Ostkirchliches Erbe heute

aus OWEP 3/2009  •  von Metropolit Filaret

Der Autor ist Metropolit von Minsk und Sluzk und Patriarchalexarch von ganz Weißrussland.

In geschichtlicher Perspektive ist der christliche Glaube einer der Pfeiler der europäischen Kultur. Aus diesem Grund begegnet uns der christliche Glaube überall dort, wo uns die europäische Kultur begegnet, und zwar auch dann, wenn der christliche Gehalt einmal nicht auf der Hand liegen mag. An unseren europäischen Begriffen von Verantwortung, Freiheit und Person hat das Christliche einen unabdingbaren Anteil. Die christliche Weltanschauung gibt darüber hinaus der europäischen Geschichte den Sinn, den sie trotz der historischen Katastrophen und des wachsenden Einflusses nihilistischer und säkularistischer Kräfte haben kann. Das christliche Erbe hat in der europäischen Kultur einen weitaus bedeutenderen Platz, als das säkulare Bewusstsein gemeinhin wahrnimmt.

Bis heute kann der christliche Glaube auf die geistige Entwicklung Europas über die Kirche Einfluss nehmen. Die Kirche hat in Europa viele Gestalten, eine dieser Gestalten ist die Orthodoxie. Die Orthodoxie hat ihre ursprüngliche Heimat vor allem im Osten Europas. Was kann sie zur geistigen Entwicklung insbesondere Westeuropas beitragen? Sie verfügt über eine große spirituelle Strahlkraft, verkörpert in ihrer Liturgie, die sogar Menschen anzieht, die allem Christlichen zunächst ganz fern stehen, und ihnen ein erstes geistliches Erleben schenkt. Die Orthodoxie vermag die ersten Regungen christlichen Fühlens zu wecken, und sind sie geweckt, so vermag die Orthodoxie, sie zu stärken. Die Orthodoxie vermag manchen westlichen Einseitigkeiten entgegenzuwirken: Zwischen dem kleinlichen Rigorismus, der Abkehr erzeugt, und der alles vermischenden Regellosigkeit, die Gleichgültigkeit erzeugt, geht die Orthodoxie den guten, dem Menschen dienlichen Mittelweg. Dem westlichen Menschen, der oftmals ganz und gar im bloß Weltlichen (in Arbeit, Konsum, Genuss) verloren und verirrt ist, weist sie eine Heimkehr auf – eine Heimkehr zum Vater. Die im Westen häufig zu findende Selbstgenügsamkeit stellt die Orthodoxie schon durch ihre bloße Existenz in Frage und eröffnet den Weg zu neuen und fruchtbringenden Entwicklungen: sowohl im Leben überhaupt als auch insbesondere im kirchlichen Leben.

Aber das bedeutendste Potenzial, über das die Orthodoxie in unserer Zeit verfügt, ist vielleicht dies: Sie vermag der Einheit der Christen in realistischer Weise förderlich zu sein. So gibt es in den Grundprinzipien der Russischen Orthodoxen Kirche hinsichtlich der Beziehungen zu Andersgläubigen keinen Rigorismus. Im diesbezüglichen Dokument heißt es: „Ungeachtet der Tatsache, dass die Einheit zerbrochen ist, bleibt doch die Gemeinschaft bestehen – wenn sie auch keine vollständige ist –, und sie dient als Unterpfand der Möglichkeit der Rückkehr zur Einheit in der Kirche, in die katholische Vollkommenheit und Einigung“ (1.15). Gottes Gnade einigt uns in den Sakramenten und Gebeten. Die Einheit der Christen ist nicht zu erwarten von einer Vereinheitlichung der Dogmen der verschiedenen Glaubensrichtungen und kann nicht durch politische Maßnahmen erreicht werden; sie scheint aber auf in unserem einheitlichen Verhältnis zu Gottes Schöpfung, in unseren gemeinsamen Zielen und Werten, und in dem, der für uns alle im Zentrum von allem steht: in unserem Herrn Jesus Christus.

Für eine zukünftige Einheit der Christen dürfte eine bessere Unterscheidung zwischen dem eigentümlich Religiösen und dem eigentümlich Politischen von entscheidender Bedeutung sein. Viel Trennendes ist eher politischer als religiöser Natur. Was aber nun allgemein das Verhältnis von Politik und Kirche betrifft, so versteht sich beispielsweise die Russische Orthodoxe Kirche nicht wesenhaft als eine politische Kraft (schon gar nicht als eine nationale), sondern wesenhaft als eine geistige, religiöse Kraft. Dass sie dieses Selbstverständnis von sich hat, bedeutet jedoch nicht, dass sie „unpolitisch“ wäre. Wenn in Staat und Gesellschaft und in den internationalen Beziehungen der Mensch zu Schaden kommt, dann erhebt sie ihre Stimme. Gerade an negativen Entwicklungen im Wirtschaftsleben – der aktuelle Anlass ist die Vernichtung von Arbeitsplätzen und Kapital durch Praktiken, die ins Spielkasino gehören – übt sie nachdrückliche Kritik.

Der Mensch in Europa, im Osten wie im Westen, ist vielfältigem Druck und Zug von verschiedensten Seiten ausgesetzt. Mehr als alles andere und mehr als jemals zuvor benötigt er der geistigen Wegweisung, freilich nicht der Gängelung. Es ist Aufgabe aller Christgläubigen, ihm zu helfen. Denken wir dabei an die Worte des Heiligen Alexander Newski, die sich an die Christgläubigen aller Zeiten wenden: „Nicht in der Macht ist Gott, sondern in der Wahrheit.“