Vor zwanzig Jahren: Europas Wiedervereinigung

aus OWEP 2/2009  •  von Hans Maier

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Maier, langjähriger Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Kultusminister von Bayern a. D., ist Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

I.

Jahrzehntelang waren unsere östlichen Nachbarn von der freien Welt abgeschnitten. Sie lebten zwar dicht vor unserer Haustür, aber wir konnten kaum zu ihnen kommen. Der Kalte Krieg hatte Europa gespalten. Der weite Raum zwischen Fichtelgebirge, Schwarzem Meer, Ural, zwischen der Ostsee und dem nördlichen Karst schien nur noch ein Glacis, ein Aufmarschgelände der sowjetischen Weltmacht zu sein. Für westliche Reiselust und Neugier war er fast unzugänglich. Mittel- und Osteuropa lagen im Schatten der Geschichte.

Dann geschah das von vielen, ja den meisten Unerwartete: Das kommunistische Weltreich zerbrach. Die wirtschaftlichen, militärischen, politischen Blocksysteme des Ostens lösten sich auf. Die Völker Mitteleuropas, voran Polen und Ungarn, befreiten sich aus der Solidarhaft von Warschauer Pakt und COMECON. Das führte 1989 zum Zusammenbruch des SED-Regimes der DDR und machte 1990 die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands möglich. Es zog 1991 die Auflösung der Sowjetunion nach sich und setzte die auseinanderfallenden Glieder des einstigen Riesenreiches dem doppelten Druck internationaler Konkurrenz und innerer ethnischer Spannungen aus.

Mit dem Sturz des Kommunismus war die Teilung Europas beendet. Die kulturelle Einheit des Kontinents begann aufs Neue sichtbar zu werden. Gorbatschows Wort vom gemeinsamen „Europäischen Haus“ machte die Runde. Papst Johannes Paul II. sprach von den „beiden Lungen“, mit denen Europa künftig wieder atmen müsse. Der Alte Kontinent war dabei, seine Spaltung zu überwinden, seine Handlungsfreiheit wiederzugewinnen. Man konnte zwischen Ost und West wieder in wachsendem Maß reisen, telefonieren, korrespondieren, Verbindungen knüpfen. Erste gemeinsame Unternehmungen wurden geplant. Der größere Teil der mittel- und osteuropäischen Länder begann sich nach Westen hin zu orientieren. Polen und Ungarn, Tschechien und die Slowakei (damals noch vereint!), die baltischen Staaten, die sich bald von der zerfallenden Sowjetunion losrissen, und – nach der Auflösung Jugoslawiens – Slowenien und Kroatien, endlich Rumänien und Bulgarien bemühten sich um Aufnahme in die Europäische Union.

Wie sieht die Bilanz nach zwei Jahrzehnten aus? Welche Hoffnungen haben sich erfüllt – und welche Befürchtungen sind wahr geworden? Wie war die Position der Christen in diesem Prozess der Wiedervereinigung Europas? Beteiligen sie sich am Aufbau der neuen Ordnung? Bleiben sie abseits? Worin sehen sie ihre besonderen Aufgaben? Darüber handelt dieses Heft in Gesprächen mit Zeitzeugen, die die Wende selbst miterlebt haben und die heute, zwanzig Jahre später, nachdenklich auf das Jahr 1989 zurückblicken.

II.

Eine Beobachtung zieht sich durch fast alle Beiträge hindurch: Diejenigen, die hier sprechen, „hatten es schon früher kommen sehen“. „Die Wende ist nicht über Nacht gekommen. Sie hat eine ziemlich lange Geschichte und begann für mich schon sehr früh“ (Jiří Kaplan). „Ich habe gewusst, es wird nichts so bleiben, wie es ist“ (Władysław Bartoszewski). Die einen sahen den Beginn der Wende im Prager Frühling (1968), die anderen in der Wahl des polnischen Papstes (1978). Andere gingen noch weiter zurück, in die Zeit nach Stalins Tod (1953). Gewiss, viele wurden von den Ereignissen von 1989 ebenso überrascht wie die meisten anderen Zeitgenossen. Aber sie waren nicht gänzlich unvorbereitet, wurden durch die Geschehnisse nicht einfach überrumpelt. Hatten doch die meisten mit persönlichem Einsatz versucht, das in manchen Ländern schon früh einsetzende Tauwetter zu nutzen, um das Eis aufzubrechen, um in der Diktatur, die erste Risse zeigte, für den Rechtsstaat, die Menschenrechte zu kämpfen (den einen gelang es, andere bezahlten es mit Verfolgung und Haft). Aktiv handelnd oder aufmerksam beobachtend nahmen sie an dem Geschehen der Jahre vor und nach 1989 teil. Damit sind sie Zeitzeugen im Wortsinn, Menschen, die etwas bezeugt haben, die für etwas stehen. Sie sind zu Sprechern des östlichen Europa geworden – in einem Augenblick, in dem dieses Europa seine Stummheit überwand und seine Handlungsfähigkeit zurückgewann.

Allen, die hier zu Wort kommen, eignet ein illusionsloser Blick auf die kommunistische Herrschaft. Kaum jemand von ihnen hielt sie für dauerhaft, endgültig, unumstößlich (wie damals viele Politiker im Westen, aber auch manche Prälaten in Rom während der kurzen Phase der vatikanischen Ostpolitik). Die Zeitzeugen hatten ja die Pathologie des Systems aus unmittelbarer Nähe erlebt. Was vor aller Augen zerfiel, war ein Glaube – der Glaube an den Marxismus-Leninismus; ein Prozess, der in Russland, Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien schon seit den sechziger Jahren zu beobachten war. Aufschlussreich sind die Biographien und Bekenntnisse ehemals kommunistischer Intellektueller wie Djilas, Kolakowski, Machovec, Sacharow: sie alle wandten sich in jenen Jahren ab von dem „Gott, der keiner war“ (Arthur Koestler). In den siebziger Jahren war der Kommunismus keine siegreich voranschreitende Bewegung mehr. Er war nur noch ein Machterhaltungskartell, von Skepsis und Augurenlächeln umgeben. Der marxistische Glaube stand zwar noch in den Parteiprogrammen und wurde in den jährlich bei Jugendweihen und anderen Gelegenheiten überreichten „Katechismen“ in allen Einzelheiten durchbuchstabiert. Aber er fand keine verlässlichen persönlichen Zeugen mehr.

Dem geistigen Offenbarungseid folgte der Zusammenbruch der Wirtschaft. Hatte Chruschtschow in den sechziger Jahren noch die Russen dazu aufgerufen, den Westen wirtschaftlich zu überholen, so fiel die Sowjetunion in den siebziger Jahren auf den Status eines Entwicklungslandes zurück. Eine Ausnahme bildete der militärische Sektor; aber auch hier wurde der Wettlauf mit der westlichen Welt immer schwieriger, vor allem in der Zeit des Gegenübers von SS-20 und SDI1. Vor allem beim Umweltschutz holte der ideologisch halbierte Fortschritt die Industrialisierung wieder ein. Der Produktionsfaktor Natur wurde überbelastet, seine Regenerationskraft überfordert. Die natürliche Umwelt wurde an vielen Orten zerstört.

Innerhalb des geistig und wirtschaftlich geschwächten kommunistischen Reiches erwachte die Opposition. Hier setzte sich Polen mit der Solidarność-Bewegung an die Spitze jener Kräfte, die auf eine Befreiung Osteuropas von der sowjetischen Herrschaft abzielten. Das war neu. Denn die polnischen Reformer wollten nicht einen revisionistischen, einen liberalisierten Kommunismus, wie in den fünfziger Jahren Tito, später Ceauşescu, sie wollten überhaupt keinen Kommunismus mehr. Lech Wałęsa, der Gründer der ersten freien Gewerkschaft im Ostblock, ging aufs Ganze – ohne Zweifel gestärkt und beflügelt durch seinen polnischen Landsmann, den Papst. Neue, in Deutschland wenig bekannte Einzelheiten dazu können die Leser von OST-WEST. Europäische Perspektiven den Aufzeichnungen und dem Gespräch mit Bischof Alojzy Orszulik entnehmen, der damals als Vertreter der Polnischen Bischofskonferenz eine wichtige Rolle bei den Gesprächen führte, die zum „Runden Tisch“ führten. Für alle Europäer sichtbar übernahm 1989 mit Tadeusz Mazowiecki der erste nichtkommunistische Regierungschef in einem Land des Warschauer Paktes die Macht. Er musste sie freilich anfangs noch mit den Kommunisten teilen.

Man sollte es festhalten: Der Aufbruch der Solidarność-Bewegung unter Lech Wałęsa 1980 in der Danziger Werft war das auslösende Moment für den Freiheitssturm in Osteuropa. (Gorbatschow kam ja erst fünf Jahre später!). Bewegungen in den baltischen Ländern und in Russland, in Rumänien, der Tschechoslowakei, später in Ungarn und der DDR schlossen sich an; sie erreichten ihren Höhepunkt im „annus mirabilis“ 1989. Als symbolisches Zeichen für diesen europäischen Aufbruch stehen bis heute die drei riesigen Kreuze in der Danziger Werft (von der Solidarność 1980 durch Druck auf die Regierung erzwungen, als Gedenken an die 1970 erschossenen Werftarbeiter!). Weltweit das bekannteste Symbol für die friedliche Revolution von 1989 – eine Revolution ohne Blutvergießen! – wurde der Fall der Berliner Mauer am 9. November und das mit fröhlichen singenden Menschen besetzte, endlich wieder zwischen Ost und West begehbare Brandenburger Tor. Auch dazu bringen die folgenden Seiten persönliche Zeugnisse aus der Sicht der (Ost-)Deutschen (Friedrich Schorlemmer, Hellmut Puschmann).

III.

Wie reagierte Russland? Dort hatte 1985 nach zwei blassen Übergangsfiguren Michail Gorbatschow die Führung übernommen. Der neue Mann war von Anfang an mit einer lebensbedrohlichen Krise des Systems konfrontiert. Er wirkte wie ein von den Ereignissen Getriebener. Der innere Zerfall war längst im Gang. Mit taktischem Geschick und ohne die ideologischen Bedenken der alten Nomenklatura suchte Gorbatschow den Prozess der Emanzipation und Auflösung im Ostblock und in der Sowjetunion teils durch Zugeständnisse zu beherrschen – typisch dafür waren die Namen „Glasnost“ und „Perestroika“ –, teils sich selbst an die Spitze der fälligen Reformbewegung zu setzen. Vor allem außenpolitisch ging er daran, nicht mehr haltbare Positionen aus dem Kalten Krieg und der Ost-West-Konfrontation Schritt um Schritt zurückzunehmen. Doch die stürmischen Wandlungen in Ost- und Mitteleuropa warfen bald alle Voraussagen und Steuerungsversuche über den Haufen. Mit unerwarteter Schnelligkeit überholte der Prozess der Perestroika seinen Protagonisten. Seit 1991 war Gorbatschow nur noch ein Beobachter der politischen Szene. Im Rückblick war es sein bleibendes Verdienst, dass er im Strudel der Ereignisse von 1989/90 militärische Macht nicht eingesetzt hat, dass er auf eine sowjetische Intervention (wie 1968 in Prag) oder gar auf eine „chinesische Lösung“ (wie am Tian’anmenplatz in Peking)2 in Europa bewusst verzichtete.

Die Dialoge mit Tatjana Goritschewa (St. Petersburg) und Irina Scherbakowa (Moskau) bieten faszinierende Einblicke in die damaligen Vorgänge in der Sowjetunion. Kann man sich heute noch vorstellen, dass die linientreue SED-Führung in jenen Jahren sogar ein Lektüreverbot für die „Prawda“ in der DDR erwog? 1985 hatte Gorbatschow seinen Vertrauten Alexander Jakowlew in die Staaten des Warschauer Paktes entsandt, um für die Perestroika zu werben. An vielen Orten fand er Zustimmung, auf die stärkste Ablehnung stieß er bei Honecker. Später, bei einem Besuch in Moskau im April 1992, konnte ich Jakowlew fragen, wie Gorbatschow seinen Bericht über die Gespräche mit Honecker aufgenommen habe. „Seine Antwort war ganz einfach“ sagte er. „Wenn die uns nicht brauchen, dann brauchen wir sie auch nicht.“ Vieles an den späteren Ereignissen erklärt sich aus diesem Zusammenprall zwischen den Reformwilligen und den Reformscheuen zu Beginn der Gorbatschow-Ära. Gorbatschows Diktum bei der 40-Jahr-Feier der DDR „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ wirkt heute wie ein Echo auf die Ablehnung der Perestroika durch die deutschen Kommunisten. Man versteht im Nachhinein auch besser, warum Gorbatschow bei den Demonstrationen in Leipzig und anderswo jede militärische Intervention ablehnte, obwohl die SED-Führung insgeheim mit einer „chinesischen Lösung“ rechnete (die Krankenhäuser in Leipzig und Dresden hatten bereits die Anweisung, zwei Drittel der Betten für Notfälle freizuhalten!).

IV.

Die Ereignisse von 1989 weckten im befreiten Osteuropa große Erwartungen. Das Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch das Bedürfnis nach Hilfen aller Art war gewaltig. Die wenigsten der befreiten Länder waren in der Lage, sich ihre Wünsche aus eigenen Kräften zu erfüllen. Der Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich nur langsam. Anfangs bestand Gefahr, dass die politische Befreiung Osteuropas in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken bleiben würde. Vierzig Jahre kommunistischer Herrschaft – in Russland waren es sogar siebzig Jahre! – ließen sich eben nicht über Nacht abschütteln. Woher sollten plötzlich die Initiativen kommen, das Unternehmerische, der Mut zum Risiko, die nötige Zähigkeit beim Aufbau neuer wirtschaftlicher und politischer Ordnungen? So folgte dem Taumel der Befreiung an vielen Stellen die Ernüchterung, nach dem euphorischen Gipfelsturm erlebte man die „Mühen der Ebene“.

Vor allem die neu aufbrechenden Nationalitätenprobleme in Ost- und Südosteuropa hielten in den achtziger und neunziger Jahren, ja bis zur Gegenwart, die Welt in Atem: eine Serie blutiger Überraschungen, vom Zerfall Jugoslawiens bis zu den Kriegen in Tschetschenien, in Daghestan, in Kaukasien. Es war eine historisch durchaus begreifliche Reaktion auf die jahrzehntelange Unterdrückung von Regionen, Nationen, Minderheiten im sowjetischen Imperium, dass der Nationalstaat im postkommunistischen Osteuropa neue Kraft und neues Ansehen gewann. Freiheit hieß für viele Menschen zunächst einmal: Befreiung von der bisherigen Übermacht. Schon früher hatten Völker, die sich unterdrückt fühlten, von den Polen bis zu den Ukrainern, von den Ungarn bis zu den Esten, Letten, Litauern, der sowjetischen Hegemonie ihre eigene Geschichte entgegengesetzt als etwas, das nur ihnen gehörte. Diese Entwicklung setzte sich nach 1989 beschleunigt fort. Aber wohin trieb sie? Konnte der neue Nationalismus in Grenzen gehalten, konnte er durch stabilisierende föderalistische Ordnungen, durch ein sich neu bildendes Staatensystem verstetigt werden?

Der Nationalstaat hat sich inzwischen in den Ländern Osteuropas überall durchgesetzt. Die Frage war freilich von Anfang an, wie groß er sein musste (und wie klein er sein durfte), um lebensfähig zu sein. Wo wurden die Referenzen geprüft? Als die Sowjetunion in viele Völker zerfiel: Welche der Völker sollten Völker bleiben, welche Staaten werden? Dass Russen, Ukrainer, Weißrussen, Usbeken, Kirgisen, Tataren, Aserbaidschaner heute in eigenen staatlichen Organisationen leben und leben wollen, leuchtet ein. Aber Jakuten, Dolganen, Rutulen, Tschuktschen, Itelmenen, Dunganen, Jugakiren? Wie steht es mit dem Ruf „Tatarstan den Tataren!“, wenn in Tatarstan nur 26 Prozent der Bevölkerung Tataren sind? Ähnlich sieht es mit den Nachfolgestaaten des einstigen Jugoslawien aus. Kann ein Gebilde wie das Kosovo aus sich heraus Stabilität gewinnen? Wie sind die Grenzen zwischen den rivalisierenden Ethnien zu ziehen? Wie kann der Schutz der Minderheiten gesichert werden? Fragen über Fragen, die der Lösung harren, nachdem die Blöcke zerfallen sind und die länderübergreifenden Ideologien nicht mehr existieren.

Im Westen war „Europa“ die große Alternative zum endlosen Streit der Nationalstaaten, der in zwei Weltkriegen den Kontinent in Trümmer legte. Im Osten dagegen war umgekehrt der Nationalstaat die Alternative zum ungeliebten, von der Sowjetmacht erzwungenen „proletarischen Internationalismus“. Heimat und Nation haben im Osten einen anderen, höheren Stellenwert als in vielen westeuropäischen Ländern. Das kann zu Ungleichzeitigkeiten, zu Missverständnissen im innereuropäischen Ost-West-Dialog führen. In Osteuropa ist auch die Sympathie für den US-amerikanischen Patriotismus weit größer als in Westeuropa, und dies nicht erst seit dem 11. September 2001. Die Zugehörigkeit zur NATO ist für die westlich orientierten Politiker Mitteleuropas sehr viel wichtiger als die Zugehörigkeit zur Europäischen Union.

Dies alles kann man aus den Interviews vor allem mit polnischen und ukrainischen Gesprächspartnern lernen. Dabei muss man als „Westler“ die spezifischen Längen- und Breitengrade, die geschichtlich-politischen Hintergründe beachten. Lapidar stellt z. B. Myroslaw Marynovych in seinen Bemerkungen fest, dass der „unvorstellbare Traum“, der nach 1989 möglich geworden war, „einfach die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine“ war. Und so wie er dürften viele Mitteleuropäer bis heute denken.

In der gegenwärtigen Welt schwinden die Imperien, die Reiche dahin. Nationalsozialismus und Kommunismus sind – zumindest in Europa – untergegangen. Verschwunden sind auch die Kolonialreiche britischer, französischer, niederländischer und anderer Observanz. Viele Staaten sind neu entstanden. Überblickt man die letzten Jahrzehnte, so geht die Tendenz eher zum Kleinstaat als zum Weltstaat. Das ist zunächst einmal etwas Positives. Ein Kleinstaat ängstigt nicht. Aus einem Weltstaat dagegen kann man nicht mehr emigrieren. „Föderalistische“ Staaten – in einem weiten Sinn verstanden – sind überall auf der Welt im Vordringen. Das ist kein Wunder: Die technische und mediale „One World“ – das große Welt-Dorf vor unseren Fernsehaugen – verlangt gebieterisch ein Gegengewicht. Je mehr die Globalisierung fortschreitet, je einheitlich-uniformer die Welt wird, desto stärker macht sich ein Verlangen nach „Heimat“, nach überschaubaren, erlebbaren Verhältnissen bemerkbar. Nur in solchen begrenzten Räumen kann sich ja Verantwortung bilden, kann Verantwortungsgefühl entstehen.

Wenn aber einerseits die Imperien verschwinden, anderseits die „Basis“ der Staaten tiefer gelegt wird, dann bedarf es einer Auffangstellung – und das dürfte ein reformierter, kooperativer, durch Grundrechte und Minderheitenschutz domestizierter Nationalstaat sein. Denn der Prozess der Zersplitterung darf nicht bis zur völligen politischen Atomisierung führen – sonst schüfe man nur einen Anreiz für die Entstehung neuer Hegemonialstaaten.

So wird die gegenwärtige Lage Europas von allen Beteiligten Fantasie und Gestaltungskraft erfordern. Eine umfassende Analyse der sozialen und politischen Tatsachen ist erforderlich. Dabei sollte man das vorige Jahrhundert als Ganzes im Blick haben und die Erfahrungen der Vergangenheit bedenken. Vor allem sollte man weit mehr als bisher miteinander sprechen und voneinander lernen – Osteuropäer wie Westeuropäer.

V.

Die Gespräche, Interviews und schriftlichen Stellungnahmen ziehen eine Bilanz der letzten zwanzig Jahre. Was hat sich verändert in dieser Zeit, was ist anders, was ist besser oder schlechter geworden?

Verschieden fallen die Antworten aus. Das Spektrum reicht von optimistischen Einschätzungen bis zu pessimistischen, ja schon fast apokalyptischen Visionen. Was Russland angeht, so stellt Irina Scherbakowa fest, dass man bis zu den Jahren 1993/94 eine „auf die russischen Gegebenheiten zugeschnittene Form der Demokratie“ erstrebt habe. Inzwischen habe sich Russland aber von den liberal-demokratischen Idealen immer weiter entfernt. Viele Eigenschaften des so genannten sowjetischen Menschen seien auch in postkommunistischer Zeit geblieben, nämlich „die Unmündigkeit, das Erwarten von staatlichen Almosen, der Glaube an das russische Wunder und an schnelle Bereicherung“. Dann kam das Heimweh nach dem Zarenreich – und rascher als gedacht die Sehnsucht nach der starken Hand, gefolgt von einer historischen Verklärung des Stalinismus und neuerlichem Liebäugeln mit den alten russisch-imperialen Traditionen. Tatjana Goritschewa meint, dass der „alte Teufel“ noch nicht weggegangen sei. „Sieben neue Teufel sind sofort eingetreten in dieses Haus, das leer geworden ist. In Russland herrscht ein barbarischer Kapitalismus, die Oligarchie ... Die neuen Reichen sind hässlich, geschmacklos, ungebildet, einfach satanisch. Die Kluft zwischen den Reichen und den Armen ist viel tiefer als in anderen Ländern. Die Arroganz der Reichen ist schrecklich. Sie haben kein Mitleid. In Russland wird den Armen sehr wenig geholfen.“

Positiver ist das Bild, das die Mitteleuropäer zeichnen. Sie haben mit der Osterweiterung der EU im Mai 2004 einen „Sprung nach vorn“ gemacht. In vielen Staaten zeichnen sich auch deutlichere demokratische Konturen als in Russland ab. Ein neues Parteiensystem ist entstanden. Die rechtsstaatlichen Sicherungen funktionieren zufriedenstellend. Die Neuen im Osten verdanken der Europäischen Union einen kräftigen Wachstumsschub. Die ökonomische Leistungskraft stieg im ersten Jahr der Zugehörigkeit zur EU um durchschnittlich fünf Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lag das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in dieser Zeit bei einem Prozent, in Großbritannien bei 3,1 Prozent. Freilich fällt auf diese positive Entwicklung in den letzten Jahren der Schatten der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise.

Vielfach wird beklagt, dass die „befreiten Länder“ sich in den letzten zwanzig Jahren kaum mit ihrer jüngsten Vergangenheit auseinandergesetzt hätten. Oft wurde die nötige Auseinandersetzung durch eine bewusste „Schlussstrich“-Politik verhindert und manchmal in einer Flut von Amnestien ertränkt (Ausnahme: die neuen Länder in Deutschland mit dem Stasiunterlagen-Gesetz und der Gauck- und Birthlerbehörde!). So konnten die Anhänger („Gläubigen“) des Sozialismus, die anfangs verunsichert waren, bald wieder neue Hoffnung schöpfen. In nahezu allen Ländern des einstigen Warschauer Pakts haben „postkommunistische“ Parteien inzwischen breiten Anteil am politischen Leben – zumeist freilich in einem sich einspielenden Wechsel mit westlich orientierten, liberal-konservativen Kräften.

Und wie steht es mit den Christen, den „Andersgläubigen“ von einst? Inmitten der Geschlossenheit der marxistischen Glaubenswelt waren sie ein geistiger Widerpart, eine Kraft der Opposition. Wiederholt wird in den Interviews betont, wie stark der Glaube die politische Haltung der Opponierenden geformt und bestimmt hat. Allen war eine größere oder geringere Resistenz gegenüber den kommunistischen Heilslehren zu eigen. So lag es nahe, im Ende des falschen Glaubens den Triumph des wahren Glaubens zu sehen – im Niedergang des Sozialismus einen neuen Aufgang des Christentums. Bei der Bischofssynode von 1991 in Rom und bei der „Europäischen Protestantischen Versammlung“ in Budapest herrschte denn auch eine zuversichtliche Stimmung, was die Zukunft des Christentums in Europa betraf (sehr im Unterschied zum Panorthodoxen Treffen 1992 im Phanar in Istanbul).

Inzwischen sind die Töne leiser, die Äußerungen vorsichtiger geworden. War das östliche Europa in seinen orthodoxen, katholischen und evangelischen Formen früher die „frömmere“ Alternative zum säkularisierten West- und Nordeuropa, so gleichen sich Kirchennähe und -ferne in ganz Europa in den letzten Jahrzehnten einander immer stärker an. Kräfte der Säkularisierung sind heute auch in Osteuropa wirksam – zumal in Ländern, in denen die Kirchen den „Schritt in die Moderne“ noch vor sich haben oder ihn nur zögernd wagen. Das verändert auch die Bedingungen des kirchlichen Dialogs mit den Menschen in der nach-kommunistischen Zeit. Tomáš Halík umschreibt diese Situation präzise wie folgt: „Für viele Leute, für die jungen Intellektuellen, die Studenten, die Künstler war die Kirche eine Art ‚Insel der geistigen Freiheit‘ und ein Signal der Hoffnung. Es gab viele Kreise von Sympathisanten mit der Kirche. Bis heute ist mein Hauptakzent, mit diesen Sympathisanten zu arbeiten und auch diesen Leuten etwas anzubieten. Die Kirche muss offene Arme haben auch für Menschen, die sich nicht hundertprozentig mit ihr identifizieren wollen oder können ... Es muss einen Dialog mit den Menschen geben. Eine monologische Evangelisierung ist und bleibt wirkungslos. Die Leute sind seit der Zeit des Kommunismus allergisch gegen ideologische Indoktrination. Und wenn dann diese aggressive Evangelisation im amerikanischen Stil kommt, dann verschließen sich die Menschen völlig.“

In der Tat wird das Christentum der osteuropäischen Welt nur helfen können, wenn es selbst ein paar Lektionen Pluralismus lernt. Dazu gehört die Einsicht, dass die Unbedingtheit des Glaubens nicht auf alle Dinge des Alltags übertragen werden kann, dass es in der Politik meist nicht eine, sondern viele Möglichkeiten gibt, dass darüber gestritten werden kann und muss, ohne dass die notwendige Einheit in den Grundsätzen der Verfassung und des Rechts verloren geht – kurz dass Konsens und Konflikt in der Demokratie keine Gegensätze, sondern sich ergänzende Prinzipien sind. Zu lernen ist auch, dass in politischen Fragen keine vorgegebene Harmonie existiert und man die Gegenwart weder der Utopie des Noch-Nicht aufopfern darf (wie im Kommunismus) noch einem Traditionalismus des (angeblich) Immer-schon-Gültigen.

VI.

Zwanzig Jahre sind vergangen seit der „Wiedervereinigung Europas“. Ist Osteuropa inzwischen bei uns im Westen angekommen? Rücken die Kirchen in Ost und West einander näher? Stellen wir in Gedanken Kyrill und Method als Patrone Europas neben Benedikt und Kolumban, wie es Papst Johannes Paul II. den Gläubigen empfahl? Machen wir in Europa ernst mit der Einsicht, dass es nicht nur den lateinischen Westen, sondern auch den griechisch-slawischen Osten gibt?

Auf unseren Geldscheinen, immerhin, steht das Wort Euro auch in griechischen Buchstaben – ΕΥΡΟ. Aber sind wir uns beim Umgang mit dem europäischen Erbe schon hinreichend bewusst, dass es nicht nur „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ gibt, wie der bekannte Curtius-Titel lautet, sondern auch das östliche Gegenstück: Europäische Literatur und griechisches (kirchenslawisches, bulgarisches, russisches, serbisches) Mittelalter? (Wobei ich die katholischen Mitteleuropäer – Polen, Litauer, Tschechen, Ungarn, Slowaken, Westukrainer, Slowenen und Kroaten – beileibe nicht vereinnahmen will, die sich bekanntlich nicht zum griechisch-kyrillischen, sondern zum lateinischen Kulturkreis zählen – aber Osteuropa ist nun einmal vielgestaltig!).

Immer waren Religion und Kirchen in Osteuropa starke Kräfte, vielfältig ins öffentliche Leben einbezogen, sei es, dass sie die Autorität der herrschenden Mächte (Russland, Habsburg, das Osmanische Reich) stützten, sei es, dass sie umgekehrt eine Stütze für die Beherrschten waren (wie der Katholizismus in Polen oder das Hussitentum in Böhmen). Mehr oder minder überall haben die Kirchen die Identität der osteuropäischen Völker geprägt. So kennt der europäische Osten zwar die Verwandlung religiöser Energien in politische Programme und Bewegungen (am ausgeprägtesten in den Anfängen der russischen Revolution), doch die in Westeuropa herrschenden Lehren vom „Absterben der Religion“ im Zuge wachsender Aufklärung und Bildung haben die Denker des Ostens nie übernommen. Osteuropa ist – weltweit gesehen – auch heute noch keine Säkularisierungsregion. Die Kirchenzugehörigkeit liegt in diesen Ländern weit über dem europäischen Durchschnitt – Ausnahmen wie Tschechien bestätigen die Regel.

Freilich: Über das einzelne Volk, den einzelnen Staat greift solcher Kircheneinfluss kaum hinaus, sieht man von den Katholiken und den Protestanten ab, die selbstverständlich auch im Osten in den gewohnten weltkirchlichen Verbindungen leben. Insbesondere die Orthodoxie als die in Osteuropa vorherrschende Kirche existiert nach wie vor in den traditionellen autokephalen Formen: Sie ist auf das jeweilige Volk, den jeweiligen Staat bezogen; ein panorthodoxes Bewusstsein existiert kaum. Und auch wenn orthodoxe Kirchen nicht überall eine so ausgeprägte Staatsnähe aufweisen wie in Russland, so erscheinen sie doch von außen gesehen fast an allen Orten als Landes-, ja als Staatskirchen. Es fällt schwer, sie sich als entwicklungsfähige Keime einer Bürgergesellschaft vorzustellen (wie etwa die katholische Kirche Polens in der Solidarność-Zeit oder evangelische und katholische Christen in der DDR 1989/90).

Die „Wiedervereinigung Europas“ in den Jahren nach 1989 hat für das Zusammenleben der drei christlichen Kirchen im östlichen Europa neue Anstöße gegeben. Sie hat aber auch ökumenische Rückschläge ausgelöst. Angesichts der neuen Lage versicherten sich Katholiken, Protestanten und Orthodoxe zunächst einmal ihrer spezifischen Eigenarten, betonten und bestätigten sie ihren konfessionsspezifischen Besitz. Seither haben sich die evangelisch-orthodoxen wie besonders die katholisch-orthodoxen Beziehungen im östlichen Europa eher verschlechtert. Einen unbefangenen Umgang der Kirchen miteinander wie im Westen gibt es kaum. Regelrechte Kirchenkämpfe herrschen vor allem zwischen der Orthodoxie und den Unierten – aber auch zwischen rivalisierenden Orthodoxien wie in der Ukraine. Das relativiert zweifellos den Einfluss der Religion auf breite Schichten.

VII.

Auch in Zukunft bleibt genug zu tun, um den „unbekannten Kontinent“, das östliche Europa, zu erforschen und zu durchleuchten. Das zeigen die in diesem Heft versammelten Beiträge. Es wäre ein Irrtum zu meinen, diese Aufgabe habe zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus an Aktualität verloren. Die Epoche der Transformation, in der wir uns gegenwärtig befinden, ist kein flüchtiges Zwischenspiel. Sie wird wohl noch lange andauern. Es gilt, Osteuropa wieder in die gesamteuropäische geistige Ökonomie, den kulturellen und religiösen Austausch einzufügen (also die „beiden Lungen“ Papst Johannes Pauls II. wieder zu beleben!). Zugleich sollte nach Mitteln und Wegen gesucht werden, wie man das spezifische osteuropäische Erbe mit den in der westeuropäischen Integration gesammelten Erfahrungen verbinden kann. Genug Aufgaben also für das Europa der Zukunft – und Arbeit für weitere Jahre und Jahrzehnte!


Fußnoten:


  1. „SS-20“ ist die US-amerikanische Bezeichnung einer sowjetischen Mittelstreckenrakete; die sowjetische Bezeichnung lautet „RSD 10 Pioner“. Ihre Stationierung in der westlichen Sowjetunion (ab 1976) löste Gegenmaßnahmen der NATO aus (so genannter NATO-Doppelbeschluss 1979). Ab 1983 wurden Pershing II-Raketen und Marschflugkörper (Cruise Missiles) in Westeuropa aufgestellt. Im gleichen Jahr verkündete der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan das SDI-Programm (SDI steht für „Strategic Defense Defensive“) mit dem Ziel, in Westeuropa einen Abwehrschirm gegen mögliche Raketenangriffe aus dem Osten zu errichten (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  2. Anspielung auf die gewaltsame Niederschlagung der von Studenten angeführten Demokratiebewegung in der Volksrepublik China auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ (Tian’anmen) in Peking durch das Militär im Juni 1989 (Anm. d. Redaktion). ↩︎