Aufeinander angewiesen

Der Autor ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen.

Das Jahr 2009 ist durch zwei Gedenktage geprägt, die die Welt geprägt haben: Vor 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, Ausgangspunkt der Trennung von Ost und West während der darauf folgenden Jahre des Kalten Krieges und der Blockbildung. Vor 20 Jahren fiel völlig überraschend und ohne Blutvergießen die Berliner Mauer, das Symbol der Trennung von Ost und West. Der Eiserne Vorhang als Kind des Krieges war nicht mehr, und das größere Europa war wieder im Bereich des Möglichen. Europa konnte wieder beginnen, „mit zwei Lungen zu atmen“, wie Papst Johannes Paul II. es in seiner prophetischen Weitsicht nannte.

Ost und West sind aber nicht nur zwei politische Kategorien der vergangenen Jahrzehnte. Ost und West sind zwei Kategorien einer Jahrhunderte alten Unterscheidung zweier Traditionen in der einen Kirche Jesu Christi. In beiden Traditionen, in ihrer Einheit wie in ihrer Unterschiedlichkeit, war das Christentum die prägende und Gestalt gebende Kraft Europas. Von Portugal bis ins Baltikum, von Ost nach West und von Skandinavien bis nach Zypern ist es das Kreuz auf christlichen Kirchen, das den Bezugspunkt bildet, um überhaupt von Europa sprechen zu können. Europa ist keine geographisch umschriebene Größe, sondern eine hauptsächlich durch das Christentum definierte kulturelle Größe.

Um zur Integration von Ost- und Westeuropa zu kommen, bedarf es der langen und reichen Tradition der Kirchen des Ostens. Sie haben über Jahrhunderte die Menschen und die Kultur ihrer Länder geprägt. Sie bilden bis heute das verbindende Element der verschiedenen Staaten. Sie allein können durch Rückbesinnung auf die Werte und Überzeugungen des Christentums in dieser Zeit der rasanten Umwälzungen ein gemeinsames Fundament bilden und den Menschen neu Halt und Orientierung geben. Nur mit ihnen kann die Integration Europas gelingen. Das gemeinsame christliche Fundament, auf dem Europa steht und das sein Grundgerüst bildet, kann uns helfen, Trennungen zu überwinden und gemeinsam einzutreten für die Menschen, die uns anvertraut sind.

Jahrzehnte des Kommunismus haben ihre Spuren hinterlassen und die orthodoxen Kirchen vor große Herausforderungen gestellt. Menschliche Tragödien, soziale Verwerfungen und ein Ausbluten des religiösen Fundaments haben im Osten Europas zu Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit geführt. Die riesigen Unterschiede der Entwicklung zwischen urbanen Zentren und den ländlich geprägten Gebieten ist unübersehbar und Herd schwelender Konflikte. Der rasante Wachstumsprozess in den Städten hat dort zu ähnlichen Symptomen der Säkularisierung geführt, wie wir es im West schon länger kennen. Diese Situation ist eine gemeinsame Herausforderung der Kirchen in Ost und West. Wir sind aufgerufen, uns dieser Überlebensfrage des Christentums in Europa gemeinsam zu stellen.