Die russische Tschetschenienpolitik. Ein Kommentar

aus OWEP 2/2005  •  von Ekkehard Maaß

Ekkehard Maaß studierte Theologie und Philosophie und trat in der DDR als literarischer Übersetzer und Bürgerrechtler an die Öffentlichkeit. Nach sieben Jahren ehrenamtlicher Arbeit in der Heinrich-Böll-Stiftung gründete er 1996 die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft und setzt sich in den drei Arbeitsbereichen Politik und Menschenrechte, Kunst und Wissenschaft und Flüchtlingsarbeit vor allem für Tschetschenien ein.

Ich habe keine Ruhe, solange noch ein einziger Tschetschene am Leben ist!“ (A. P. Jermolov)

„Dieser Krieg1 ist die Endlösung des tschetschenischen Problems!“ (B. Jelzin)

Die russischen Tschetschenienkriege von 1994-1996 und seit 1999

Die russischen Kriege in Tschetschenien von 1994-96 und seit 1999 sind der längste und blutigste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie bedrohen das Überleben der Tschetschenen als Volk und sind Hauptgrund für die sich immer deutlicher abzeichnende autoritäre Entwicklung in Russland. Russland verletzt in diesen Kriegen nicht nur die eigene Verfassung und den von den Präsidenten Maschadov und Jelzin im Mai 1997 unterzeichneten Friedensvertrag, sondern alle geltenden Konventionen zum Schutz der Bürger- und Menschenrechte und zum Schutz von Flüchtlingen und Gefangenen, im Besonderen die Statuten des Europarates, zu deren Einhaltung sich Russland mit seiner Aufnahme 1996 verpflichtete, die 1998 von Russland ratifizierte Europäische Menschenrechtskonvention und die Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.

Es gibt keine Rechtfertigung für die russischen Kriegshandlungen in Tschetschenien, die vorwiegend gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind. Als Beispiel für die Bombardierung und den Beschuss bewohnter Ortschaften sei die völlige Zerstörung der Stadt Grozny angeführt, einer Stadt mit ehemals 300.000 Einwohnern, Krankenhäusern, Schulen, Museen, Theatern, Universität und dem größten Erdölinstitut der Sowjetunion. Am 21. Oktober 1999 trafen taktische Boden-Boden-Raketen den belebten Markt von Grozny, die Geburtsklinik, ein Wohnviertel und die Moschee in Kalinin. 137 Menschen starben, 260 wurden schwer verletzt. Nach Schätzungen internationaler Menschenrechtsorganisationen wurden in beiden Tschetschenienkriegen 180.000 Zivilisten getötet, unter ihnen 42.000 Kinder.

Ein weiterer Verstoß gegen internationale Konventionen ist der Beschuss von Flüchtlingen. Am 29. Oktober 1999 wurden auf der Trasse Moskau-Baku auf den angeblich zur Flucht der Bevölkerung eingerichteten humanitären Korridoren sowohl in Richtung Westen nach Inguschetien als auch in Richtung Osten nach Dagestan die Flüchtlinge aus der Luft und mit Artillerie massiv angegriffen. Nach Augenzeugenberichten war die Straße mit hunderten Toten und Verwundeten bedeckt. Für beide Kriege ist auch der Einsatz international geächteter Massenvernichtungswaffen wie Vakuum-, Aerosol- und Splitterbomben sowie chemischer Waffen belegt. Chemische Kampfstoffe wurden vor allem 1999 beim Sturm auf Grozny eingesetzt. Für Vakuumbomben ist der Einsatz u. a. 2000 in Markheti nachgewiesen. Splitterbomben werden in allen Kämpfen eingesetzt, ebenso alle Arten von Minen. Dass Russland damit gegen das 1997 unterzeichnete Verbot der Anwendung chemischer Waffen verstößt, sei nur am Rande erwähnt.

In Tschetschenien wurden unzählige so genannte Filtrationslager errichtet. In allen Filtrationspunkten und Polizeistellen wird systematisch gefoltert. Human Rights Watch, Amnesty International und „Memorial“ belegen u. a. Schlagen bis zur Besinnungslosigkeit oder Tod, Elektroschocks, Verbrennen mit Zigaretten, Zusammenschnüren, Skalpieren, Verstümmeln und Herauswerfen aus Hubschraubern. Frauen, Männer und Kinder werden vergewaltigt, nicht selten öffentlich oder vor den Augen ihrer Familienangehörigen. In der Regel werden Gefangene nach der Misshandlung in Erdgruben geworfen, wo sie oft wochenlang in Feuchtigkeit, Kälte und ihren Exkrementen liegen.

Gefüllt werden die Lager und Polizeistellen durch so genannte „Säuberungen“ – ein Begriff aus der Stalinzeit. Bei jeder Säuberung werden 10 bis 100 Personen, vor allem junge Männer, mitgenommen. Nach den Recherchen von Human Rights Watch verschwanden 2004 mehr als 1000 Zivilisten. In vielen Dörfern wurde durch die sich ständig wiederholenden Säuberungen die Bevölkerung um ein Drittel dezimiert – ein schleichender Genozid.

Seit der Einsetzung des inzwischen ermordeten pro-russischen „Präsidenten“ Tschetscheniens, Achmed Kadyrov (2002), seines Nachfolgers, Alu Alchanov (2004), und der so genannten „Tschetschenisierung“ der russischen Besatzerpolitik hat sich die Menschenrechtslage verändert. Die russische Militärpräsenz hat sich verringert, dafür machen Einheiten des russischen Geheimdienstes (FSB), der Aufklärung (GRU), des Innenministeriums (Omon) und die Todesschwadronen Ramsan Kadyrovs gezielt Jagd auf vermeintliche Kämpfer, Menschenrechtler, kritische Journalisten und vor allem auf ihre Verwandten.

Die russische Behauptung, in Tschetschenien den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, ist absurd, auch wenn viele westliche Politiker das gern wiederholen. Der so genannte „tschetschenische“ Terrorismus, die Selbstmordattentate „schwarzer Witwen“ und die tragischen Geiselnahmen in Moskau 2002 und in Beslan 2004 werden von der tschetschenischen Bevölkerung und dem tschetschenischen Widerstand, dem sie immensen Schaden zufügen, verurteilt. Sie sind eine direkte Folge des russischen Staatsterrorismus und sein Spiegelbild. Erst die Destabilisierung Tschetscheniens hat das Eindringen islamistischer Ideologien ermöglicht, die der tschetschenischen Tradition fremd sind und sie in hohem Maße gefährden. Keiner weiß, wer wirklich hinter den Terrorakten steht, welchen Anteil an ihnen der russische Geheimdienst FSB hat und welche Rolle Oberterrorist Schamil Bassaev tatsächlich spielt. Genutzt haben sie ausschließlich der Machterweiterung des russischen Präsidenten Putin.

Die russische Tschetschenienpolitik ist Krieg und Gewalt, die einer jahrhundertealten kolonialen Logik folgen. Sie scheint nur ein Ziel zu haben: Der Tötung möglichst vieler Tschetschenen, ihre Entwurzelung und Vertreibung, um ein altes russisches Ziel zu erreichen: Tschetschenien ohne Tschetschenen, den Kaukasus ohne Kaukasier.

Tschetschenen und Russen – Konflikte seit der ersten Begegnung

Die Tschetschenen besiedeln seit 3000 Jahren den zentralen Nordostkaukasus und werden in vielen antiken Quellen erwähnt.2 Die russische Bezeichnung „Tschetschenen“ wurde im 18. Jahrhundert von dem Dorf „Tschetschen“ (unweit von Grozny) abgeleitet. Die Sprache der Tschetschenen gehört mit Inguschisch und Bazbisch zur wainachischen Gruppe der nordostkaukasischen Sprachen, die nicht mit den semitischen, Turksprachen oder indogermanischen Sprachen verwandt sind. Die Tschetschenen hatten nie feudale Strukturen, kennen weder Fürsten noch Könige, weder Steuern noch einen Hofstaat. Sie waren freie Bauern auf freiem Grund. Die Freiheit ist für sie Bestandteil ihrer menschlichen Würde. Das ist der Grund, warum sie sich heftiger als manch andere Völker den Eroberungen widersetzen.

In der zweiten Hälfte des 16. Jh. errichtete Russland die ersten Festungen im Nordkaukasus. Die bekannteste von ihnen erhielt den Namen Wladikawkas – „Beherrsche den Kaukasus!“ Von 1779 bis 1859 dauerte der sogenannte russisch-kaukasische Krieg. Ganze Armeen russischer Soldaten fanden den Tod. Die einheimischen Völker wurden bis zu einem Drittel dezimiert, 750.000 Nordkaukasier in das Osmanische Reich vertrieben, wo ihre Nachfahren bis heute als Minderheiten leben. Nach den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 gerieten die Nordkausier in den Strudel des Bürgerkrieges. Die Bolschewiken versprachen ihnen die Gleichberechtigung aller Völker, Gerechtigkeit und Freiheit. Doch die stolz gegründete „Republik der Bergvölker“ wurde 1920 wieder aufgelöst und die Autonomen Republiken Adygei, Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Ossetien, Tschetscheno-Inguschetien und Dagestan eingerichtet. Während der kommunistischen Zwangskollektivierung und der stalinistischen Säuberungen waren die Kaukasier schweren Repressalien ausgesetzt. Die nationalen Sprachen und die Religionsausübung wurden massiv unterdrückt.

Nach der Deportation der Deutschen von Krim und Wolga, der Krimtataren, der georgischen Muslime und der Karatschaier befahl Stalin 1944 die Deportation der Tschetschenen und Inguschen nach Mittelasien. Nach russischen Quellen kamen 60 Prozent des tschetschenischen Volkes dabei um. Erst nach Chruschtschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU durften die Verbannten nach und nach zurück kehren. In ihren Koffern trugen sie die Gebeine ihrer Verstorbenen, in ihren Häusern wohnten Fremde. Die jahrhundertealten Grabsteine, mit denen die Russen die Straßen befestigt hatten, wurden wieder ausgegraben.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums ist ein Trauma für Russland, vor allem für die Rote Armee, die im Zweiten Weltkrieg Hitler besiegte, und den sowjetischen Geheimdienst KGB. Der Afghanistankrieg und der Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus den Staaten des Warschauer Paktes ruinierten das Ansehen der Armee endgültig. Der KGB (Komitee für Staatssicherheit) hingegen überlebte unbeschadet als FSB (Föderaler Sicherheitsdienst) in der 1992 neu gegründeten Russischen Föderation.

Die heutige russische Tschetschenienpolitik setzt die koloniale Politik der Zaren und der Kommunisten geradlinig fort: Iwan der Schreckliche, Peter I., Stalin, Putin. Russland ist keine Föderation, sondern ein Imperium. Nach dem Verlust des Baltikum, der Ukraine und Weißrusslands, Mittelasiens und des Südkaukasus darf es auf keinen Fall weiter schrumpfen. Abgeordnete der Duma sprechen offen davon, dass das Verlorene zurück geholt werden müsse. Gorbatschow hat das Imperium zerstört, Putin will es wieder errichten. Ihm, dem ehemaligen KGB-Offizier, gelang es, alle wichtigen Schaltstellen des von den Kommunisten befreiten Russland mit Geheimdienstleuten zu besetzen. Ganz Russland ist heute in den Händen des KGB-FSB, dessen furchtbare Verbrechen bis heute nicht erforscht und aufgearbeitet sind. In Moskau soll ein Stalindenkmal wieder errichtet werden, die Rückbenennung von Wolgograd in Stalingrad wird diskutiert ...

Die russische Politik der Gewalt führt zu einer Destabilisierung des gesamten Kaukasus. Als Reaktion auf ungesetzliche Verschleppungen und Folterung von Zivilisten haben sich bereits in allen nordkaukasischen Ländern bewaffnete Einheiten gebildet, die sich dem tschetschenischen Kampf anschließen. Der Tschetschenienkrieg ist schon jetzt nicht mehr lokalisierbar und wird, wenn die tschetschenischen Friedensvorschläge keine internationale Unterstützung finden, zu einer Bedrohung der Sicherheit Europas. Tschetschenien ist eine offene Wunde am Rande Europas, die die europäische Öffentlichkeit beunruhigen sollte.


Fußnoten:


  1. Gemeint ist der zweite Tschetschenienkrieg. ↩︎

  2. Vgl. zum historischen Hintergrund auch Christian Dettmering, Der Kaukasus in der russischen Geschichte, in: OST-WEST. Europäische Perspektiven 4 (2003), H. 4, S. 279-286↩︎