auf die Rückkehr ins Vaterhaus – insbesondere an heiteren Tagen beim Schein der untergehenden Sonne – eine besondere Atmosphäre der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Menschen, eine Atmosphäre der Gegenwart Gottes, ein Gefühl für eine unausgesprochene, aber unerhört frohe Tiefe der Verbindung zur umgebenden Natur.

Das ist eine Welt, deren Gegenwart die ganze Natur des Menschen durchdringt. Vielleicht schufen die Berichte der Eltern von ihren in die Weite führenden erzwungenen Reisen, über die Mühen dieser Reisen, aber auch über das Wohlwollen und die Hilfe der neuen Umgebung in Sibirien und Mittelasien das Bewusstsein, dass man selbst irgendwo in der Ferne, an einem neuen Ort, ein Heim und Freunde finden kann. Dennoch überwiegt das Gefühl der Zugehörigkeit zum Ort der Geburt und zu den ersten Lebensjahren. Die von den Kriegen geschaffenen Bedrohungen und Zerstörungen verstärkten noch das Gefühl der Liebe zum Heim und zum heimischen Dorf.

Das alte, hölzerne, allen Komforts entbehrende Haus nimmt in meinem Herzen und Sinn einen besonderen Platz ein. Diesen Platz können spätere bequeme Wohnungen und Häuser nicht ausfüllen. Die Atmosphäre der im Laufe der Jahre veränderten Felder, Wiesen und Wälder bleibt nahe und ungewöhnlich notwendig, ja, mit dem Lauf der Jahre immer notwendiger.

Vielleicht ist es so, dass jeder Mensch ein besonderes Band mit einem Teil der Erde als einem Geschöpf Gottes braucht. Er ist für diesen Teil in der Bedeutung verantwortlich, von der das Buch Genesis (1,28) spricht. „Sich die Erde untertan machen“ bedeutet vor allem Verantwortung. Da die Sünde in die Wirklichkeit der Welt durch das Tun des Menschen kam, muss der Mensch der Erde und den auf ihr lebenden Geschöpfen die Freude der Erlösung vermitteln, genauer gesagt: die Freude des Kreuzes und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus.

Diese Verantwortung kann keinen abstrakten Charakter haben. Sie muss sich konkret erfüllen, auf einem bestimmten Teil der Erde. Eine so verstandene Sendung des Menschen gehört zu seinem tiefsten Wesen. Dies kann man als Sehnsucht nach dem Paradies, nach dem Reich Gottes, definieren. Es bedeutet, dass die Liebe zur Heimat für den Christen undenkbar ist ohne die ursprüngliche Liebe zur irdischen Wirklichkeit des Reiches Gottes. Ohne das verwandelt sich die Liebe zur Heimat und zum Vaterland sehr leicht in Hass gegen einen anderen Menschen.

Das Wirken der Sünde ist in alle Lebenssphären des Menschen und der Welt eingedrungen. Dies betrifft natürlich auch das Verhältnis des Menschen zur Heimat, zum Vaterland. Die Sünde offenbart sich im Egoismus und in der Exklusivität, in Expansion und Aggressivität, im Bestreben, andere von „meinem“ Platz auszuschließen. Das widerspricht dem Evangelium.

Seit der Zeit Christi gibt es weder Fremde noch Ankömmlinge, alle sind „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19). Den Emigranten, den zeitgenössischen Ankömmling muss man aufnehmen, und man muss alles tun, damit der neue Ort für ihn eine neue Heimat wird. Damit endet jedoch nicht die Aufgabe des „Hausgenossen“. Dem „Ankömmling“ gebührt – wenn er dies wünscht und wenn dies nicht Unrecht für einen anderen Menschen bedeutet – Hilfe bei der Rückkehr in sein Heim.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.