Ostjüdische Vielfalt in einer multikulturellen Umgebung

Versuch einer Annäherung
aus OWEP 3/2008  •  von Monica Rüthers

Monica Rüthers ist Osteuropahistorikerin an der Universität Basel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind jüdische, sowjetische und postsowjetische Geschichte, Metropolenforschung und visuelle Kultur.

Im jüdischen Verständnis spannt sich die eigene Geschichte zwischen zwei grundverschiedenen Zugängen: In heilsgeschichtlicher Perspektive bewegen sich die Juden zwischen der Zerstörung des Tempels um das Jahr 70 unserer Zeitrechnung, nach der sie vertrieben wurden, und der erwarteten Ankunft des Messias, der das jüdische Volk wieder ins gelobte Land führen wird. Die Diaspora gilt als Phase dazwischen, als Zeit der Erwartung und Vorbereitung. Mit der jüdischen Aufklärung entstand um 1800 auch ein weltliches Geschichtsverständnis, das die jüdische Geschichte als Teil der allgemeinen Geschichte begriff und den Grund für eine moderne jüdische Nationalgeschichte legte. Die Aufklärungsbewegung entstand in Deutschland und fand im frühen 19. Jahrhundert auch Anhänger in Osteuropa.

Als die deutschen Juden die „Ostjuden“ „wiederentdeckten“, sahen sie nur die armen und traditionell religiös lebenden Schichten: nach 1880 die russisch-jüdischen Emigranten im Berliner Scheunenviertel und im Ersten Weltkrieg die jüdische Bevölkerung an östlichen Kriegsschauplätzen. Die „Ostjuden“ im „Kaftan“ erschienen den um Assimilation bemühten „Westjuden“ einerseits als Bedrohung für den eigenen, emanzipierten Status, andererseits aber als verlockend unbeschadet in ihrer jüdischen Identität. Während Forschung und Publizistik je nach Perspektive die „Rückständigkeit“, „Traditionsverbundenheit“ oder „mystische Frömmigkeit“ der osteuropäischen Juden betonten, gab es in Osteuropa schon längst eine wachsende Schicht von Kaufleuten, Unternehmern und Intellektuellen, die weit herum kamen, Fremdsprachen beherrschten und sich als jüdische Europäer verstanden, was sie auch in Kleidung und Lebensstil ausdrückten.

Juden im östlichen Europa

Die ersten Juden wanderten zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert aus dem Rheinland in den ostmitteleuropäischen Raum ein, meist als Folge von Verfolgungen und Vertreibungen. Polen-Litauen war im 14. und 15. Jahrhundert ein aufsteigendes Weltreich, wo es allerdings nur Adel und Bauern gab, ein Handel und Wirtschaft treibendes Element fehlte. Polnische Könige luden die Juden ein, sich als Händler im Königreich niederzulassen, und statteten sie mit den entsprechenden Privilegien aus. Neben den Juden kamen auch Deutsche, Italiener, Schotten und Armenier, die sich aber rasch assimilierten – im Gegensatz zu den Juden, die im Alltag weiterhin ihren mittelhochdeutsch-jüdischen Dialekt sprachen und ihre Traditionen pflegten.

Die jüdischen Gemeinden hatten autonomen Status. Die Gemeinde, die Kehilla, wurde von einem Rat angesehener Männer geleitet, dem Kahal. Dieser stellte den Rabbiner ein, sorgte für den Betrieb des Ritualbades und vertrat die Gemeinde nach außen. In den Gemeinden gab es in der Regel eine Begräbnisbruderschaft sowie Vereine für Wohltätigkeit, Kranken- und Armenpflege. Jede Gemeinde unterhielt ein Lehrhaus und finanzierte das religiöse Studium einiger talentierter junger Männer.

Die günstigen Rahmenbedingungen führten im 16. Jahrhundert zu einer Blüte jüdischer Wissenschaft und Kultur unter der Krone Polen. Wirtschaftlich hatten die Juden eine Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land, Adel und Bauern. Sie handelten mit Rohstoffen wie Honig, Wachs, Leinen, Fellen und Holz oder arbeiteten als Verwalter der Adelsgüter. Als Händler und Hausierer sicherten sie den Austausch von Gütern zwischen Stadt und Dorf. Die Zwischenposition war allerdings nicht ungefährlich, vor allem in Konfliktsituationen. Zur Katastrophe kam es im 17. Jahrhundert in der von Polen beherrschten Ukraine, als sich die Kosaken unter dem Hetman Bogdan Chmelnickij erhoben. Sie trafen auf den polnischen Gütern nicht die polnischen Adligen an, gegen die sich ihr Zorn richtete, sondern nur deren Gutsverwalter und Statthalter, die Juden. Die Schätzungen belaufen sich auf 200.000 Todesopfer. Diese Ereignisse waren ein Schock, der sich langfristig auf die Mentalität und die geistig-religiöse Entwicklung der jüdischen Gemeinden Osteuropas auswirken sollte.

Von Dauer war eine mystisch-religiöse Bewegung, die in dieser Zeit ihren Anfang nahm, bis heute stark geblieben ist und das Klischeebild des „Ostjuden“ prägt: der Chassidismus. Begründet wurde der Chassidismus von Israel Baal Schem Tov, dem „Meister des guten Namens“, einem Wunderheiler und Prediger, der 1700-1760 in Podolien, einer in der heutigen Westukraine gelegenen Provinz, lebte. Er verbreitete die mystischen Geheimlehren der Kabbala und eine emotionale Beziehung zu Gott, bei der Inbrunst, Frömmigkeit und Ekstase im Zentrum standen. Hier formulierte sich ein Gegensatz zur rationale Aspekte betonenden talmudischen Tradition der strengen Gesetzesauslegung, die ihr Zentrum im litauischen Wilna hatte. In Wilna lehrte im 18. Jahrhundert der berühmte Talmudist Elijah Ben Salomon Salman von Wilna (1720-1797). Sozialer Status war im Judentum immer mit religiöser Gelehrsamkeit verbunden gewesen, doch der Chassidismus sprach nun mit dem Postulat der echten Frömmigkeit der reinen Gelehrsamkeit den Machtanspruch ab. Es kam zu heftigen Konflikten in den Gemeinden, sogar zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden religiösen Strömungen, bis hin zu gegenseitigen Denunziationen bei der nichtjüdischen Obrigkeit.

Die rechtliche Stellung der Juden in Russland, Kongresspolen und dem Habsburgerreich nach den Teilungen Polens

Nach einer Periode der Schwäche des Königreichs Polen-Litauen teilten Preußen, Österreich und Russland dessen Gebiete im späten 18. Jahrhundert unter sich auf, wobei der Löwenanteil der litauischen, weißrussischen und ukrainischen Provinzen an Russland fiel. Damit lebte erstmals eine große Zahl jüdischer Untertanen unter russischer Herrschaft. Katharina die Große traf alle Maßnahmen zur Integration der Juden in die von ihr angestrebte Ständegesellschaft im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus. Sie wurden 1783 und 1785 dem neu konstituierten Stand des „Bürgertums“ zugeordnet und konnten an der städtischen Selbstverwaltung mitwirken. Für die Juden brachte der Integrationsversuch allerdings eher Nachteile; der Verlust des dauerhaften Wohnrechtes auf dem Land überwog die Vorteile der rechtlichen Gleichstellung. Die Zwangsumsiedlung raubte vielen die Existenzgrundlage. Sie durften sich nicht außerhalb ihrer bisherigen, durch die Teilungen erworbenen Siedlungsgebiete im russischen Reich niederlassen. Zweck dieser Maßnahme war der Schutz der Moskauer Kaufleute vor der jüdischen Konkurrenz.

Ziel der zaristischen Regierung war die Assimilation der jüdischen Bevölkerung durch Verbote und Anreize. Die Statuten von 1804 und 1835, die den Status der Juden regeln sollten, förderten den Besuch öffentlicher Schulen, erlaubten den Juden jegliches Handwerk und Handel, verboten aber die Schankpacht. Der Ansiedlungsrayon blieb bestehen, die Gleichberechtigung wurde an die Bedingung der Assimilation geknüpft: Jüdische Akademiker, Großkaufleute und ausgebildete Handwerker erhielten 1859 ein reichsweites Siedlungsrecht, worauf jüdische Gemeinden in Moskau und St. Petersburg entstanden. Die ständische Integration scheiterte aber. Die große Mehrheit der Juden schickte ihre Kinder weiterhin in die religiösen Schulen. Der Kahal bestand im Grunde auch nach seiner Abschaffung 1844 weiter. Seine Funktionen übernahmen die weiterhin bestehenden Begräbnisbruderschaften. Diese wurden 1882 ebenfalls verboten, existierten aber heimlich fort.

Beim Wiener Kongress 1815 wurde das so genannte „Kongresspolen“ als halbautonomes Königreich Polen der russischen Regierung zur Verwaltung unterstellt. Die polnisch-russische Judenpolitik wollte die Juden aus ihrer wirtschaftlich-sozialen Sonderstellung und kulturellen Abgeschiedenheit herausholen und zu „nützlichen“ Bürgern erziehen. Der Kahal, Symbol jüdischer Autonomie, wurde 1822 abgeschafft. Informell übernahmen auch hier die Begräbnisbruderschaften wichtige Funktionen der Gemeindeverwaltung. Die rechtliche Gleichstellung der Juden erfolgte im Jahre 1862. Polen hatte damit unter russischer Herrschaft eine weit fortschrittlichere Judengesetzgebung als Russland selbst. Der Hauptgrund dafür lag in der Befürchtung, die Juden könnten sich mit den Polen gegen die russische Obrigkeit verbünden. Im Gegensatz zu Galizien und der Bukowina, aber auch im Gegensatz zu Litauen und Weißrussland, war Kongresspolen ethnisch nicht gemischt, sondern verstand sich immer als nationale Einheit, wenn auch seit den Teilungen unter russischer Fremdherrschaft.

Die Region Galizien befand sich seit 1772 unter österreichischer Oberhoheit. 1772 bildeten die Juden 9,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, die in Westgalizien mehrheitlich aus Polen und in Ostgalizien aus Ruthenen (Ukrainern) bestand. Allerdings sank der jüdische Anteil durch Abwanderung nach Wien oder weiter nach Westen. Das Toleranzpatent Josephs II. von 1782 hob Kopfsteuer und Ghettos für Juden auf und gestand ihnen Gewerbefreiheit zu, war aber an Bedingungen geknüpft. Bis 1848 verfolgte die österreichische Judenpolitik drei Hauptziele: Verminderung der Anzahl jüdischer Untertanen durch Taufe, Germanisierung und Assimilation, „Produktivierung“ der Juden durch Verbot „unproduktiver“ Berufszweige wie Pacht und Handel sowie weitere Maßnahmen, die der Angleichung an andere Bevölkerungsgruppen dienen sollten.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verarmten breite jüdische Schichten in Polen, Russland und Galizien infolge der schwierigen rechtlichen Stellung, Vertreibung aus den Dörfern und der Industrialisierung, die den Verdrängungswettbewerb in den Städten verstärkte. Nur wenige konnten von der fortschreitenden Industrialisierung profitieren und als Unternehmer oder Fabrikanten, Bankiers, im Eisenbahn- und Telegrafenbau, als Besitzer von Brauereien, Ziegeleien oder Zuckerfabriken zu Reichtum gelangen.

Mythos Schtetl: Topographie im 18. und 19. Jahrhundert

Das Schtetl ist der geradezu mystifizierte Erinnerungsort des osteuropäischen Judentums. Jedes Schtetl war anders, hatte seine eigenen Spezialitäten, Kuriositäten, Typen, Klatschtanten und Tyrannen. In der Vielzahl ihrer Stereotypen sind sie sich als diffuse „versunkene Welt“ doch wieder untereinander ähnlich. Trotz dieses Vorbehaltes kann man sich viele polnische Kleinstädte im 19. Jahrhundert, eigentlich bis 1939 folgendermaßen vorstellen:

Im Zentrum befand sich der Marktplatz, ein manchmal abschüssiger, ungepflasterter Platz, auf dem ein- oder mehrmals wöchentlich Markt gehalten wurde. Wo sonst Ziegen und Gänse weideten und Kinder spielten, hielten dann Bauern und Händler ihre Waren feil. Um den Marktplatz herum standen ein- bis zweigeschossige Bauten aus Stein, Häuser wohlhabender Bürger, die Kirche und das Rathaus. Die übrigen Häuser und oft auch Kirchen und Synagogen waren aus Holz. Im Schtetl brannte es häufig, denn Feuerwehren gab es erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Manchmal waren die Gehwege mit Holzplanken belegt, aber in den meisten Orten gab es keinen solchen Luxus, und die ungepflasterten Plätze, Straßen und Wege wurden bei Regen zu Schlammgruben.

Die Bewohner des Schtetls waren überwiegend jüdisch. Sie waren Händler, Bäcker, Lehrer, Wasserträger, Schuster, Schneider. An der Peripherie des Städtchens lebten je nach Gegend polnische, ukrainische oder litauische Familien mit halbbäuerlichem Lebensunterhalt. Wenn Markt war, kamen die Bauern mit ihren Produkten. Die jüdischen „Dorfgeher“, die unterwegs gewesen waren, um städtische Handwerkserzeugnisse auf den Dörfern zu verkaufen, kamen mit den bäuerlichen Produkten zurück und brachten sie auf den Markt. An jüdischen Feiertagen kamen die „Jischuvniks“ ins Schtetl, die Juden, die auf den Dörfern verstreut als Schankpächter, Mühlenpächter oder Pächter von Fischweihern und Obstgärten lebten. Sie konnten sich wegen der Entfernung den Synagogenbesuch nur ab und zu leisten, ihre Kinder wuchsen wie Bauernkinder auf, ohne eine jüdische Schule zu besuchen. Die Schtetlbewohner blickten auf sie herab, „Jischuvnik“ war ein Schimpfwort.

Pfeiler jüdischen Lebens

Wie sah das kulturelle Überdauern des Judentums in der Diaspora im Alltag aus? Die Pfeiler jüdischen Lebens waren Religion, Familie und die soziale Organisation. Religion und Alltag waren im jüdischen Leben eng verwoben. Die jüdischen Feste fanden in der Familie statt, die Frau bereitete die besonderen Speisen, der Mann leitete die Zeremonie. Die Feste bezogen sich als zyklische, ritualisierte Erinnerung auf das Dasein zwischen Tempelzerstörung und Ankunft des Messias. Die Heilige Schrift war die Säule, an der sich das jüdische Leben entlang rankte. Neben der Heiligkeit der Schrift, des Wortes Gottes, das streng und exakt in Abschriften überliefert wurde, standen immer die Kommentare und Auslegungen dieser Schrift. Die Schriftgelehrten genossen in der jüdischen Gemeinde höchstes Ansehen. Die Autorität der einzelnen Gelehrten brachte eine hohe Flexibilität mit sich, weil die Rechtsprechung und Auslegung der Gebote nicht wie in der katholischen Kirche zentral fixiert wurde, sondern von angesehenen Rabbinern den lokalen oder zeitbedingten Gegebenheiten angepasst werden konnte.

Das Talmudstudium war Mittel zum sozialen Aufstieg, eine Karriere als Talmudgelehrter das Ziel jedes männlichen Lebens. Jeder kleine Junge lernte, die Heilige Schrift zu lesen. Ziel der Eltern war, nicht zuletzt des sozialen Prestiges wegen, ein möglichst intensives Studium der Söhne. Handwerkliche Berufe waren weniger angesehen als solche, bei denen man „Köpfchen“ brauchte, z. B. der Handel. Ganz unten auf der sozialen Skala der Berufe standen Schuster und Schneider – solche Berufe in der Familie schadeten dem Prestige und schränkten die Auswahl möglicher Ehepartner ein. Die Eheschließung wirkte sich auf den Status der beiden beteiligten Familien aus. Ein guter Lerner war auf dem Heiratsmarkt begehrt. Hier traf sich die Heiratspolitik mit dem kulturellen Fortbestand. Die Ehen wurden von den Eltern mit Hilfe der Institution des Heiratsvermittlers arrangiert. Ein wohlhabender Vater suchte für seine Tochter einen gelehrten Mann, dessen weiteres Studium er dann finanzierte. Die Ehen wurden früh geschlossen, und zur Mitgift gehörte die Unterbringung des jungen Paares im Haus der Brauteltern während drei bis fünf Jahren. Dann war die Gründung eines eigenen Haushaltes vorgesehen. Arme Leute hofften auf kluge Söhne, während Töchter, die eine Mitgift erforderten, große Sorge bereiteten. Die Heirat der Gelehrten mit den Reichen war ein wichtiger Faktor im jüdischen Gemeindeleben. Diese Gruppe bildete die Elite.

Diese Heiratspolitik herrschte im Schtetl bis ins 19. Jahrhundert hinein vor. Die bäuerliche Bevölkerung derselben Gegenden hingegen heiratete, wie es auch in Westeuropa üblich war (Eheerlaubnis erst für Meister, Anerbenrecht), mit Mitte oder Ende zwanzig. Im 18. und 19. Jahrhundert wuchs die jüdische Bevölkerung stark an, sodass viele Menschen keine Lebensgrundlage mehr hatten und eine Massenauswanderung einsetzte, die seit den 1880er Jahren Millionen in die USA, nach Südamerika und Südafrika brachte.

Arme Leute waren weniger dazu verpflichtet, die religiösen Gebote zu befolgen, als die Reichen. Die „Frauen und die einfachen Leute“ bildeten eine eigene Kategorie, auch was Kenntnisse und Pflichten anging. Die Frauen mussten nicht täglich in der Synagoge beten, vielmehr waren sie aufgrund ihrer häuslichen Pflichten davon enthoben. Ärmere Leute, Tagelöhner und Wasserträger etwa, konnten kaum lesen und schreiben. Insgesamt unterschied sich die jüdische Bevölkerung dennoch von der bäuerlichen Umgebung durch einen höheren Alphabetisierungsgrad.

Im jüdischen Alltag herrschte eine weitgehende Geschlechtertrennung. Straße und Markt gehörten beiden Geschlechtern, das Haus war der Frau zugeordnet, die Synagoge den Männern. Die Frauen hatten hier nur einen abgetrennten Raum, meistens eine Empore, für sich, die häufig noch durch einen Vorhang oder ein Gitter vom Männerraum abgetrennt war. Die kleinen Jungen kamen mit drei oder vier Jahren in den Cheder, die jüdische Religionsschule. Hier verbrachten sie etwa zehn Stunden täglich. Der Schuleintritt bedeutete den Übertritt von der Frauen- in die Männerwelt. Sie lernten eine Sprache, die die Mutter nicht verstand, und begleiteten den Vater in die Synagoge. Mit Mädchen durften sie nicht mehr spielen. Diese blieben zu Hause und halfen der Mutter im Haushalt. Unterricht erhielten sie bei der Frau des Lehrers oder beim Dorfschreiber.

Innerhalb dieses normativen und „idealen“ Rahmens entwickelte sich eine große innerjüdische Vielfalt, die mit regionalen Unterschieden wie auch schichtspezifischen Lebensweisen, religiösen Ausrichtungen und Stadt-Land-Unterschieden zusammenhing.

Aufklärung

Im 19. Jahrhundert wurde die traditionelle Ordnung durch die Verbreitung der jüdischen Aufklärung, der sogenannten Haskala, erschüttert. Diese hatte ihren Ursprung bei Moses Mendelssohn (1729-1786) in Berlin und kam über Kaufleute und Gelehrte in den Osten. Sie erlebte zwischen 1820 und 1880 ihre Hochblüte in Osteuropa. Die Haskala sprach der Religion ihre Hauptrolle ab und propagierte die kulturelle Integration in die Umgebung. Zwischen Aufklärern und Anhängern der Tradition brachen heftige Kontroversen aus. Dafür verringerte dieser Konflikt den Gegensatz zwischen den Chassidim und ihren talmudischen Gegnern. Die Chassidim integrierten sich und erhielten Positionen in den Gemeinden. Die Aufklärung, die die Religion als Machtlegitimation in der Gemeinde bedrohte, wurde zum gemeinsamen Feind.

Regionale Unterschiede

Zum geistigen Zentrum der Haskala in Osteuropa wurde das litauische Zentrum jüdischen Denkens, Wilna. Von hier gingen in der Folge auch andere innovative Impulse aus. Nicht Assimilation stand dabei im Vordergrund, sondern eine neue jüdische Kultur mit Hebräisch als Nationalsprache. Im Umkreis des Wilnaer Rabbinerseminars fanden sich die ersten jüdischen Anhänger der sozialistischen Idee, in Litauen entstand die jüdische Arbeiterbewegung, der „Bund“; auch die führenden ostjüdischen Zionisten stammten von hier. Dabei orientierten sich die Aufklärer zunächst an der deutschen, später an der russischen Literatur und Kultur. Litauen blieb weitgehend von Aufständen und Pogromen verschont, sodass den Juden hier größere Erschütterungen erspart blieben und sich die geistig-kulturelle Entwicklung stetig vollzog.

In Polen machten sich die neuen geistigen Strömungen innerhalb des Judentums später bemerkbar als in Litauen, obwohl es näher an Deutschland lag. Warschau wurde nie zu einem Zentrum der Aufklärung wie Wilna oder Lemberg. Die Mehrzahl der polnischen Juden gehörte städtischen Mittel- und Unterschichten an. Die Städte mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil lagen inmitten eines bäuerlichen Umlandes. Insgesamt war die Kluft zwischen der assimilierten Elite und den breiten nicht akkulturierten Schichten besonders groß.

In Galizien war der Chassidismus von einer religiösen Strömung zur Mehrheitsausrichtung weiter Bevölkerungsteile geworden. Das lag an der besonderen sozialen Konstellation im galizischen Judentum: In den Handelszentren wie Brody gab es eine kleine Schicht wohlhabender Kaufleute mit Bildungsmöglichkeiten und internationalen Kontakten, die zu Anhängern der jüdischen Aufklärung wurden; die große Masse der ärmeren und ganz armen Juden in den ländlichen Gebieten setzte jedoch ins Diesseits keine großen Hoffnungen mehr. Ihnen bot der Chassidismus einen Ausweg und die Möglichkeit, im gemeinsamen Gebet und Feiern wenigstens einen Vorgeschmack jenseitiger Freuden zu gewinnen. In kleineren Städten mussten sich die Rabbiner mit dem Einfluss der örtlichen Zaddikim, der charismatischen chassidischen Führer, abfinden.

Säkularisierung und Aufbruch

Die Frauen hatten zwar keinen Anteil an religiösen Debatten, waren aber im Alltag von deren Auswirkungen ebenso betroffen wie die Männer. Jüdische Mädchen wurden immer unzufriedener mit ihrem Ausschluss vom geistigen Leben und strebten im 19. Jahrhundert danach, das Gymnasium zu besuchen. Im Gegensatz zu ihren Brüdern mussten sie nicht den Talmud studieren. So lernten sie Sprachen und lasen begeistert die Bücher, die die Aufklärer mitbrachten, etwa die Werke Friedrich von Schillers und August von Kotzebues. Infolge des laufenden Akkulturationsprozesses stieg das Heiratsalter in mittleren und größeren Städten auf 18 bis 20 Jahre, sodass Zeit blieb für eine höhere Töchterbildung, Lektüre und Träume, aber auch für eigene Pläne und Rebellion.

Überall entstand eine wachsende Schicht von Juden, die sich assimilieren wollten und hofften, durch Anpassung auch Anerkennung zu erreichen. Vor allem in größeren Städten bildete sich eine bürgerliche jüdische Schicht, der auch Holzhändler und Unternehmer aus kleineren Orten angehörten. Sie orientierte sich an städtischen, bürgerlichen, westlichen Vorbildern. Im Sommer besuchten jüdische Familien die mondänen europäischen Badeorte und brachten von dort die letzte Mode mit. Auch die Männer begannen, sich westlich zu kleiden.

In den ärmeren Schichten war die Religiosität ebenfalls einer Erosion preisgegeben. Viele Juden verließen ihre Schtetl und zogen in die großen Städte, wo Modernisierung und Industrialisierung eine bessere Existenz versprachen. In den Elendsquartieren von Warschau, Lodz, Minsk oder Wilna legten sie die alten Bindungen des Glaubens langsam ab. Im sich schnell industrialisierenden Russischen Reich entstand ein neues jüdisches Proletariat. Hier fanden die neuen Bewegungen der Sozialisten, der „Arbeiter-Bund“ und die Zionisten ihre Anhänger.

1881 fiel Zar Alexander II. einem sozialrevolutionären Anschlag zum Opfer, an dem auch eine Jüdin beteiligt war. Die darauf folgenden wiederholten Pogrome – ein von der russischen Regierung gefördertes Ventil für die nichtjüdische Bevölkerung – sind auch Auswirkung der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Für die meisten Juden bedeuteten diese Exzesse das Ende aller Integrationshoffnungen, denn bis dahin hatten aufklärerisch gesonnene Juden erwartet, sich in Russland ähnlich wie in den anderen europäischen Staaten integrieren zu können und die Bürgerrechte zu erhalten.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert¬ herrschten im Judentum Osteuropas aber nicht nur Schrecken und Enttäuschung, sondern auch Aufbruchsstimmung, ein Gefühl von Hoffnung und Wandel. Die traditionelle Lebensweise wurde als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Verschiedene Alternativen boten sich an, neben sozialistischen oder nationalen Bewegungen auch die Auswanderung nach Palästina oder Amerika. Zwischen 1880 und 1914 verließen rund zwei Millionen Juden den osteuropäischen Raum.

Vielfalt, Wandel und Anpassung als Wesensmerkmale

Als viele so genannte „Ostjuden“ um 1900 ihre Heimatregionen aus wirtschaftlicher Not und wegen gewalttätiger Verfolgungen verließen, erschienen sie ihren assimilierten Glaubensgenossen im westlichen Europa als homogene, beängstigende dunkle Masse. Auch sie selbst empfanden sich in der neuen Umgebung als zueinander gehörig. Ihre internen Differenzen schrumpften in der Konfrontation mit dem neuen Umfeld. Schon bald bildeten sich an den neuen Wohnorten „Landsmannschaften“, in denen sich die Juden eines Schtetls oder einer Region zusammenfanden und ihre Traditionen pflegten.

Der Lokalpatriotismus, der sich in den Landsmannschaften ausdrückte, bestand schon in Osteuropa. Das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen bezog sich auf die eigene Gemeinde, das eigene Schtetl. Dazu zählte für die Männer auch die spezielle religiöse Ausrichtung – die Gebetsbruderschaft, zu der man gehörte, oder die Gruppe von Anhängern eines bestimmten chassidischen Rabbis. Eine wichtige Rolle spielten für das Zugehörigkeitsgefühl auch der heimische Dialekt des Jiddischen, die regionale Variante der jüdischen Art, sich zu kleiden, Bart und Haare zu tragen, und die Kopfbedeckung. Frauen waren nicht in Gebetsgemeinschaften, sondern in Nachbarschaft und Familienzusammenhang eingebunden.

Das ostjüdische Siedlungsgebiet war multikulturell, vielsprachig und ethnisch gemischt. Die Ostjuden lebten inmitten von Völkern, die sich in Sprache, Religion und Kultur unterschieden und von denen viele begannen, um Unabhängigkeit und politischen Einfluss zu kämpfen. Dort, wo die Juden inmitten rivalisierender Nationalitäten lebten, gerieten sie häufig ungewollt in Konflikte. Sie selbst orientierten sich in der Regel nicht an den bäuerlichen, sondern an den städtischen und einflussreicheren nationalen Kulturen, erst an der deutschen, später zunehmend auch an der polnischen und der russischen. Vielerorts repräsentierten sie die städtische Schicht schlechthin. Sie waren das „Bürgertum“ im Schtetl, deswegen hatte man sie ja nach Osteuropa geholt. Die erste „weltliche“ Sprache, die sich die frühen jüdischen Aufklärer zu Beginn des 19. Jahrhunderts aneigneten, war die deutsche, da das Jiddische ohnehin als deutscher Dialekt galt. Dieser Umstand hatte auch Einfluss auf die eher zur Akkulturation neigenden jüdischen Kaufleute. Zwischen 1848 und 1870 waren die assimilierten Juden im westlichen Galizien beispielsweise an der deutsch-bürgerlichen Kultur Wiens orientiert, während sie inmitten einer überwiegend polnischen Bevölkerung lebten. In den folgenden Jahrzehnten machte sich eine stärkere Neigung zur Polonisierung bemerkbar, was dazu führte, dass in manchen Lemberger Familien die Eltern untereinander noch deutsch, die Kinder aber bereits polnisch sprachen. Die Juden im östlichen Galizien waren dagegen von ruthenischen Bauern umgeben und neigten eher zur polnischen Kultur hin. Unter russischer Herrschaft wählten die Juden die großrussische Kultur und Literatur zum Vorbild, nicht die sie umgebenden bäuerlichen Kulturen der Ukrainer, Weißrussen oder Litauer. Im ethnisch und kulturell einheitlicheren Kongresspolen wurde die polnische Nationalkultur zum Ziel der Anpassung. Eine Hauptursache für die kulturellen Unterschiede innerhalb des russischen Ansiedlungsrayons war die unterschiedliche Dichte der jüdischen Bevölkerung in den verschiedenen Provinzen. In Gegenden mit wenig Juden war der Einfluss der umgebenden Gesellschaft auf die jüdische Bevölkerung größer. Die schnellere Akkulturation in diesen Gegenden beruhte nicht wie im Westen auf einem Gefühl kultureller Unterlegenheit, sondern auf dem praktischen Wert, den etwa die Kenntnis der russischen Sprache besaß.

Gemeinsam war den Ostjuden die Spaltung in orthodoxe und „moderne“ Juden, die sich in jüdische Reformer und in „Assimilationisten“ mit jeweils unterschiedlichen Zielkulturen teilten. Die Hochburgen der „Modernen“ waren überall die Städte, wo es zwar auch Orthodoxe gab, diese jedoch im Laufe weniger Jahrzehnte die Vormachtstellung in den Gemeinden verloren. Die Masse der jüdischen Land- und Kleinstadtbevölkerung blieb traditionell verhaftet, was sich auch deutlich an den konstant hohen Schülerzahlen der traditionellen Cheder zeigte.

Die „neuen“ Unterschiede, die mit dem Grad der Säkularisierung, mit der Lage in Stadt oder Land und der Erschließung durch die Eisenbahn zu tun hatten, überlagerten die älteren regionalen Differenzen, die im ostjüdischen Bewusstsein einen immer gegenwärtigen Hintergrund bildeten. So haben Aufklärung und Modernisierung letztlich auch die Welt derer, die sie ablehnten, entscheidend verändert.