Russland – auch heute ein Partner europäischer Politik?
Prof. Dr. Hans-Henning Schröder lehrt Osteuropäische Geschichte an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Er ist Herausgeber der „Russlandanalysen“ (www.russlandanalysen.de).
Nach der Erweiterung der Europäischen Union ist Russland ein „Nachbar“. Nachbar, in der vertrauten Bedeutung des Wortes, weil russisches Territorium unmittelbar an das der EU-Mitglieder Estland, Lettland und Finnland grenzt. „Nachbar“ auch in der sublimen Ausdrucksweise der EU-Bürokratie, die den als „Nachbarn“ ausgrenzt, der keine Aussicht hat, in absehbarer Zeit Mitglied der Union zu werden. Die „Russländische Föderation“ wird also auf lange Sicht außen- und sicherheitspolitisch Partner der Europäischen Union sein. Insofern ist naturgemäß die Frage danach von Interesse, wie das neue Russland seine Rolle in der internationalen Politik versteht.
Diese Frage kann nicht aus der Perspektive Brüssels, Berlins, Paris‘ oder Rigas beantwortet werden. Man muss sich die Möglichkeiten und Begrenzungen für russisches außenpolitisches Handeln vergegenwärtigen.
Die geopolitische und geostrategische Lage
Russland ist der größte Flächenstaat der Welt und bedeckt ein Territorium, das 47mal so groß ist wie das der Bundesrepublik Deutschland. Wirft man einen Blick auf die Weltkarte, so wird rasch deutlich, dass der russische Staat allein aufgrund seiner Lage und der Länge seiner Grenzen mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert ist:
Im Norden – über den Pol hinweg – ist Russland Nachbar der USA. Die USA und Russlands Vorgängerstaat UdSSR haben eine schwierige nuklearstrategische Partnerschaft gepflegt, in die Russland als Nachfolger eingetreten ist. Das lange aufrechterhaltene strategische Gleichgewicht wird heute durch Russlands wirtschaftliche Schwäche beeinträchtigt.
Im Westen grenzt Russland an einen durch die EU organisierten Wirtschaftsraum, der in der NATO auch eine militärische Struktur hat. Insbesondere das ökonomische Potenzial ist dem Russlands weit überlegen.
China, Japan und die beiden Koreas sind Russlands Nachbarn im Osten. Vor allem China und Japan sind Staaten, die Russland in der Perspektive demographisch, technologisch und wirtschaftlich marginalisieren.
Im Süden Russlands ist die Situation unklar und schwierig. Im „Krisenbogen“ vom Kaukasus bis Zentralasien ist eine Vielzahl interethnischer, politischer und religiöser Konflikten sind virulent. Einer davon (Tschetschenien) wird gegenwärtig offen gewaltsam ausgetragen, weitere Kriege sind in den nächsten Jahren denkbar.1
Dieser kurze Rundblick verdeutlicht, dass Russland aufgrund seiner geographischen Lage dazu verurteilt ist, aktiv internationale Politik zu treiben. Weil Russland sich in vielen Regionen engagieren muss, ist es in vielen regionalen Zusammenhängen ein möglicher Partner. Die Nähe zu den Krisenregionen ist gewiss eine große Belastung, sie kann jedoch auch zu einer politischen Ressource werden – wenn man sie als solche nutzt.
Ressourcen
Geht man davon aus, dass Russland internationale Politik treiben muss, dann stellt sich naturgemäß die Frage, ob es über die Ressourcen verfügt, dies erfolgreich zu tun. Dies ist nicht ohne weiteres zu bejahen:
Demographisch verfügt Russland über beträchtliche Ressourcen. Es liegt – was die Bevölkerungszahl angeht – international an siebter Stelle, allerdings weit hinter China, Indien und Indonesien, hinter den USA, dem Euro-Währungsraum und nur knapp vor Japan. Die Bevölkerungszahlen Frankreichs und Deutschlands zusammengenommen entsprechen in etwa der Russlands. Die ungünstige demographische Entwicklung deutet nicht darauf hin, dass sich an diesen Größenverhältnissen in Zukunft etwas zugunsten Russlands ändern wird.
Wirtschaftlich stellt sich Russlands Lage in der Welt trotz des beachtlichen Wachstums der letzten Jahre nicht sonderlich eindrucksvoll dar. Im Vergleich mit Industrieländern wie Japan, Frankreich, Italien, Deutschland oder Großbritannien ist die Wirtschaftsleistung nicht beachtlich. Russland steht etwa auf dem Niveau Belgiens, der Niederlande bzw. – nimmt man Flächenstaaten – Mexikos und Brasiliens. Nimmt man die Wirtschaftsleistung pro Kopf, so liegt Russland weit hinter Polen, Mexiko und Brasilien.
Technologisch hatte die Sowjetunion seinerzeit international im Bereich rüstungsrelevanter Technologien mithalten können, hat allerdings Ende der siebziger Jahre bei den neuen Schlüsseltechnologien den Anschluss verloren. In Russland hat sich die Situation nach 1991 weiter verschlechtert. Die Krise der Staatsfinanzen hat die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft schwer beschädigt.
Militärisch ist Russland nur im nuklearen Bereich ein Faktor. Die konventionellen Streitkräfte sind schlecht bezahlt, schlecht ausgerüstet und nur zum Teil einsatzfähig. Die Militärreform will dies beheben. Die Führung strebt die Fähigkeit an, in mehreren Regionen gleichzeitig einen lokalen Konflikt erfolgreich führen zu können. Dazu bedarf es moderner Waffen- und Kommunikationssysteme und qualifizierten, motivierten Personals. An diesem allen jedoch fehlt es.
Die politischen Ressourcen sind nicht sonderlich eindrucksvoll. Immerhin verleiht das nuklearstrategische Potenzial Russland politisch einen Sonderstatus. Auch der Sitz im UN-Sicherheitsrat gibt Russland ein gewisses internationales Gewicht. Allerdings haben die Fälle Kosovo und Irak gezeigt, dass die Einwirkungsmöglichkeiten begrenzt sind. Negativ schlägt zu Buche, dass Russland seit 1989/91 international isoliert ist. Historisch ist das ein Novum – seit seinem Eintritt in die europäische Politik im 17. Jahrhundert war Russland stets in Allianzen eingebunden. Die außenpolitische Isolation ist historisch ein Ausnahmefall, eine Schwäche der russischen außenpolitischen Position.
Aus den geopolitisch bedingten Problemen einerseits und der politischen und wirtschaftlichen Schwäche andererseits ergibt sich das Grunddilemma russischer Außenpolitik: Russland ist dazu verurteilt, Weltpolitik zu machen, es fehlen ihm aber die Ressourcen, dies erfolgreich zu tun. In seiner Botschaft an die Föderalversammlung hat Präsident Putin im Mai 2003 ganz richtig festgestellt:
„Ein Land wie Russland kann in den gegebenen Grenzen nur dann leben und sich entwickeln, wenn es eine starke Macht ist.“ Als „starke Macht“ kann man Russland gegenwärtig aber gewiss nicht ansprechen. Entscheidungen im internationalen Raum werden auf absehbare Zeit ohne sein Zutun gefällt. Russland muss auf politische Lösungen setzen und Kompromisse eingehen, es muss sich insbesondere nach Allianzpartnern umsehen.
Optionen
Prüft man die Optionen, die die russische Außenpolitik hat, dann wird deutlich, dass Russland viel potenzielle Partner hat und dass es unklug wäre, nur auf einen Partner zu setzen:
Die USA sind das traditionelle Gegenüber, der alte Gegensatz wirkt im Bewusstsein der russischen Eliten durchaus noch fort. Dazu kommt in den letzten Jahren die Sorge, die USA könnten sich in der eigenen Interessensphäre (Transkaukasus, Zentralasien) festsetzen. Für eine Konfrontation ist Russland zu schwach, daher ist allein der Versuch, die USA in ein kooperatives Konzept einbinden, eine realistische Option. Als solches Konzept bot sich spätestens nach dem 11. September 2001 der Kampf gegen den „internationalen Terrorismus“ an. Putins rasche Wendung zu den USA nach dem New Yorker Attentat erklärt sich aus dieser Lageeinschätzung. Dass diese Haltung von amerikanischer Seite nicht honoriert wurde, ist ein Problem Putinscher Außenpolitik. Trotzdem begreifen die russischen Eliten die USA als starke Macht und als einzigen sicherheitspolitisch relevanten Partner.
Die Beziehungen zu Japan sind aufgrund des Kurilenkonfliktes nur allmählich zu verbessern. Mit China kann Russland bei latenter Konkurrenz eine strategische Partnerschaft pflegen (Rüstungsgeschäfte) und in Zentralasien kooperieren (Terrorismusbekämpfung).
Europa ist Russlands wichtigster wirtschaftlicher Partner, mit dem man die Zusammenarbeit ausbauen und vertiefen will (vgl. die nachstehende Tabelle zu den russischen Importen und Exporten). Europa seinerseits deckt seinen Energiebedarf zu einem beträchtlichen Teil aus und über Russland. Insofern besteht ein erhebliches beiderseitiges Interesse an der Zusammenarbeit. Doch auf absehbare Zeit ist die Europäische Union kein relevanter sicherheitspolitischer Partner.
An der Südgrenze sucht Russland seine Position durch Ausbau der Zusammenarbeit mit Staaten der Region zu stabilisieren (u. a. Stationierung von Grenztruppen, militärische Präsenz in Tadschikistan). Der Ausbau der Beziehungen zum Iran gehört in diesen Kontext. Ziel ist die Minimierung der Zahl unkontrollierbarer Konflikte und die Annäherung an mögliche Partner, mit denen man im Konfliktfall kooperieren kann.
Russlands Politik darf sich angesichts der vielfältigen Herausforderungen keiner Option verschließen. Ökonomisch ist Europa der engste Partner, spielt aber sicherheitspolitisch keine entscheidende Rolle. Auf diesem Gebiet sind die USA das traditionelle Gegenüber und ein potenzieller Partner, mit dem man durchaus bereit ist, regional zusammenzuarbeiten.
Nationales Selbstverständnis im öffentlichen Diskurs
Nun sind Realien wie geographische Lage und verfügbare Ressourcen nur ein Element, das auf außenpolitisches Denken einwirkt. Von ebenso großer Bedeutung ist die Frage, wie diese in Russland wahrgenommen werden und wo sich die Russen selbst verorten.
Umfragematerialien erlauben einen ersten Einblick in die Befindlichkeit der russischen Öffentlichkeit. 1998 hat das Russische Unabhängige Forschungsinstitut (RUFI) eine Befragung durchgeführt, in der die Befragten entscheiden sollten, ob Russland eher zu „Europa“ oder zu „Asien“ gehört. Diese Frage, die an die traditionelle Debatte über die Stellung Russlands anknüpft und zur Selbstverortung in einem „fiktiven“ Raum auffordert, zeigt deutlich das ambivalente Selbstbild der Befragten. Entscheidet sich bei dem Kriterium „nationale Merkmale“ eine deutliche Mehrheit für eine Position in der Mitte zwischen den beiden Polen, so neigt die Mehrheit dazu, sich kulturell in Europa zu verorten. Wirtschaftlich hingegen optiert eine starke Minderheit für die Nähe zu Asien:
Dem Gefühl der kulturellen Verbundenheit zu Europa steht offenbar der Eindruck entgegen, dass Arbeitshaltung und Stil des Wirtschaftens „europäischen“ Kriterien nicht entsprechen. Die Ambivalenz der Selbstverortung ist erklärbar. Einerseits steht sie in der Tradition des Russland-Europa-Diskurses, andererseits reflektiert sie aber auch konkrete historische Erfahrungen. So sind russische Literatur, Musik usw. unzweifelhaft Teil des europäischen Kulturdiskurses, während ökonomische Merkmale – etwa das Überwiegen der Rohstoffexporte, Korruption, ein fehlendes Bankensystem – europäischen Vorbildern eben nicht entsprechen.
Es kann nicht wunder nehmen, dass unter diesen Umständen die Mehrheit der Befragten für einen eigenen russischen Weg plädiert. Ende der neunziger Jahre war die Akzeptanz als westlich verstandener Politikmodelle erheblich zurückgegangen. Die Idee eines „eigenen Weges“ hat, wie die folgende Umfrage zeigt, in der Öffentlichkeit an Attraktivität gewonnen. Immerhin stellen sich noch im September 1999 – also nach dem Kosovokrieg und in einer Phase patriotischer Mobilisierung zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges – noch an die 40 Prozent der Befragten für Russland ein politisches System vor, das westlichen Mustern nachempfunden ist. Der Anteil derjenigen, die sich nach der Sowjetunion zurück sehnen, macht ein Viertel der Befragten aus, ebenso hoch ist der Anteil derjenigen, die einen „eigenen russischen Weg“ gehen wollen. Bemerkenswert ist aber die Tendenz: Zwischen Frühjahr 1997 und Herbst 1999 hat die „slawophile“ Vorstellung eines „eigenen Weges“ deutlich an Anhängern gewonnen:
Als der namhafte Soziologe Juri Lewada Ende 2003 ein politisches Profil des postsowjetischen Menschen erstellen wollte, erhielt er bei seiner Befragung folgende Daten:
Durch das Land geht ein deutlicher Generationenbruch. Unter den jüngeren Russen ist die Akzeptanz demokratischer Werte und des Unternehmertums hoch. Auch ist eine starke Affinität zum Westen zu beobachten. In der älteren Generation hingegen dominiert die Skepsis. Dennoch stimmen in der Perspektive die Ergebnisse dieser Umfrage optimistisch. Die neue Generation wächst ideell in den Westen hinein – auch wenn die Putinsche Führung derzeit einen anderen Weg geht.
Dilemmata
Russland ist und bleibt ein wichtiger Akteur in der internationalen Politik, ein Akteur, der trotz seiner ökonomischen Kraftlosigkeit auch als Großmacht wahrgenommen werden will. Es ist dazu verdammt, im internationalen Rahmen aktiv Politik zu betreiben, doch es fehlen ihm die Ressourcen, dies erfolgreich zu tun. In dieser Situation ist Putins Politik notwendig ein System von Aushilfen, mit dem die Position Russlands in wechselnden Konstellationen gesichert werden soll.
Allein auf sich gestellt ist Russland nicht in der Lage, Entscheidungen in der Substanz zu beeinflussen. Insofern ist es auf Partner angewiesen. Europa – die EU – kann diese Rolle im wirtschaftlichen Bereich übernehmen, ist allerdings sicherheitspolitisch kein ernstzunehmender Akteur. Die USA bieten sich als Sicherheitspartner an, doch verbietet es das unberechenbare und wenig kluge Verhalten der gegenwärtigen Administration, sich auf die USA festzulegen. Insofern wird es eine rationale russische Außenpolitik vermeiden, den einen oder anderen Partner auszuschließen, vielmehr wird sie parallel die Beziehungen zu den USA, Europa, China und zu den regionalen Großmächten im nahen und mittleren Osten auszubauen suchen.
Eine Konstante bleibt die Verfolgung nationaler Interessen, bei denen es darum geht, die russischen Außenwirtschaftsinteressen politisch zu flankieren, die internationalen Isolierung zu überwinden und sich als Partner für starke Allianzen darzustellen, mit dem Ziel, in möglichen künftigen Konflikten nicht allein dazustehen.
Wie die europäische Politik mit einem Russland umgeht, das ökonomisch in den EU-Raum hineinwächst, politisch aber auch auf vielfältige andere Herausforderungen reagieren muss, darüber muss die Gemeinschaft nachdenken, wenn sie die „neue Nachbarschaft“ zu Russland entwickeln will. Die Politik der Putinschen Führung, die Beschränkungen der Pressefreiheit, der Krieg in Tschetschenien und die autoritären Tendenzen, die seit 2003 immer deutlicher wurden, erschweren eine Annäherung an die derzeitige Führung Russlands. In der westlichen Öffentlichkeit dominiert gegenüber Russland eine negative Haltung. Man darf aber nicht vergessen, dass in Russland eine neue Generation heranwächst, die alle Voraussetzungen mitbringt, um die Verbindung mit dem Westen auf allen Ebenen zu vertiefen.
Fußnote:
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Zur Tschetschenienproblematik vgl. auch den Beitrag von Ekkehard Maaß, Die russische Tschetschenienpolitik. Ein Kommentar, in vorliegendem Heft. ↩︎