„… in Verantwortung vor Gott“

Ein Plädoyer für den Gottesbezug in säkularen Verfassungen
aus OWEP 1/2007  •  von Georg Essen

Prof. Dr. Georg Essen ist Professor für Dogmatische Theologie sowie für Religions- und Kulturtheorie an der Universität Nijmegen (Niederlande).

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 war das Ergebnis eines verfassungsmäßigen Konstitutionsaktes. Denn das Grundgesetz, das am 23. Mai 1949 feierlich verkündigt wurde, hob die Bundesrepublik Deutschland allererst aus der Taufe. Zwar begründete die „Aura der Ehrwürdigkeit“ (Hannah Ahrendt), die das Inkrafttreten des Grundgesetzes umgab, keine kultische Verfassungsverehrung, wie sie aus den USA bekannt ist. Aber die Ereignisse vom Mai 1949 sind doch stets als Einladung zu einem „weltoffenen Verfassungspatriotismus“ (Jürgen Habermas) verstanden worden, mit dem sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik vorbehaltlos gegenüber der politischen Kultur öffneten. Da wirkt es – aus heutiger Sicht – wie eine historische Randnotiz, wenn nicht gar als Anekdote, dass im Parlamentarischen Rat keineswegs alle Abgeordneten von der Werthaftigkeit des Grundgesetzes überzeugt waren. Abgeordnete der CSU und des Zentrums legten ein Veto ein gegen den Art. 20 GG („alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) und begründeten dies mit dem Argument, dass alle Herrschaft von Gott ausgehe. Dies aber war das traditionelle Argument der römisch-katholischen Kirche gewesen, die sich unter anderem unter Berufung auf den Römerbrief gegen den neuzeitlichen Gedanken der Volkssouveränität sperrte: „Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Röm 13,1). Wie schwer vielen Katholiken im Parlamentarischen Rat die Zustimmung zum modernen, in der republikanischen Tradition der Französischen Revolution stehenden Staat gefallen ist, dokumentiert auf ihre Weise auch die Erklärung von Abgeordneten der CSU, die ihre Ablehnung des Grundgesetzentwurfs unter anderem damit begründeten, es habe nicht erreicht werden können, „dass das Grundgesetz sich eindeutig und entschieden zu den Gedanken unserer christlichen Staatsauffassung bekennt“.

Wer sich heute zum politischen Selbstverständnis des Islam äußert und darüber nachdenkt, ob es dieser Weltreligion möglich sei, die Prinzipien unserer Verfassungs- und Rechtsordnung zu akzeptieren, tut gut daran, einen Blick auf die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland zurückzuwerfen. Der Artikel 140 des Grundgesetzes, das einige Parlamentarier unter Berufung auf ihren katholischen Glauben meinten ablehnen zu müssen, hat die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung zu Bestandteilen des Grundgesetzes erklärt. Das bedeutet, dass unter anderem auch die römisch-katholische Kirche eine Religionsgesellschaft ist, der die Bundesrepublik Deutschland den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zubilligt. Was war hier geschehen? Ein freiheitlich demokratischer Rechtsstaat erkennt in Gestalt der römisch-katholischen Kirche eine Religionsgesellschaft an, die ihrerseits – wie schreiben das Jahr 1949! – die fundamentalen Rechts- und Verfassungsprinzipien dieses Staates nicht anerkennt. Dies geschah bekanntlich erst ca. 20 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Erst in seiner Konzilserklärung zur Gewissens- und Religionsfreiheit hat die römisch-katholische Kirche das Recht der Wahrheit an das Recht der Person zurückgebunden und damit den Weg freigemacht, fundamentale Verfassungsprinzipien unseres freiheitlich, demokratisch und grundrechtlich organisierten Staatswesens anzuerkennen: Menschenrechte und Religionsfreiheit. Bekannt ist die zögerliche Hinwendung der römisch-katholischen Kirche zu den Idealen eines demokratischen Rechtsstaates, der sich als weltanschaulich neutral begreift. Dass die Kirche ihren Frieden mit diesem Verfassungsprinzip der Trennung von Staat und Kirche hat machen können, ist ebenfalls eine Frucht des Zweiten Vatikanischen Konzils.

Worum es im Kern geht, ist meines Erachtens dies: Die jähe Rückkehr von Glaubenskonflikten in die Weltpolitik, zu der auch das hässliche Gesicht religiös motivierter Gewalt gehört, deutet darauf hin, dass sich eine wirkliche Selbstverortung religiöser Institutionen und Gemeinschaften in den Prozessen der Moderne an der alles andere als nebensächlichen Frage entscheidet, unter welchen Bedingungen eine Religion sich in die Lage versetzt sieht, ihre eigenen Glaubensüberzeugungen konstruktiv mit den Grundmaximen moderner Zivilgesellschaften zu vermitteln.

Vor dem Hintergrund der so markierten religionspolitischen Problemlage, die selbstredend für weitere Differenzierungen offen steht und ohnehin erläuterungsbedürftig ist, möchte ich im Folgenden über den Sinn eines Gottesbezuges im Rahmen moderner Verfassungen nachdenken. In einem ersten Kapitel werde ich in Umrissen auf die dramatische Geburtsstunde des neuzeitlichen Verfassungs- und Staatsverständnisses aufmerksam machen. Ein zweites Kapitel skizziert die grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzipien, die beachten muss, wer über die Aufnahme eines Gottesbezugs in eine moderne Verfassung nachdenkt. Ein drittes und abschließendes Kapitel will einen Lösungsvorschlag zur Diskussion stellen, warum ein solcher Gottesbezug, die so genannte „nominatio dei“, sinnvoll sein dürfte.

Die Heraufkunft des weltanschaulich neutralen Staates – ein historischer Rückblick in systematischer Absicht

Das neuzeitliche Selbstverständnis des Staates hat eine seiner geistesgeschichtlichen Wurzeln in den Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts, besonders dem so genannten Dreißigjährigen Krieg. Als Antwort auf die blutig ausgetragenen Religionskriege sollten sich in einem mühsamen Prozess rechtlicher Kodifizierung schließlich jene Mechanismen herauskristallisieren, die den staatlichen Umgang mit Religionen bis heute prägen. Das Verhältnis des Staates zur Religion wird seitdem durch die Abkehr vom Prinzip des religionsgebundenen Staates bestimmt. Der Staat, so die Grundeinsicht, gibt Religion auch in der Weise an das Individuum frei, dass er nunmehr selbst keine Religion mehr hat und sich nicht zur ihr als zu seiner Grundlage verhält: Das Recht der Wahrheit wird nicht länger im Recht des Staates verankert, sondern ist zurückgebunden an das Recht der Person! Die weitreichende Folge dieser staatlichen Selbstbegrenzung, den gesamten Bereich von Religion und Kultur der Privatsphäre seiner Bürger zu überlassen und die Gesellschaft als einen von ihm gesonderten Bereich der privaten und öffentlichen Freiheitsentfaltung anzuerkennen, besteht darin, dass ein von der Gesellschaft gemeinsam getragenes Wertefundament lediglich eine faktische Gegebenheit ist und folglich auch die öffentliche Präsenz von Religion.

Dass die Prämissen des modernen Verfassungsstaates einerseits aufruhen auf der Entflechtung von Religion und Politik und sich andererseits Recht und Ethos aus einer profanen Moral begründen lassen müssen, sind unabdingbare Voraussetzungen, von denen die Befriedung pluraler Gesellschaften abhängen. Die Trennung von Staat und Religion bindet die politische Willensbildung innerhalb einer verfassungsrechtlichen Ordnung an säkulare Entscheidungsgrundlagen, weil sie nur so von allen Bürgerinnen und Bürgern prinzipiell geteilt werden können. Diese Prinzipien münden ein in das Kernstück liberaler Verfassungen, die einerseits gleiche subjektive Freiheiten für jeden gewährleisten und die gleichmäßige private Autonomie der Bürger sicherstellen. Dies ist der eigentliche Sinn eines egalitären Universalismus, der dem moralischen Maßstab unterworfen ist, die Selbstzwecklichkeit einer jeden Person unbedingt zu achten und anzuerkennen. Das hat Folgen für das Verständnis von Religionsfreiheit, wie sie in liberalen Verfassungen kodifiziert worden ist. Das Prinzip der Religionsfreiheit übersteigt die geläufigen multireligiösen Pazifizierungsstrategien von Duldung und Toleranz, weil es eine menschenrechtlich verankerte Letztbegründung erfährt, die dem Recht auf Religionsfreiheit einen kategorischen Geltungssinn verleiht.

Die Entflechtung von Religion und Staat wiederum übt sich – um der Freiheit willen – in dem Verzicht des weltanschaulich-neutralen Staates, sich auf substanzielle Vorstellungen über eine für alle maßgebende Lebensführung festzulegen. In diesem Sinne kommt dem liberalen Rechtsstaat ausdrücklich nicht die Aufgabe zu, die Pluralität der in der Bürgergesellschaft präsenten kulturellen und religiösen Wertvorstellungen zu unterdrücken. Im Gegenteil: Diese zu schützen, dienen die in der Verfassung verankerten Grundrechte. Es sind diese universalistischen Normen, die die Behandlung von kulturellen und religiösen Differenzen strikt an das Gleichheitsprinzip und das Toleranzgebot binden. Fundamental aber ist, dass diese maßgebenden Normen selbst im Rahmen eines plural verfassten Gemeinwesens nur in dem Maße universal und freiheitsermöglichend sein können, wie sie profan begründet sind. Denn die Möglichkeit allgemeinverbindlicher ethischer Diskurse innerhalb eines politischen Gemeinwesens muss einen Geltungsgrund moralischen Sollens voraussetzen, der auch unter den Bedingungen eines pluralistischen Gemeinwesens als sittlich verbindlich und unbedingt verpflichtend auszuweisen ist.

Der Gottesbezug im Grundgesetz – verfassungsrechtliche Klärungen

Überblickt man die Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, so springt in die Augen, dass der Gottesbezug des Grundgesetzes quer steht zum Hauptstrom der deutschen Verfassungen. Weder die Verfassungen der Paulskirche, des Deutschen Reiches von 1871 noch der Weimarer Republik von 1919 kennen einen Gottesbezug. Auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates von 1948 ist dieser Strang der deutschen Verfassungstradition greifbar, weil die Einfügung eines Gottesbezuges in die Präambel des Grundgesetzes keineswegs unumstritten gewesen ist. Vornehmlich in der protestantischen Tradition beheimatete Politiker wiesen auf die Gefahr einer theologischen Überlegitimation des säkularen Staates, aber auch einer politischen Funktionalisierung Gottes hin. Anders argumentierte etwa der CDU-Politiker Adolf Süsterhenn, in der Präambel sei der Schutz der Menschenwürde so „zu unterbauen, dass er nicht einfach durch einen Mehrheitsentscheid wieder weggefegt werden kann“; er müsse „seine fundamentalen Wurzeln letzten Endes auch im Metaphysischen“ finden. Dieses Plädoyer lenkt die Aufmerksamkeit auf das entscheidende Motiv, das letztlich zur Einfügung eines Gottesbezuges in das Grundgesetz geführt hat. Es ist der entschiedene Wille gewesen, sich durch ihn vom Nationalsozialismus zu distanzieren und die Grenzen der verfassungsgebenden Gewalt in Erinnerung zu rufen: „Absage an den Atheismus als Staatsreligion“ oder „Verweis auf die Grenzen und Schranken allen menschlichen und staatlichen Handelns“ lauten die eingängigen Formulierungen, die sich bis heute in der verfassungsrechtlichen Diskussion zum „Präambelgott“ finden lassen.

Sichtlich schwer tun sich die Kommentatoren, wenn es darum geht, die verfassungsrechtliche Funktion des Gottesbezuges zu klären und seinen spezifischen Gehalt inhaltlich näher zu bestimmen. Diese Interpretationsschwierigkeiten resultieren aus der Eigenart des im Grundgesetz verankerten Prinzips der religiösen wie weltanschaulichen Neutralität des Staates. Dass im Übrigen eine wie immer geartete Verbindlichkeit im Sinne einer normativen Verpflichtung mit dem Gottesbezug nicht verbunden ist, erhellt sich auch aus der Eigenart seiner Verankerung in der Präambel des Grundgesetzes. Der Parlamentarische Rat hat sich seinerzeit für eine sogenannte „nominatio dei“ oder „commemoratio dei“ entschieden: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“ Das Grundgesetz ergeht nicht „im Namen Gottes“. Vielmehr nennt die Präambel das Volk als den Träger der verfassungsgebenden Gewalt. Sofern Art. 20 II alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen lässt, steht das Grundgesetz in einer Verfassungstradition, die geleitet ist vom Prinzip der Volkssouveränität.

Angesichts dieses Befundes verwundert es nicht, dass die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Funktion der „nominatio dei“ erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Lässt man die gelegentlich begegnende offenkundige Fehlinterpretation außen vor, durch ihn werde die Bundesrepublik Deutschland als ein christlicher Staat konstituiert, so wird in der Forschungsliteratur vornehmlich herausgestellt, dass mit der Einfügung der „nominatio dei“ vor allem die Motivation des Verfassungsschöpfers zum Ausdruck gebracht werde, sich vom Nationalsozialismus distanzieren zu wollen, indem die „Grenzen der verfassungsgebenden Gewalt“, die „Grenzen und Fehlbarkeit menschlichen Tuns“ betont werden.

Diese Formulierungen bedürfen allerdings einiger Präzisierungen, sofern mit ihnen behauptet wird, das relative Geschehen von Politik und Recht einer transzendenten Verantwortung zuzuordnen. Es ist jedoch klärungsbedürftig, inwiefern durch die Gottesklausel des Grundgesetzes das Recht in überpositive Zusammenhänge gerückt wird. Fungiert, so die Frage, die „nominatio dei“ als eine theonome Rechtsbegründung? Gegen diese Deutung spricht freilich die Anlage des Grundgesetzes selbst. Denn es findet sein Spezifikum in der eigentümlich asymmetrischen Verklammerung des Staatsorganisationsrechtes mit den Grundrechten. Das Grundgesetz beantwortet die rechts- wie staatsphilosophisch ja durchaus heikle Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft und staatlicher Rechtsetzung, aber auch nach der Bindung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes an einen Geltungsgrund, der der Volkssouveränität selbst schlechthin entzogen ist, durch die in Art. 1 bis 19 GG fixierten Grundrechte als dem vor-rechtlichen beziehungsweise vor-staatlichen Geltungsgrund rechtsstaatlicher Ordnung. Die Absage an einen relativistischen Gesetzespositivismus ist mithin ausgesprochen in den Grundrechten des Grundgesetzes, die nicht nur als unmittelbar geltendes Recht Legislative, Exekutive und Judikative binden, sondern in ihrem Kern unabänderlich und einer Änderung durch die verfassungsgebende Gewalt entzogen sind. Die infragestehende normative Legitimitätsgrundlage des Staates wird durch das Grundgesetz so beantwortet, wie es der neuzeitlichen Tradition des freiheitlichen, säkularen Staates entspricht: Er verhält sich zur Religion nicht mehr als zu seinem Fundament und beantwortet die staatstheoretisch prekäre Frage nach seiner Legitimation ausdrücklich nicht im Rekurs auf die Religion. Aus verfassungstheoretischer Perspektive kommt dem Gottesbezug der Präambel ausdrücklich keine geltungstheoretische Funktion der Rechtsbegründung beziehungsweise Legitimation staatlicher Herrschaft zu!

Gott im Grundgesetz: Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts

Theologisch brisant und juristisch umstritten ist die Frage, auf welchen Gott sich die „nominatio dei“ der Präambel bezieht. Hier ist es ratsam, zwischen der verfassungsgeschichtlichen Ebene einerseits und der verfassungsrechtlichen Ebene andererseits zu unterscheiden. Für die christlichen, aber auch die nichtchristlichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates ist die Identifizierung des „Präambelgottes“ mit dem christlichen Gott selbstverständlich gewesen. Vor dem Hintergrund aller für die Religionsverfassung des Grundgesetzes einschlägigen Artikel steht außer Frage, dass die Bundesrepublik Deutschland ein weltanschaulich neutraler Staat ist, der durch eine grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche gekennzeichnet ist und Religions- und Bekenntnisfreiheit gewährleistet. Folglich ist der Staat auf den Grundsatz der Religionsneutralität verpflichtet; eine staatliche Identifikation mit einer Religion oder einer Religionsgemeinschaft ist ausgeschlossen. Dies bedeutet, dass in verfassungsrechtlicher Hinsicht mit der Einfügung der „nominatio dei“ in die Präambel keine exklusive Identifizierung des in ihr genannten „Gottes“ mit dem christlichen Gott stattfinden darf.

Was aber kann dann mit der Nennung Gottes im Grundgesetz gemeint sein, wenn anders dieser Begriff mehr und anderes sein soll als eine vage dahinschweifende Transzendenz? Meinen Vorschlag, den ich zur Diskussion stellen möchte, werde ich abschließend in vier Schritten entfalten. Ein Plädoyer für die Beibehaltung des Gottesbezuges im Grundgesetz oder aber für seine Einfügung in eine zukünftige EU-Verfassung, wird – erstens – eine Antwort auf die Frage finden müssen, ob es einem weltanschaulich neutralen Gemeinwesen wie es die Bundesrepublik Deutschland, aber auch die EU sind, überhaupt erlaubt sein kann, in seiner Verfassung einen Gottesbezug explizit zu machen. Diese Berechtigung bemisst sich an der Ernsthaftigkeit, mit der sich der gesellschaftliche Diskurs herausfordern lässt durch die einst von Ernst-Wolfgang Böckenförde aufgeworfene Frage, die noch stets nicht beantwortet ist: „Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann?“ Angesichts des Sinnverlusts der säkularen Gesellschaft und des Legitimitätszerfalls ihrer Institutionen scheint es mir unverantwortlich, dem von Böckenförde formulierten Paradox heute noch ausweichen zu wollen. Seltsam unmodern ist inzwischen allein noch der, der die Ressentiments von einst pflegt und sich dadurch Fragen vom Leib halten will, die zu stellen der 11. September 2001 gewaltsam erzwungen hat. Wenn die plural verfasste Gesellschaft ihr Verhältnis zur öffentlichen Präsenz von Religion nicht klärt, schafft sie ein Vakuum, das von Fundamentalismen jeglicher couleur nur zu gerne gefüllt wird.

Wenn deutlich wird, dass gerade ein säkularer freiheitlicher Staat ein elementares Interesse an Sinnvorgaben hat, die er selbst um der Freiheit willen nicht verbürgen kann, widerspricht es seinen Grundlagen nicht, wenn er seine Angewiesenheit auf sie ausdrücklich macht. Doch weil die Aufdeckung von historischen Ursprüngen allein die gesellschaftlich bedrängende Frage nach Sinnvorgaben noch keineswegs beantwortet, bedarf es eines Begriffs, dem allein jene Bestimmtheit innewohnt, die dem Sinnbedürfnis der menschlichen Existenz standzuhalten vermag. Aus diesem Grund halte ich die jetzt gewählte Formulierung des EU-Verfassungsentwurfs „Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas …“ für einen Schwächeanfall rechtsphilosophischer Vernunft.

Das Recht zur Einfügung einer „nominatio dei“ in die Verfassungspräambel kann der Bundesrepublik oder der EU nicht grundsätzlich abgesprochen werden, weil die sie legitimierenden Verfassungen Ausdruck einer konkreten Werteordnung sind und keineswegs als ein bloß formaler Organisationsrahmen für das Verhältnis zu ihren Bürgern fungieren. Der Grundrechtsteil von Grundgesetz und EU-Verfassungsentwurf ist in anthropologischer Hinsicht äußerst anspruchsvoll und mutet den Bürgern zu, sich als autonome Freiheitssubjekte begreifen zu sollen. Sofern sich diese Zumutung stets auch als Anspruch geltend macht, an dem sich das Handeln der Menschen orientieren soll, erwächst mit diesem Anspruch auch die Unausweichlichkeit, sich der Frage nach der faktischen Angewiesenheit des Staates und seiner Bürger auf Sinnvorgaben zu stellen: „Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst mitverantwortet“ (Paul Kirchhof).

Der fällige Streit kann sich also lediglich um zwei Fragen drehen: Warum gehören religiöse Traditionen zu diesen Sinnvorgaben und warum legt der Versuch, diese inhaltlich zu bestimmen, die Einführung einer nominatio dei nahe?

Darf – zweitens – die „nominatio dei“ Menschen zugemutet werden, die den Glauben an Gott nicht teilen? Hier sind Differenzierungen unerlässlich! Zunächst kommt einer „nominatio dei“ ausdrücklich keine geltungstheoretische Funktion zu. Somit steht die Geltung der Verfassungsprinzipien nicht unter dem Verdacht, von einem Geltungsgrund abhängig zu sein, der in einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen nicht universalisierbar wäre. Nur wenn verfassungsrechtlich einwandfrei klargestellt werden kann, dass und warum die „nominatio dei“ einer Verfassungspräambel nicht mit der Beantwortung der staatstheoretischen Legitimitäts- und Begründungsfragen befrachtet wird, leuchtet im Übrigen die verfassungsrechtliche Sinnhaftigkeit eines Gottesbezuges allererst ein.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist freilich, nicht auf der Trennung, wohl aber auf der Unterscheidung von Moral und Sinn zu bestehen. Dass der Gottesbegriff einen Sinngehalt impliziert, der für das Gelingen menschlicher Existenz unbedingt bedeutsam ist, wird ja gerade verdeckt, wenn die Ethik der Sinnthematik subordiniert und theologischerseits dem Autonomieprinzip die Anerkennung verweigert wird. Der biblische Gedanke der Gottebenbildlichkeit zum Beispiel verliert seinen verheißungsvollen Sinnüberschuss, würden wir ihn einschränken auf den ethischen Begriff der politischen und moralischen dignitas. Es ginge nämlich gerade jener unabgegoltene Sinn verloren, der die Einfügung eines expliziten Gottesbezugs legitimieren würde: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist Ausdruck eines „kategorischen Indikativs“ (G. Fuchs), der die Unwiderruflichkeit der Treuezusage Gottes vorbehaltlos zusagt.

Auf diese Sinndimension des „kategorischen Indikativs“ verweist jedoch, so meine These, der Gottesbezug einer Verfassungspräambel. Seine humane und humanisierende Bedeutung für den menschlichen Sinnvollzug liegt darin, dass sie das ethische Handeln des Menschen von der Sinnproblematik seines kontingenten Daseins entlastet. Ihre politische Sinnspitze hätte sie folgerichtig in der Erinnerung daran, dass wir Menschen allein die Gestaltung des öffentlichen Gemeinwesens zu verantworten haben, jedoch davon befreit sind, zugleich auch für den Sinn unseres Daseins einstehen zu müssen. Politisches Handeln in Staat und Gesellschaft verfügt, wenn es denn sinnvoll sein soll, über diesen Sinn selbst nicht. In der „nominatio dei“ erhält, mit anderen Worten, die Selbstbeschränkung des modernen Verfassungsstaates ihren inhaltlich bestimmten Ausdruck: Der Staat hat seinen Sinn nicht in sich selbst, und es ist nicht seine Aufgabe, Sinn zu produzieren oder gar dem Menschenwesen erst seinen sittlichen Sinn zu geben.

Auch wenn es möglich ist, die rechtsphilosophische Reflexion bis zu dem Punkt voranzutreiben, dass die humane und humanisierende Bedeutung eines Gottesbezuges einsichtig gemacht werden kann, wird – drittens – der Einwand zu berücksichtigen sein, es sei dem weltanschaulich neutralen Staat der Rückverweis auf Gott auch im Angesicht seiner Krise strikt untersagt. Wiederum sind Differenzierungen vonnöten. Einerseits dürfte die Einsicht unausweichlich sein, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen der Präambelgott mit dem Christentum nicht identifiziert werden darf. Das aber würde ja ohnehin nur unter der theologisch wie philosophisch unhaltbaren Voraussetzung der Fall sein können, dass Gott als Eigentum einer bestimmten Religion angesehen würde und nicht als universaler Sinngrund aller Menschen.

Doch auf welche Kriterien könnte ein Gemeinwesen zurückgreifen, das ausdrücklich nicht religionsgebunden ist? Es dürfte deutlich sein, dass die Kriterien, die eine „nominatio dei“ inhaltlich bestimmen würden, sich in jedem Fall vereinbaren lassen müssen mit den Legitimations- und Rechtsprinzipien säkularer Verfassungen. Die materiale Ausgestaltung ihrer Grundrechtskataloge legt jedoch zweifelsohne anthropologische Kriterien frei für eine, wie ich sie nennen würde, Minimalbestimmung des in der Präambel genannten Gottes. Da dieser Gottesbegriff in jedem Fall vereinbar sein muss mit dem Menschenbild der Verfassung und dem Selbstverständnis eines säkularen freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates, sind für die inhaltliche Bestimmung der „nominatio dei“ zumindest die folgenden Momente unverzichtbar: Das eine betrifft den Zusammenhang von Menschen- und Gottesbild und das andere ein bestimmtes Verständnis von Welt und Geschichte: die Achtung der Würde des Menschen als unvertretbares Individuum und die unbedingte Anerkennung seiner subjekthaften Freiheit; seine Verwiesenheit auf Gemeinschaft und Gesellschaft; ein bestimmtes Verständnis von Welt und Geschichte insofern, als erst der Gedanke einer positiven Freilassung der Welt in ihre unableitbare Eigenständigkeit die Säkularität freier Geschichts- und Weltgestaltung als möglich erscheinen lässt.

Deutlich benannt werden müssen – viertens und letztens – die Grenzen meines Vorschlages. Sie liegen ausdrücklich nicht bereits darin, dass ich überhaupt daran festhalte, dass Gott ein universales, ein Menschheitsthema ist. Der Streit darüber, dass es die Bestimmung des Menschen ausmacht, ein „bewusstes Leben“ nicht ohne „Bewandtnis“ führen zu sollen (Dieter Henrich), ist fällig. Zu ihm aber gehört, sich als das nicht selbstverständliche Wesen begreifen zu müssen, das eine Antwort auf für sein Leben elementare Fragen allererst zu suchen hat: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ (Immanuel Kant)

Die Grenze meiner Argumentation liegt vielmehr im Folgenden: Der Aufweis, dass die Frage des Menschen nach sich selbst ineins die Frage nach Gott ist, reicht nicht weiter als bis zu der Einsicht, dass das Gottdenken dem Sinninteresse des Menschen gemäß und die Rede von Gott anthropologisch relevant ist. Die Gültigkeit des theologischen Satzes bleibt also unverletzt, dass Gott nur durch Gott erkannt werden könne im Lichte seines Offenbarwerdens. Mithin verfügt auch der Gottesbezug einer Verfassungspräambel nicht über die Wirklichkeit Gottes, wenn er daran festhalten will, dass der Sinngrund des politischen Gemeinwesens nur sein kann, was von Welt und Mensch schlechthin unterschieden ist und für sinnstiftende Möglichkeiten einsteht, die unser menschliches Können übersteigen. Diese strukturelle Selbstbescheidenheit einer „nominatio dei“ eröffnet wiederum die Chance eines Staates, in einer plural verfassten Gesellschaft diejenigen religiösen Traditionen als sinnstiftende Ressourcen zu achten und anzuerkennen, die diese bestimmte Rede von Gott öffentlich bezeugen und in ihrer Lebenspraxis real vergegenwärtigen.

Literaturhinweise:

  • Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (stw 914), Frankfurt (Main) 21992, S. 92-114.
  • Georg Essen: Der „Präambelgott" – „Verfassungsanker" oder „Verfassungsstörer"? Theologische Anmerkungen zur verfassungsrechtlichen und rechtsphilosophischen Bedeutung der Nominatio Dei im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Kirche und Recht 7 (2001), S. 125-138.
  • Ders.: Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft. Göttingen 2004.
  • Michael F. Feldkamp (Hrsg.): Die Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland 1949. Eine Dokumentation. Stuttgart 1999.
  • Paul Kirchhof: Freiheit in der Gemeinsamkeit der Werte. Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst mitverantwortet, in: FAZ, Nr. 117, 22.05.1999, S. 8.
  • Hans Vorländer: Die Verfassung. Idee und Geschichte. München 1999.