Gespräch mit Jiří Kaplan
Wie haben Sie die Wende vor 20 Jahren persönlich erlebt? Welche Gefühle beherrschten Sie damals?
Die Wende ist nicht über Nacht gekommen. Sie hat eine ziemlich lange Geschichte und begann für mich schon sehr früh. Um einen Zeitpunkt zu setzen: Sie begann mit der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Sowjetarmee und die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968. Von da an begann die Gegenbewegung. Sie weitete sich langsam, aber stetig aus. Ich erinnere mich, dass meine Frau und ich in der Nacht der Besetzung den sowjetischen Botschafter auf der Straße vor unserem Haus getroffen haben. Wir wohnten in der Nähe der Botschaft, und es waren viele Leute in jener Nacht auf den Straßen Prags unterwegs. Wir haben ganz offen mit ihm gesprochen. Ich war selbst sehr gespannt und mit mir viele andere, weil wir insgeheim hofften, dass vielleicht doch irgendeine Änderung eintreten würde. Aber nichts ist gekommen. Seit diesem Zeitpunkt wurde ich freier und freier in meinem Denken und Handeln. Diese Stärke ist mir bis heute erhalten geblieben.
Wie war das Leben in den bleiernen Jahren ab 1968 und was spürten Sie 1989?
Die Kommunisten hatten das Land äußerlich immer noch fest im Griff der Macht. Aber 1989 habe ich mit allen Fasern gespürt: Es geht los! Und dieses Gefühl, das nicht nur mich beherrscht hat, sondern auch die anderen, die gleichgesinnt waren, hat uns mutig gemacht, Initiativen in Richtung Freiheit zu ergreifen.
Die Kommunisten hatten immer ihr besonderes Augenmerk auf die Schulen gerichtet. Deswegen haben wir versucht, in diesem Bereich auf die Partei und den Staat Druck auszuüben. Wir wollten einfach mehr Freiheit haben, um zum Beispiel Religionsunterricht durchführen zu können. Wir haben uns mit anderen Familien verbündet, die wir schon kannten, und haben einige deutliche, kritische Punkte gesetzt, uns zu Wort gemeldet.
Das konnten wir übrigens deswegen so angstfrei tun, weil wir darin schon eine gewisse Übung aus den langen Jahren davor hatten. Wir hatten immer ein offenes Haus, immer kamen Gäste aus England, Holland, Deutschland, mit denen wir Kontakt hielten. Das ist natürlich den Kommunisten nicht verborgen geblieben. Vor allem viele Bücher kamen auf diesem Wege zu uns. Das war gefährlich, weil darunter auch Literatur war, die deutlich zum Widerstand angeregt hat. Deswegen hatten wir manchmal auch ein wenig Angst, weil wir ja wussten, dass wir überwacht wurden. In dieser Atmosphäre haben wir die Jahre von 1968 bis 1979 verbracht.
1979 kamen dann ein paar Männer in Ihr Haus und haben Sie verhaftet. Wie war das?
Es war um halb sieben Uhr morgens. Ich war gerade dabei, mich zu rasieren. Und da hörte ich, wie Maria, meine Frau, von unten rief: „Sie sind schon da!“ Total überraschend war das nicht. Die Ahnung, die Befürchtung, die uns schon die ganze Zeit beherrscht hatte, war zur Gewissheit geworden: Sie waren da, um mich abzuholen. Zuerst haben sie mich in mein Büro gebracht. Dort musste ich alle Schränke und Schubladen öffnen. Darin lag Einiges an belastendem Material. Das haben sie mitgenommen. Ich wurde dann in das berüchtigte Gefängnis Ruzinje in der Nähe des Prager Flughafens gebracht. Dort wurde ich nicht besonders hart behandelt. Ich wurde nicht gefoltert, wohl aber intensiv verhört. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte mich durch die Übersetzung verbotener Literatur bereichert. Natürlich hatte ich Angst. Denn unter den Büchern, die die Polizei sowohl aus dem Keller unseres Hauses als auch aus meinem Büro mitgenommen hatte, waren zum Beispiel auch Bücher von Alexander Solschenizyn, die eine mir bekannte Russin in die tschechische Sprache übersetzt hatte.
Wie lange waren Sie in Haft? Hat es einen Prozess gegeben?
Inhaftiert war ich vom 10. September bis zum 20. Dezember 1979. Man hat mir in den Verhören, die in längeren zeitlichen Abständen stattfanden, immer wieder neue Fragen gestellt. Irgendwann teilte mir der verhörende Beamte schließlich mit, dass es wohl auch eine Anklageschrift gäbe, mir aber nicht der Prozess gemacht würde. Das hätte ich dem Großmut und der Hochherzigkeit der Partei zu verdanken und dafür solle ich dankbar sein. Aber sie haben sich alle Möglichkeiten offengehalten. Die Entlassung wenige Tage vor Weihnachten kam völlig überraschend für mich. Ich hatte schon an meine Frau und die Kinder Briefe zu Weihnachten geschrieben. Aber dann konnten wir glücklicherweise das Weihnachtsfest miteinander verbringen.
Konnten Sie in Ihrem Beruf weiterarbeiten?
Mehr oder weniger. Mein Direktor wollte eigentlich, dass ich aufhöre. Ich habe ihm aber gesagt: Ich bin freigelassen und möchte weiterarbeiten! Dann habe ich an meiner Arbeitsstelle eine andere Tätigkeit bekommen. Diese bot mir auch die Gelegenheit, die Dinge weiter zu machen, die mir wichtig waren.
Welche Rolle hat in der Zeit des Kommunismus, vor allem aber in der Zeit der Haft, Ihr Glaube für Sie gespielt?
Es gab für mich nie eine Unsicherheit in meiner religiösen Lebensführung. Das war alles wie selbstverständlich. Wir gingen mit den Kindern zu Kirche, wir haben zu Hause gebetet und gesungen. Die feste Verankerung in meinem Glauben hat mich frei gemacht. Sie gab mir den Mut, das zu tun, was ich von meinem Gewissen her für richtig und notwendig hielt.
Und in der Haft?
Ich war oft allein in meiner Zelle. Nach und nach habe ich mir aus der Erinnerung einen kleinen Kosmos von Gebeten geschaffen, die mir Halt und Vertrauen gegeben haben. Das waren zum Beispiel das Credo, das Vaterunser, das Ave Maria, auch ein paar lateinische Gebete, die ich auswendig kannte. Hunderte Male am Tag und in der Nacht habe ich diese Gebete gesprochen. Das hat mich nach und nach ruhiger, ja gelassen gemacht in meiner Isolation und mich die Sorgen, die ich natürlich um meine Familie hatte, etwas leichter ertragen lassen. Es entstand dadurch eine andere innere und äußere Atmosphäre für mich. Ich habe auf Gott vertraut. Ich wusste, dass es eine andere Macht gibt als die Macht der Menschen.
Und die Jahre danach bis 1989 in relativer Freiheit?
Ich machte weiter. Mehr und mehr spürten wir, dass sich etwas veränderte. Es gab auch äußere Anlässe, die das anzeigten. Ein entscheidender Anlass war, dass Ende der siebziger Jahre mit Johannes Paul II. ein Pole Papst wurde. Nun konnten wir neuen Mut schöpfen. Viele konnten nach Rom fahren. Im Nachhinein betrachtet sehe ich heute, mit den Augen des Glaubens, doch, dass von 1968 bis 1989 die Freiräume ganz langsam immer größer wurden. Ganz realistisch betrachtet, ohne Schönfärberei. 1989 endlich brach der Kommunismus wie von selbst in sich zusammen, hauchte einfach sein Leben aus.
Heute sind viele Menschen, auch in der Kirche, darüber enttäuscht, dass die Freiheitsräume nach dem Ende des Kommunismus nicht genutzt worden sind. Sie hatten sich Hoffnung darauf gemacht, dass neue Kraft und neues Leben auch in die Kirche komme.
Ja, das ist wahr. Das gilt für den Raum der Kirche, aber auch für die nichtkirchlichen Räume. Da war ganz am Anfang eine spürbare, hoffnungsfrohe Dynamik im Gange. Diese ist aber ganz langsam wieder in sich zusammen gefallen. Die Gründe dafür sind sicher sehr komplex. Vielleicht spielen die Veranlagung zur Trägheit im Menschen und der Hang zum Verdrängen schlechter Erinnerungen auch eine Rolle.
Hoffnung machen mir ganz kleine, fast unscheinbare Aufbrüche in der Kirche. Für mich persönlich ist zum Beispiel die Erneuerung der Glaubenspraxis, die von einigen Klöstern ausgeht, von großer Bedeutung. Ich kenne ein paar Ordenschwestern, die das versuchen. Ich vertraue darauf, dass aus solchen kleinen Anfängen wieder langsam eine größere Bewegung entsteht. Das war ja oft schon so in der Geschichte des Glaubens und der Kirche. Ich war und bin immer noch davon überzeugt, dass eine wirkliche Erneuerung des Glaubens und der Kirche nicht durch große Worte geschieht, sondern von kleinen Gruppen ausgeht, die einen intensiven Glauben mitten in der Welt praktizieren.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang Taizé für Sie?
Die Bewegung, die von Taizé ausgeht, ist eine große Hoffnung. Die Brüder von Taizé haben auch in der Zeit der Verfolgung den Kontakt zu uns gehalten. Sie sind Hoffnungsträger, deren Zeugnis für einen tiefen Glauben in unserer gesellschaftlichen und kirchlichen Situation besonders wertvoll und wichtig ist.
Sie sind davon überzeugt, dass die Tatsache des Glaubens schon allein politisch genug ist?
Ja, davon bin ich überzeugt. Ich weiß theoretisch nicht sehr viel über Glaube und Religion. Ich praktiziere sie. In den letzten Jahren habe ich einige Bücher ins Tschechische übersetzt, die mir wichtig erschienen. Dazu habe ich jetzt keine Kraft mehr, weil ich zu alt bin.
Was würden Sie einem jungen Menschen heute, der diese Zeit nicht miterlebt hat und nichts mehr oder kaum etwas davon weiß, aus Ihren Erfahrungen heraus sagen, worauf es im Leben ankommt?
Von mir aus spreche ich das nicht an. Schon gar nicht in erzieherischer Absicht. Nur wenn jemand im andauernden Gespräch fragt und keine Ruhe gibt, dann rede ich davon. Dann erzähle ich aber nicht, was ich alles im Einzelnen ertragen musste. Ich erzähle davon, was mich getragen hat.
Was hat Sie getragen? Was hat Ihnen Hoffnung gemacht, dass in der Regel alles gut ausgeht?
Das waren keine großen Sachen, eher kleine, unscheinbare Dinge und Ereignisse. Ein kleines Beispiel will ich erzählen: Eines Tages in den Jahren der Bedrängnis fuhr eine junge Frau aus England mit einem roten Auto vor unser Haus, stieg aus und klingelte. Sie hatte ein kleines Köfferchen in der Hand. Das gab sie mir. Darin war eine Vervielfältigungsmaschine, die wir gut gebrauchen konnten. Und sie brachte ein paar „gefährliche“ Bücher mit, die sie in einem kleinen Fach im Benzintank ihres Autos über die Grenze gebracht hatte. Ich war wirklich erstaunt, wie so etwas geschehen konnte, da ich die Frau vorher nicht kannte und sie nie gesehen hatte. Das war wie ein Wunder.
Ich warte auch heute wieder und immer noch, dass Wunder geschehen. Wenn sie geschehen, dann bin ich glücklich.