Das multireligiöse Ungarn

Prof. Dr. András Máté-Tóth ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Szeged und Privatdozent des Institutes für Praktische Theologie an der Universität Wien. Mariann Molnár ist Schülerin von Professor Máté-Tóth (Diplomarbeit: Vergleichende Analyse esoterischer und christlicher Religiosität in Ungarn).

„Glauben Sie an dieses Amulett?“ „Keineswegs, aber man sagte mir, es wirkt, auch ohne daran glauben zu müssen.“ Nicht nur im modernen Ungarn, sondern auch in der gesamten europäischen Kulturgeschichte haben Menschen ihre Alltagswelt außerhalb kirchlich-autorisierter Frömmigkeit eingerichtet und mit vielen Gegenständen und Praktiken in der Hoffnung auf ein gesundes und geschütztes Leben angereichert. Selbst das aufgeklärte und rationale Europa von heute erliegt den bunten und märchenhaften Welten des Aberglaubens.

Kulturtendenzen

In der theologischen und religionswissenschaftlichen Fachliteratur wird über Europa als sogenannte „Postregion“ diskutiert: postmateriell, postsäkular, postmaterialistisch, postchristlich – speziell für die ost- und mitteleuropäischen Transformationsländer auch postkommunistisch. Diese Bezeichnungen deuten darauf hin, dass eine eigenständige Bezeichnung für die gegenwärtige Kultur noch nicht gefunden worden ist. Die Experten versuchen in Bezug auf die Vergangenheit die Gründe dieser Entwicklung in Europa in Rationalität, Individualität, Bürokratie, Demokratie und Religionsfreiheit zu suchen. Lokalitäten und Regionalitäten lösen sich auf und werden durch globale Aspekte ersetzt. Altbewährte Denkstrukturen, Traditionen und Institutionen gehören immer mehr der Vergangenheit an, es herrschen sterig zunehmend Verwirrung und Willkür. Bei diesen Dekonstruktionsvorgängen sollte man aber auch die Rekonstruktionen wahrnehmen: Tendenzen, wodurch Orientierungen, Weltsichten, Verknüpfungen und Logiken entstehen. In dieser Rekonstruktion spielt Religion eine große Rolle, wenn wir darunter nicht nur das kirchliche Christentum verstehen, sondern auch die vielfältigen Bewährungsmythen und Sinngemeinschaften (Ulrich Oevermann) der heutigen Menschen. Eine solche erweiterte Sicht ermöglicht die Betrachtung von Dimensionen, die oft ausgegrenzt oder geheim waren und es meist auch sind – also esoterisch.

Die Vielfalt der Religionsgemeinschaften

Ungarn war schon immer ein überdurchschnittlich tolerantes Land bezüglich (christlicher) Religionsgemeinschaften. Bereits auf dem Landtag 1568 von Torda (Turda/Thorenburg, Siebenbürgen) wurde erstmals die Religionsfreiheit festgelegt. Die aufgeklärte absolutistische Monarchie bestätigte dies Ende des 18. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Religion und Kirche zu Hauptfeinden des neuen Systems erklärt, dementsprechend auch verfolgt und aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Während der politischen Wende wurde 1989 noch vom letzten Parlament des alten Systems ein neues Religionsgesetz verabschiedet, das nicht nur Einzelpersonen Religionsfreiheit zusicherte, sondern auch durch sehr liberale Bedingungen die Gründung von Kirchen erleichterte. Heute kann mit 100 Personen in Ungarn eine Kirche im staatsrechtlichen – nicht im theologischen – Sinne gegründet werden, der Staat kontrolliert diese Gemeinschaften überhaupt nicht. Diese „absolute” Freiheit wurde oft in Anspruch genommen; zur Zeit rechnet man in Ungarn mit über 200 Religionsgemeinschaften, die sich nach diesem Gesetz registrieren ließen. Eine von Renovabis geförderte Untersuchung zeigte, dass es 2004 unter diesen „Kirchen” nicht wenige gibt, die ausschließlich „auf dem Papier“ existieren und eher aus steuerrechtlichen als aus religiösen Gründen entstanden sind. Die Gesamtzahl der Mitglieder dieser neuen Gemeinschaften liegt nach seriösen Schätzungen etwa bei 1 Prozent der Bevölkerung, die der traditionellen Kirchen bei 65 Prozent.

Die Mehrzahl der so genannten „Kirchen“ ist christlich, wobei sich darunter auch viele charismatische neoprotestantische Religionsgemeinschaften befinden. Viele kleine Gemeinschaften mit sehr wenigen Mitgliedern und hoher Fluktuationsrate berufen sich auf fernöstliche religiöse Traditionen oder eklektische Sonderentwicklungen, die vielfach ein wenig unpräzis als „New Age-Gruppen“ apostrophiert werden. Die Beziehungen zwischen den kleineren Religionsgemeinschaften und den großen sind im Allgemeinen reibungslos. Als Ergebnis einer breiter angelegten Untersuchung der Printmedien hat sich gezeigt, dass die Thematik in den Tageszeitungen eher schematisch abgehandelt wird und auch keine Spitzenposition einnimmt. Die linksliberale Presse sieht in der unüberschaubaren Vielfalt der Religionsgemeinschaften einen Beweis der Religionsfreiheit und die Unmöglichkeit des Monopols der Großkirchen; hingegen betont die rechtskonservative bzw. christdemokratische Presse eine geschichtlich begründete und wertezentrierte Kulturkoalition mit den großen Kirchen, sieht in der kleineren Religionsgemeinschaften eher eine Bedrohung und nennt sie auch Sekten mit negativem Beiklang.

Esoterische Dimensionen und Praktiken

Esoterik ist ein Dachbegriff in der heutigen Öffentlichkeit, unter dem viele Kulte, Praktiken und Einstellungen zusammengefasst werden, etwa auch Bereiche wie Okkultismus, New Age, Jugendreligion, Satanismus und Magie. Eine (religions-)wissenschaftlich fundiertere und differenziertere Analyse bietet ein ausgeglichenes Raster, mit dessen Hilfe man die bunte Vielfalt heutiger Spiritualitäten besser verstehen und einordnen kann. Wir werden in der Darstellung der Esoterik vor allem an die Arbeiten von Kocku von Stuckrad und Monika Neugebauer-Wölk anknüpfen.

Esoterik ist ein griechisches Wort und bedeutet „inneres, geheimes Wissen“ gegenüber dem öffentlich zugänglichen, der Exoterik. Wer und wie die Grenze zwischen innen und außen bestimmt, hängt von den einzelnen Kulturkreisen, Epochen und Machtstellungen ab. Der griechische Begriff taucht zuerst wahrscheinlich bei Lukian von Samosata (ca. 120-180) auf. Ein wichtiges und in der wissenschaftlichen Diskussion geprüftes Verständnismodell hat Antoine Faivre ausgearbeitet, der sich intensiv mit der Religionsgeschichte der Renaissance und der Neuzeit auseinandersetzte. Seinen Forschungen zufolge durchzieht die so umrissene Esoterik die ganze europäische Kulturgeschichte. Zur Esoterik gehören zunächst die „okkulten Künste“ Astrologie, Alchemie und Magie, deren Wurzeln in der Antike zu suchen sind. Hinzu kommen neuplatonische und hermetische Denkansätze sowie die jüdische Kabbala, die als antikes Geheimwissen galt und mit philosophischen Anschauungen verknüpft wurde.

Die Zusammenhänge dieser Traditionslinien wurden schon in der frühen Neuzeit erkannt und mit dem lateinischen Begriff „philosophia perennis“, „ewige Philosophie“, belegt. Mit diesem Begriff verband sich der Anspruch, einer Wahrheit auf der Spur zu sein, die älter als alle historischen Religionen ist und die in verschiedenen Disziplinen auf je eigene Art ihren Ausdruck findet. Faivre entwickelte aus diesen Traditionen einen systematischen Entwurf, der die Esoterik als eine „Denkform“ charakterisierte. Demzufolge sind bei der Esoterik vier zentrale Komponenten zu unterscheiden:

  • Das „Denken in Entsprechungen“, d. h. die Annahme, die verschiedenen Ebenen oder „Klassen“ der Wirklichkeit (Pflanzen, Menschen, Planeten, Mineralien usw.) bzw. die sichtbaren und unsichtbaren Teile des Universums seien durch ein Band von Entsprechungen miteinander verbunden. Diese Verbindung ist nicht kausal, sondern symbolisch zu verstehen.

  • Die „Idee der lebenden Natur“ fasst den Kosmos als beseeltes System auf, das von einer lebendigen Energie durchflossen wird.

  • „Imagination und Mediationen“ (d. h. Vorstellungskraft und Vermittlungen) verweisen darauf, dass das esoterische Wissen um die Entsprechungen hohe symbolische Vorstellungskraft erfordert, was gerade für die praktische magische Arbeit von Bedeutung ist. Das Wissen wird durch spirituelle Autoritäten (Götter, Engel, Meister oder Geistwesen) offenbart.

  • Die „Erfahrung der Transmutation“ schließlich stellt eine Parallele her zwischen äußerem Handeln und innerem Erleben; in Analogie zur Alchemie geht es der Esoterik darum, den Menschen auf seinem geistigen Weg zu läutern und ihm eine innere Metamorphose zu ermöglichen.

Esoterischer Glaube

Weitere esoterische Details spielen für die Masse der heutigen Zeitgenossen kaum eine Rolle. Wichtiger ist sicher das „handfeste“ Hauptdogma, demzufolge man geheime direkt wirksame Kräfte für das eigene Wohl in Anspruch nehmen kann. Diese Art des Glaubens ist auch in Ungarn sehr verbreitet. Etwa 40 Prozent der Erwachsenen glaubt an Telepathie, also an eine Vorstellung, wonach Informationen und Wirkungen unmittelbar an Menschen oder an andere Lebewesen übertragbar sind, ohne dass konkrete und messbare Beziehungen zu diesen bestehen. So wirkt(e) in Ungarn der Fernheiler József Gyurcsók, der behauptete, er könnte durch Telefonanrufe heilende Energien übertragen. Die „Kirche der universalen Liebe“ ist seine Gründung – eine virtuelle Gemeinschaft, die für ihn günstigere Steuerabrechnungen ermöglicht. Er wurde zwar für seine Tätigkeit verurteilt, setzt aber seine Praktiken im Privatfernsehen fort.

Europäische Untersuchungen zeigen, dass zum einen zwischen dem Glauben an Telepathie und dem Glauben an Reinkarnation eine ziemlich starke und signifikante Korrelation besteht, dass zum anderen jedoch ursprünglich eindeutig christlich geprägte Glaubensinhalte wie Himmel, Hölle oder Leben nach dem Tod gar nicht mehr klar von einem esoterischen Glauben abgegrenzt werden können. Wie in vielen Gesellschaften der (reichen) Welt können viele Menschen heute nicht mehr in homogenen religiösen Traditionen denken; stattdessen herrschen Vielfalt und Beliebigkeit vor. Nach der Europäischen Wertestudie (EWS) glaubten von den befragten Erwachsenen 56 Prozent an heilende Kräfte, 27 Prozent an spirituelle Wesen, mit denen man Kontakt aufnehmen kann, 24,5 Prozent an Reinkarnation, 35 Prozent an die Wirkung von Flüchen, 58,1 Prozent an Telepathie und 21,6 Prozent an Wahrsagen. Esoterischer Glaube bietet eine dichte Sinnwelt und lebt in hochmodernisierten Gesellschaften!

Eine Umfrage in Ungarn im Jahr 2004 hat gezeigt, dass etwas weniger als die Hälfte der Befragten meint, es schade nicht, wenn man sein Horoskop beachtet. Schon 1976 hat Robert Wuthnow nachgewiesen, dass die Beachtung des eigenen Sternzeichens als „Gegenkultur“ (counterculture) verstanden werden kann, als eine spirituelle Opposition zu den bestehenden kulturellen Traditionen, die vor allem unter Randgruppen gepflegt werden. In Ungarn messen besonders jüngere Frauen ihrem Horoskop größere Bedeutung bei. Laut einer Umfrage in Szeged vom letzten Jahr besteht allerdings eine negative Korrelation zwischen Kirchgang und Esoterik: Die Menschen, die häufiger an Gottesdiensten teilnehmen, glauben eher an die Auferstehung als an eine Reinkarnation. Für sie stehen die christlichen Glaubensaussagen im Gegensatz zu den vermutlich esoterischen. Dies gilt jedoch mehrheitlich für die ältere Generation, bei der jüngeren ist der Zusammenhang eher umgekehrt. Auch ist bei Menschen in stabilen Familien der christliche Glaube häufiger, während man bei Geschiedenen oder Singles eher eine esoterische Weltsicht antrifft. Esoterik scheint signifikant ein Zeichen des Individualismus zu sein, wo vor allem das (geheime) Wissen Gedanken und Lebensführung bestimmt.

Praxis

Zu den esoterischen Praktiken werden vor allem folgende Bereiche gerechnet: Wahrsagerei, Tarot (Antwort auf konkrete Lebensfragen aus der Lage der Tarotkarten), Pendeln (mit einem Gewicht werden Diagnose und Therapie einer Krankheit erstellt), Geistheilung (Heilung körperlicher Krankheiten unter Verwendung magischer Kräfte), Reiki (japanische Form der Heilung durch Handauflegung) und Geisterbeschwörung (Kontaktaufnahme vor allem mit verstorbenen Verwandten). Nach einer aktuell noch laufenden Internetbefragung in Ungarn scheinen vor allem verschiedene Formen von Geisterbeschwörung und Reiki verbreitet zu sein, daneben auch schamanistisches Trommeln und Feng Shui. Viele dieser esoterischen Praktiken sind zwar bekannt, werden aber wohl nicht praktiziert. Als Dimension der heutigen Kultur gehört das ganze Spektrum eher zur virtuellen Erlebniswelt, zu einer Art Flucht durch Neugier, ähnlich dem modernen Starkult in der Boulevard-Presse. Interessante Einblicke gewinnt man durch eine kürzlich durchgeführte Untersuchung unter 14-18jährigen Schülerinnen in Schulen von Szeged und Umgebung. Rund 40 Prozent der 750 Befragten berichteten, sie hätten sich bereits esoterisch betätigt, vor allem mit Tarot und Geisterbeschwörung. Die meisten Motivationen sind Neugier und „it’s cool“; nur wenige Schüler gaben an, diese Praktiken wären bei der Orientierung in der Welt hilfreich.

Evangelisation in der Religionsvielfalt

Monika Neugebauer-Wölk hat den Versuch unternommen, Esoterik und Christentum kritisch gegeneinander abzugrenzen. Sie zeigt auf, dass das Esoterische als eine Alternative zum Christentum verstanden werden sollte, die sich in christliche Sinnstrukturen nicht integrieren lässt und deshalb – spätestens im Zeitalter der Konfessionalisierung – eine große Sprengwirkung entfaltete. Allerdings ist festzuhalten: Obwohl sich Esoterik und Christentum nicht vereinbaren lassen, scheinen sich in der Postmoderne die klaren Grenzen zwischen beiden sehr zu verwischen. Heute spricht man einerseits über einen verbreiteten Markt der Religionen oder der Sinnangebote, andererseits über eine „Leutereligion“ (Paul M. Zulehner), bei der die Menschen nach eigenem spirituellem Geschmack ihren Religionscocktail mischen. Dafür lassen sich leicht einleuchtende Beispiele zu nennen. Der Erlöser der Christen, Jesus Christus, wird zum Magier umgedeutet und in eine lange Reihe der Religionsstifter und anderer Gurus gestellt.

Die katholische und die protestantischen Kirchen haben in Ungarn keinen so genannten Beauftragten für Weltanschauungsfragen wie z. B. die Diözesen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch bei den Regierungsorganen wurde eine solche Stelle nicht eingerichtet, obwohl die EU solche „church watcher“-Organisationen empfiehlt. Die Erforschung der Religionsgemeinschaften und der Religiosität der Mitglieder der neuen Religionsgemeinschaften geschieht an der staatlichen Universität Szeged. Für die Kirchen und für die breite Öffentlichkeit ist immer noch ein erster wichtiger Schritt zu tun: regelmäßige und seriöse Informationen über die religiöse Dimension der ungarischen Gesellschaft zu liefern und die dazu nötigen materiellen und menschlichen Ressourcen zu sichern. An den theologischen Hochschulen gibt es noch keine entsprechenden Lehrveranstaltungen. Bevor man aber versucht, das Evangelium in einer pluralistischen Gesellschaft zu verkündigen, muss man den Pluralismus überhaupt erst richtig kennen und verstehen lernen.


Literaturhinweise:

  • Hermann Denz: Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa. Wien 2002.

  • Antoine Faivre: Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens. Freiburg, Basel, Wien 2001.

  • Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995.

  • Péter Török: Magyarországi vallási kalauz – 2004. Budapest 2004.