Eurovisionen in Serbien – oder: Was der Fiat 600D mit der serbischen Zivilgesellschaft zu tun hat

aus OWEP 4/2008  •  von Nenad Stefanov

Der Autor, Historiker mit dem Schwerpunkt Südosteuropa, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas.

Die politische Öffentlichkeit in Serbien hat ein ereignisreiches halbes Jahr hinter sich: von den stark polarisierenden Präsidentschaftswahlen im Februar über die Erklärung der staatlichen Souveränität des Kosovo, den aus diesem Anlass stattfindenden Trauerprotest-Veranstaltungen in Belgrad einschließlich der Attacke gegen westliche Botschaften durch stadtbekannte Hooligans, die Verhaftung Radovan Karadžićs bis hin zu den Parlamentswahlen, die stärker mobilisierten als der fast zeitgleich in Belgrad stattfindende Grand Prix de l’Eurovision, der nahezu unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit vor sich ging. Im Unterschied zur Ukraine, wo Juschtschenko die Bühne der Schlagerfreunde für ein Bekenntnis zu Europa nutzte, war in Serbien der Wahlsieger noch nicht in dieser eindeutigen Lage. Dennoch gewann das Bündnis „Für ein europäisches Serbien“ gerade mit dieser Parole die Wahlen. Als Endpunkt der Entwicklung steht nun eine Koalition aus der Demokratischen Partei des ermordeten Premiers Zoran Djindjić und der Sozialistischen Partei Serbiens des in Den Haag verstorbenen Slobodan Milošević. Viele nehmen dies als die tiefste Zäsur seit dem Sturz Miloševićs im Oktober 2000 wahr.

Die Bewertung der politischen Entwicklung ist eine wichtige Voraussetzung für die Darstellung der Prozesse und Veränderungen innerhalb der Nichtregierungsorganisationen (NROs) sowie für das Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen diese arbeiten. Im folgenden Beitrag geht es um das Verhältnis zwischen der politischen Ausrichtung Serbiens und den Konsequenzen, die diese für zivilgesellschaftliche Ansätze hat – für die Möglichkeiten, aber auch Hindernisse, die sich aus der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ergeben.

Es hat den Anschein, als ob im ersten Halbjahr 2008 zumindest eine bestimmte Phase der Definition und Einteilung der politischen Lager zu Ende gegangen sei. Zumindest deutet das Ergebnis der Parlamentswahlen darauf hin: Das Wahlbündnis „Za Evropsku Srbiju“ (Für ein europäisches Serbien – ZES), bestehend aus der Demokratischen Partei (DS), die den Staatspräsidenten Boris Tadić stellt, der Expertenvereinigung G17 Plus, die seit langem für eine EU-Orientierung der serbischen Wirtschaft eintritt, sowie der SPO von Vuk Drašković, die nahezu bedeutungslos geworden ist, konnte einen überraschend deutlichen Sieg davontragen.1 Damit hatte kaum jemand gerechnet, nicht einmal die notorischen Experten aus der „International Crisis Group“, die zuvor noch vor einer zu offenen Unterstützung von ZES durch die EU als „absolut kontraproduktiv“ gewarnt hatte.2 Hinzu kamen gute Wahlergebnisse für die Parteien der nationalen Minderheiten, die traditionell pro-europäisch ausgerichtet sind, sowie für die Neugründung LDP (Liberal Demokratische Partei), die sich als authentische Vertreterin eines „anderen“, pro-europäischen Serbien begreift. Die LDP ist vor allem eine Sammlungsorganisation ehemaliger Aktivisten der Antikriegsbewegung der neunziger Jahre sowie enttäuschter Ex-Mitglieder der Demokratischen Partei, denen die Politik Tadićs zu nationalistisch und gegenüber Koštunica zu nachgiebig war. Letzterer ist der große Verlierer dieser Wahl: die DSS (die sich schon Anfang der neunziger Jahre von der DS abgespalten hatte, weil diese nicht „national“ genug war) stürzte von ihrem ohnehin schlechten Vorjahresergebnis noch weiter ab. Ähnlich erging es den Radikalen, die im Unterschied zum Präsidentschaftswahlkampf dieses Mal offen zu ihrem in Den Haag einsitzenden Parteichef Vojislav Šešelj standen, damit aber nicht mehr und keine neuen Wähler gewinnen konnten. Die SPS und ihr Vorsitzender Ivica Dačić rückten hingegen durch ihr überraschend gutes Ergebnis plötzlich in den Mittelpunkt des Interesses der serbischen politischen Öffentlichkeit sowie der Außenpolitiker der EU.

Das Ende einer „Epoche“?

Dass SPS und DS nun eine Regierung bilden, erscheint angesichts der klaren Konfrontation in den neunziger Jahren sowie nach dem Sturz Miloševićs etwas Unerhörtes zu sein. Eine Epoche, in der der Versuch unternommen wurde, Serbien aus der Isolation zu führen, ist nach Ansicht mancher Analysten nun definitiv zu Ende. Zugleich wird diese Koalition in der Öffentlichkeit (auch über Serbien hinaus) als Garant für ein pro-europäisches Serbien wahrgenommen. Dieses scheinbare Paradoxon soll hier mit einem Blick auf die Veränderungen in der politischen Szenerie aufgelöst werden.

Widersprüche indes bleiben auf den ersten Blick: Vor allem der bisherige Premier Koštunica geißelt die Koalition von SPS und ZES als Zeichen der Unzuverlässigkeit und Wankelmütigkeit der SPS, die damit eine „national verantwortliche Regierung“, wie es im Jargon der DSS und der sie unterstützenden einflussreichen Zeitung „Politika“ heißt, unmöglich mache. Die Koalition der SPS mit dem Bündnis ZES mutet als Bruch mit der im Oktober 2000 eingeleiteten Abkehr vom Milošević-Regime und seinen politischen Praktiken an. Vor allem in der Wahrnehmung der Anhänger der LDP, die allerdings diese Koalition tolerieren wollen, bedeutet es einen Abschied von der Politik Djindjićs, deren Kern viele in der Auslieferung Slobodan Miloševićs, des Parteichefs des jetzigen Koalitionspartners, an das Tribunal in Den Haag symbolisiert sehen. Allerdings zeigt die Entrüstung Vojislav Koštunicas deutlich, wie sehr die Konturen zweier klar gegenüberstehender politischer Richtungen schon lange verwischt sind. Galt Koštunica doch als der Kontrahent Miloševićs, der dem demokratischen Bündnis 2000 den Wahlsieg brachte. Nun schimpft Koštunica auf die SPS, dass sie kein Bündnis mit seiner DSS und den Radikalen eingeht. Was auf den ersten Blick verwirrend und vor allem als charakteristisch für die Personalisierung der Politik in Balkanländern anmutet, erschließt sich auf den zweiten Blick als weitere Etappe in den seit dem Mord an Djindjić erfolgenden Veränderungen des politischen Establishments.

Im Oktober 2000 existierte eine klare Polarisierung zwischen dem Milošević-Regime und der so genannten „Demokratischen Opposition Serbiens“ (DOS), personifiziert in Zoran Djindjić und Vojislav Koštunica. Allerdings bestand der Konsens der demokratischen Kräfte allein im Sturz Miloševićs. Die Ziele und Inhalte seiner politischen Praktiken waren keineswegs ebenso umstritten. Konsensfähig war nur die Feststellung, die Herrschaft Miloševićs sei ein letzter Hort des Kommunismus in Europa. Die Politik der Schaffung ethnisch reiner Territorien war aus der Perspektive der Partei Vojislav Koštunicas nur deshalb problematisch, weil sie erfolglos geblieben war. Die DSS teilte bestimmte ethnonationalistische Vorstellungen aus dem gemeinsamen Haushalt mit der SPS, doch war zu diesem Zeitpunkt jede Art von Zusammenarbeit mit den „snage prošlosti“, den „Kräften der Vergangenheit“, kaum jemandem zu vermitteln: in einer Situation, in der in einem ersten euphorischen Schub die herrschenden Parteien der neunziger Jahre SPS und SRS nahezu in die Bedeutungslosigkeit gedrängt wurden. Es bestand schlicht keine Notwendigkeit, mit den vollständig delegitimierten SPS und SRS praktisch-politische Allianzen zu schmieden. Die DS von Zoran Djindjić schloss sich einer solchen Interpretation nicht explizit an, unternahm aber auch nichts, um eine Auseinandersetzung mit der Milošević-Herrschaft und den im Krieg begangenen Verbrechen zu befördern. Als Minimalkonsens blieb die Demokratisierung oder, wie es regelmäßig in den Publikationen der Parteien hieß, die „Modernisierung“ Serbiens. Doch nicht einmal ganze drei Jahre nach dem Ende des Milošević-Regimes wurde Zoran Djindjić ermordet (12. März 2003). Dies bedeutete auch das definitive Ende des dürren Konsenses einer Frontstellung gegenüber den „Kräften der Vergangenheit“, obgleich die Beerdigung Djindjićs zu einer eindrucksvollen Demonstration der Bürgerinnen und Bürger gegen diese wurde. Die Neuwahlen 2004 nach dem Mord an Zoran Djindjić bedeuteten dennoch ein Ende dieser klar umrissenen Konfrontationsstellung. Koštunica – zu keiner Kooperation mit der DS bereit – ließ sich von der SPS tolerieren. Seit diesem Datum bahnten sich auf kommunaler Ebene sogar Bündnisse mit der SRS an. Dieses Datum markierte den offenen Bruch mit all jenen Zielen, für die der Oktober 2000 gestanden hatte.

Im liberalen Teil der serbischen publizistischen Öffentlichkeit sowie einem Teil des zivilgesellschaftlichen Spektrums existierte die Erwartung, nach dem Sturz Miloševićs würde sich eine neue Parteienlandschaft mit der DS und DSS als jeweils liberalem und konservativem Pol in einem politischen Spektrum entwickeln, das insgesamt pro-europäisch ausgerichtet wäre und eine Annäherung an die EU betreiben würde. Vier Jahre später wurde das definitive Ende dieser Hoffnungen offenbar. Einerseits zeigte sich zwar in der Praxis, dass die DS mit Zoran Djindjić aktiv die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher betrieb, jedoch in der Entwicklung eines neuen politischen Referenzrahmens jenseits nationaler Sinnstiftung passiv blieb. Auch die DS setzte auf die „Kräfte der Vergangenheit“, indem sie die Serbische Orthodoxe Kirche hofierte. Andererseits versuchte die DSS mit Koštunica jeden Anschein eines Bruches, den der Oktober 2000 hätte bedeuten können, zu vermeiden, und bemühte sich um Wahrung von Kontinuität: sowohl was die Ablehnung einer Infragestellung des serbischen Nationalismus betraf, als auch in personeller Hinsicht, wo sie insbesondere in Polizei und Armee die alten Strukturen stützte.

Politik und Zivilgesellschaft

Die Tolerierung der Regierung von G17 Plus und DSS durch die SPS von 2004 bis 2007 veranschaulichte diese Ausrichtung. Damit wurde die Vorstellung des Bruchs mit der Politik der neunziger Jahre kurz nach dem Mord an Zoran Djindjić aufgeweicht. Vor allem die Radikale Partei profitierte davon, indem sie sich zur stärksten Kraft im Parlament entwickeln konnte, da eine Ausgrenzung des Nationalismus der neunziger Jahre nicht gelang.

Ein Blick auf die Wechselbeziehungen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und politischen Entwicklungen zeigt, dass gerade in dieser Phase eine Synchronität endete, die zuvor das wesentliche Merkmal der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Ansätze war. Die ersten NROs entstanden im Zuge der Eskalation der gewaltsamen Konflikte in Jugoslawien im Verlauf des Jahres 1991. An prominenter Stelle stand das Antikriegszentrum in Belgrad (Centar za antiratne akcije), das die Aktivitäten unterschiedlichster Gruppen bündelte. Rechtliche Grundlage hierfür war das noch 1990 auf jugoslawischer Bundesebene verabschiedete Gesetz zur „Gründung von Vereinigungen von Bürgern“, das bis heute unverändert in Kraft ist. Mit dem Aufkommen der Proteste gegen den Krieg in Kroatien und Bosnien-Herzegowina entstanden weitere bis heute wichtige NROs, etwa der Humanitarian Law Fund, der sich insbesondere mit der Recherche und rechtlichen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen befasst, oder die Helsinki Citizens Assembly, die vor allem durch publizistische Tätigkeit präsent ist.

Ein zweiter Schub zur Gründung von NROs erfolgte während der Proteste gegen das Milošević-Regime im Winter 1996/97, als sich tagtäglich Bürger auf den Straßen versammelten, um gegen die gefälschten Ergebnisse der Kommunalwahlen zu demonstrieren. Dieses Mal reichte der Impuls zur Entstehung von NROs über Belgrad hinaus und führte zur Etablierung solcher Strukturen auch im Landesinneren.

Eine dritte Phase vollzog sich nach dem Kosovokrieg und der Kampagne für den Rücktritt Miloševićs im Jahre 2000. Diese wurde vor allem durch die Entstehung der Organisation „Otpor“ (Widerstand) gekennzeichnet. „Otpor“, der vor allem junge Menschen mobilisierte, stellte zu einem großen Teil einen Zusammenschluss der bisherigen NROs dar und basierte auf den Netzwerken, die drei Jahre zuvor durch die Demonstrationen von Bürgern und Studenten entstanden waren. Gemeinsames Merkmal aller drei Phasen war eine deutliche Politisierung der NROs, die in diesem Umfeld entstanden waren. Charakteristisch für viele dieser Gruppen war die Ausrichtung gegen Nationalismus, Krieg, ethnische Intoleranz, undemokratische, autoritäre Herrschaftsformen und für die Etablierung zivilgesellschaftlicher Strukturen.

Die meisten Gruppen waren auf Distanz zu den etablierten Parteien bedacht, vor allem da sich diese meist kaum von ethno-nationalistischen Politikmustern zu lösen vermochten. Eine Ausnahme bildete der „Bürgerbund Serbien“ (Gradjanski Savez Srbije). Diese Partei wies in ihrer Programmatik enge Berührungspunkte zu den Zielen der NROs auf.3 Dennoch handelte es sich um eine enge Wechselbeziehung zwischen politischen Auseinandersetzungen und der Entwicklung von NROs. Das Selbstverständnis dieser Gruppen bestimmte sich in Reaktion auf die Praktiken des politischen Establishments. In den neunziger Jahren entwickelte sich zudem mit dem Radio- (und mittlerweile landesweiten TV-)Sender B92 und der Wochenzeitschrift „Vreme“ außerdem eine Medienlandschaft, die zu einem bedeutenden Forum der serbischen Zivilgesellschaft wurde.

Diese enge Wechselbeziehung zwischen allgemein-politischen Prozessen kam nach dem Sturz Slobodan Miloševićs zu einem Ende. Bis dahin waren Ansätze von Zivilgesellschaft auf der Grundlage allgemeiner gesellschaftlicher Protestbewegungen entstanden, die gleichsam in konzentrischen Kreisen von der Hauptstadt aus auch die Provinz erreichten. Auf der Grundlage solcher Dynamik konnten sich NROs längerfristig etablieren.4 Wurde weiter oben die Zäsur innerhalb des Anti-Milošević-Bündnisses für das Jahr 2004 angesetzt, erfolgte der Bruch innerhalb der NRO-Szene schon zwei Jahre früher. Dabei handelte es sich um einen anderen Konsens, der zu diesem Zeitpunkt seine Gültigkeit verlor.

In den neunziger Jahren hatte sich die NRO-Szene in Serbien vor allem in Reaktion auf Krieg, ethnische Säuberung und den herrschenden Populismus formiert. Die unterschiedlichen Ausrichtungen und Differenzen in der Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung Serbiens waren durch den staatlichen Druck, unter den diese zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit geriet, ausgesprochen zweitrangig. Mit der Demokratisierung und Öffnung Serbiens nach 2000 – die allerdings eine halbherzige blieb, da wesentliche Faktoren des Herrschaftsgefüges der neunziger Jahre nicht angetastet wurden –, wich die Notwendigkeit permanenter Solidarisierung einer neuartigen Polarisierung innerhalb der Zivilgesellschaft. Ausgelöst wurde diese durch einen Text von Sonja Biserko, der Vorsitzenden der Helsinki Citizens Assembly, in dem sie die „Deethnisierung der serbischen Verbrechen in Bosnien“ in der serbischen Öffentlichkeit kritisierte. Mit dem etwas ungelenken Begriff der „Deethnisierung“ kritisierte Biserko die sich zunehmend in Teilen der NROs durchsetzende Position, dass es keine kollektive Verantwortung der Serben für Krieg und Verbrechen geben könne, vielmehr müsse es jeweils um individuelle Verantwortung gehen, die in Gerichtsverfahren festzustellen sei. Der Text löste zwischen August und November 2002 eine intensive polemische Kontroverse in der Wochenzeitung „Vreme“ aus, in der fast alle prominenteren Vertreter der NROs zu Wort kamen.

In den zum Teil sehr persönlich verfassten Texten manifestierte sich ein Bruch innerhalb der NROs, der nicht mehr zu kitten war. Dabei spielte nicht allein die Frage kollektiver Schuld bzw. Verantwortung eine Rolle. Als ein wesentliches Moment für den heftigen Ton der Diskussion wurde von dem unlängst verstorbenen Publizisten Stojan Cerović, Mitbegründer des Antikriegszentrums und Kolumnist von „Vreme“, die unterschiedliche Einschätzung des Krieges der NATO gegen Serbien benannt. Die unterschiedliche Erfahrung, das Erleben der Intervention lag der emotional aufgeheizten Diskussion unausgesprochen zu Grunde. Thematisch spiegelten sich diese Erfahrungen in der diametral entgegengesetzten Beurteilung der Berichterstattung der Gerichtsverfahren in Den Haag sowie in der Frage des Verhältnisses gegenüber der neuen Regierung von Zoran Djindjić und Vojislav Koštunica. Vor allem die Frage des Verhältnisses zur „offiziellen Politik“ wurde in den nächsten Jahren handlungsleitend. Der eine Teil, repräsentiert von Sonja Biserko, Nataša Kandić u. a., beharrte auf einer grundlegenden Distanz zum politischen Establishment und sah die Hauptaufgabe der NROs darin, eine breite Aufarbeitung von Krieg und Verbrechen in Serbien zu initiieren. Dagegen argumentierte Stojan Cerović, die Festigung demokratischer Strukturen und die Stabilisierung der serbischen Gesellschaft habe als Voraussetzung für eine erfolgreiche Aufarbeitung der Vergangenheit Priorität. Der Mord an Zoran Djindjić beendete diese Polarisierung nicht. Vielmehr prägt diese bis heute die NRO-Szenerie in Serbien. Jedoch drückte sich diese Konfrontation nicht in einer parteipolitischen Polarisierung aus, da sich der Unterstützerkreis der LDP nicht mit den hier skizzierten beiden entgegensetzten Strömungen deckt.

Die jüngsten Wahlergebnisse und damit einhergehend die Möglichkeit, dass Serbien das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) mit der EU unterzeichnen könnte und es damit zum ersten Mal überhaupt größere Direktinvestitionen der westeuropäischen Staaten in Serbien gäbe, die sich mittlerweile anbahnen, deuten noch auf einen anderen Faktor für diesen Riss in der serbischen Zivilgesellschaft hin. Neben der Kontinuität eines ethnonationalen Politikverständnisses bis in die Gegenwart hinein gab es auch nach 2000 keine Erfahrung einer spürbaren Veränderung der materiellen Situation. Nach Krieg und Sanktionen deuteten sich – jenseits des Politischen – kaum Perspektiven für die Bürger Serbiens an, die vermitteln konnten, dass Demokratisierung auch eine greifbare Verbesserung der Lebensverhältnisse bedeuten könnte. Eine solche Erfahrung blieb nur auf einen relativ kleinen Kreis einer sich regenerierenden Mittelschicht beschränkt. Kontinuität im Politischen und wirtschaftliche Stagnation waren bisher kennzeichnend. Nun allerdings bahnt sich die Möglichkeit an, demokratische Orientierung und die Erfahrung neuer Lebensverhältnisse zueinander in eine neue Beziehung zu setzen. Das vermittelte sich zumindest in der landesweiten Euphorie, die auf die Ankündigung von Fiat folgte, eine Produktionsanlage in Kragujevac zu bauen. Das beinhaltet auch für die NROs die Erweiterung ihrer Themen- und Tätigkeitsfelder, da bisher die Dimension des Sozialen nahezu ausgeblendet blieb. Vor diesem Hintergrund hat es den Anschein, dass nicht Krisen stimulierend für die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten sind und Bürger mobilisieren können, vielmehr die Ahnung einer Möglichkeit von Prosperität Motivation und neue Energie freisetzen könnte.

Die Grenzen der nationalistischen Rhetorik und die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Praxis

Gerade die politische Entwicklung der letzten Monate verdeutlicht, dass eine schon lange porös gewordene Rhetorik vom Bruch mit den „neunziger Jahren“ einer anderen Polarisierung Platz gemacht hat. Lange nicht mehr war die Öffentlichkeit derart politisiert und gespalten wie im ersten Halbjahr dieses Jahres. Bei den Präsidentschaftswahlen versuchten die beiden Kontrahenten Boris Tadić (DS) und Tomislav Nikolić (SRS) einerseits mit einer stärkeren Ausrichtung auf die EU Stimmen zu gewinnen, andererseits mit dem schon in die Jahre gekommenen Klassiker „Kosovo“ Wähler zu mobilisieren. Es ist bemerkenswert, dass trotz der schlechten Ausgangssituation für Tadić (soziale Unzufriedenheit, Enttäuschung der Wähler durch die nachgiebige Politik Tadićs gegenüber den Nationalisten) der Evergreen der achtziger und neunziger Jahre „Ne damo Kosovo! – Wir geben das Kosovo nicht her!“ keine entscheidende Mobilisierungskraft zeigte. Dies wurde im Vorfeld von Parlamentswahlen und Grand Prix de l’Eurovision nur noch deutlicher, als das Kosovo in einer einzigen verschämten Verszeile (als „Vidovdan“, Veitstag) auftauchte, nicht aber, wie erwartet wurde, alles andere nebensächlich und bedeutungslos erscheinen ließ.

Angesichts der Entwicklung der letzten sechs Monate wird deutlich, dass ein Bruch – institutionell, personell und ideologisch – mit den neunziger Jahren nicht gelungen ist. Zugleich jedoch sind die Nationalisten mit ihren antiwestlichen Parolen an die Grenzen ihrer Mobilisierungsfähigkeit gestoßen, was selbst der intellektuelle Stichwortgeber des bisherigen Premiers Koštunica, der Soziologe Slobodan Antonić, einräumt. Die Wahlen wurden gerade durch die Ankündigung der DSS und SRS verloren, aufgrund der Abtrennung des Kosovo die ohnehin mühselige Annäherung an die EU zu stoppen. Angesichts der offiziellen Loslösung des Kosovo hätte eine klare Schwächung der EU-orientierten politischen Akteure erwartet werden können – das Gegenteil war der Fall. Mit der Überwindung der gesellschaftlichen Stagnation verlor das Kosovo-Problem als Instrument populistischer Politik – als solches wurde es seit Mitte der achtziger Jahre eingesetzt – an Wirkung. Zum einen war Serbien bisher noch immer vom Zerfall Jugoslawiens und den damit verbundenen Kriegen geprägt; zum anderen verwies die politische Rhetorik nahezu aller Parteien – mit der Ausnahme eines Teils der DS und der LDP – auf „Kosovo“ als Folie für politische und gesellschaftliche Konflikte in Serbien.

Das Programm gesellschaftlicher Veränderung nach 2000 beinhaltete bisher nur in Ansätzen eine Einlösung des Versprechens materieller Verbesserungen. Offensichtlich reicht die Ankündigung eines neuen Fertigungsstandortes von Fiat in Kragujevac, um die Folie „Kosovo“ in den Hintergrund treten zu lassen. Fiat – oder besser „Fića“ – steht im gesamten ehemaligen Jugoslawien für den bescheidenen Wohlstand der sechziger und siebziger Jahre. Mitte der fünfziger Jahre übernahm die Automobilfabrik Zastava in Lizenz den Kleinwagen Fiat 600D, den das Werk dann als „Zastava 750“ produzierte. Gleich dem „Käfer“ ist der Fića das Symbol gesellschaftlichen Aufstiegs Ende der sechziger Jahre, denn er stellte für die meisten jugoslawischen Bürger das erste erschwingliche Automobil dar. Darin verschränken sich „Jugonostalgija“ und die Hoffnung auf anderes Leben in der Gegenwart. Bei aller Macht der Beharrungskräfte scheint mit der Erinnerung – nicht an das Amselfeld, sondern an den Fića – Bewegung in die serbische Gesellschaft zu kommen.

Damit ergeben sich für die NROs in Serbien neue Tätigkeitsfelder, z. B. im Sozial- und im Bildungsbereich. In der Nachfolge der in den allgemeingesellschaftlichen Konflikten der neunziger Jahre entstandenen Gruppen und deren Erfahrungen besteht damit für Serbien die Chance, eine neue Grundlage für die Erfahrung von selbstbestimmter Individualität zu entwickeln.


Fußnoten:


  1. Die wichtigsten Parteien Serbiens werden nachstehend kurz vorgestellt: Demokratische Partei (DS, sozialdemokratisch), Serbische Radikale Partei (SRS, ultranationalistisch), Demokratische Partei Serbiens (DSS, konservativ), Sozialistische Partei Serbiens (SPS, postkommunistisch und nationalistisch); außerdem G17 Plus (liberal), Serbische Erneuerungsbewegung (SPO, monarchistisch), Parteien der nationalen Minderheiten usw. (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  2. http://www.crisisgroup.org/home/index.cfm?id=5402&l=1 (Link nicht mehr aktiv; letzter Zugriff: 28.10.2008). ↩︎

  3. Vgl. besonders die Zeitschrift Republika, die ein wichtiges Forum der serbischen Zivilgesellschaft darstellt: http://www.republika.co.yu/ (Link nicht mehr aktiv; letzter Zugriff: 28.10.2008). ↩︎

  4. Darüber hinaus war vor allem die Unterstützung der NROs durch Stiftungen und Initiativen aus dem Ausland von Bedeutung. Dabei spielten die Stiftungen für eine offene Gesellschaft, die George Soros in allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens gründete, eine besondere Bedeutung; vgl. auch http://www.fosserbia.org/ (letzter Zugriff:28.10.2013). ↩︎