Das Gebiet Kaliningrad – ein Außenseiter in der Ostseeregion?

aus OWEP 3/2011  •  von Elke Knappe

Dr. Elke Knappe war von 1992 bis 2009 im Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig mit Schwerpunkt „Ländliche Räume im östlichen und südöstlichen Europa“ tätig. Seit ihrer Pensionierung arbeitet sie im Institut für Wirtschafts- und Regionalentwicklung im Regionalmanagement ILE. Sie ist Mitglied im Präsidium der Südosteuropa-Gesellschaft.

Zusammenfassung

Das Gebiet Kaliningrad ist die westlichste Region Russlands, seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten im Jahre 1991 ist es ohne direkte Verbindung mit dem Mutterland Russland – eine Enklave in der Europäischen Union, begrenzt von Polen und Litauen. Es hat sich seit 1991 von einem militärischen Sperrgebiet zu einer Wirtschaftsregion entwickelt. Vor allem die Gebietshauptstadt Kaliningrad, das frühere Königsberg, kann auf eine positive Bilanz in der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur verweisen. Demgegenüber bleibt das ländliche Umland deutlich zurück, die Mängel in der Infrastruktur sind nicht zu übersehen. Schwindende Einwohnerzahlen und brach liegende landwirtschaftliche Flächen sind das Ergebnis und zugleich eine Herausforderung an eine zukunftsfähige Regionalpolitik.

Einführung

Das Gebiet Kaliningrad ist die westlichste Region Russlands, seit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten im Jahre 1991 ohne direkte Verbindung mit dem Mutterland Russland – eine Enklave in der Europäischen Union (EU), begrenzt von Polen und Litauen.

Als das Gebiet Kaliningrad im April 1946 offiziell gegründet wurde und den Namen Kalinins, eines engen Vertrauten Stalins, erhielt, waren die Vorstellungen zu seiner zukünftigen Entwicklung wohl nicht sehr klar umrissen. Mit Sicherheit spielten militärische Überlegungen eine Rolle – Kaliningrad als westlicher Vorposten und Standort der baltischen Flotte war für die damalige Sowjetunion ein bedeutendes Unterpfand im Zusammenhang mit ihrer Etablierung als neue Großmacht. Die wirtschaftliche Entwicklung blieb demgegenüber mit Ausnahme der Rüstungsindustrie eher im Hintergrund. In besonderem Maße traf dies für den ländlichen Raum zu.

Während in der Gebietshauptstadt Kaliningrad vor allem nach 1991 ein rascher Strukturwandel zu beobachten war und in einem wahren Bauboom neue hochwertige Wohnungen und Einkaufszentren entstanden, war in den meisten Dörfern und kleinen Städten von einem Aufschwung wenig zu spüren. Gegenwärtig leben im Gebiet Kaliningrad 937.300 Einwohner, davon 219.900 im ländlichen Raum. In der Stadt Kaliningrad leben 420.500 Einwohner1, mithin 45 Prozent der gesamten Einwohner des Gebiets. Hingegen bewohnen nur 23 Prozent den ländlichen Raum. Die Gebietshauptstadt Kaliningrad hat eine überaus dominierende Rolle, sowohl hinsichtlich der Einwohnerzahl als auch im Blick auf Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft.

Der ländliche Raum im Schatten des Zentrums

Die Landwirtschaft der Region ist für die Bewohner der Dörfer der wichtigste Wirtschaftszweig, auch wenn sie im 2008 nur mit 4,7 Prozent am regionalen Bruttoinlandsprodukt beteiligt war. Dem Anstieg der Zahl von Unternehmen in der Industrie und dem Dienstleistungsgewerbe nach 1990 stand in der Landwirtschaft nichts Vergleichbares gegenüber.

Zwar fand auch auf dem Lande eine Privatisierung statt. Die früheren landwirtschaftlichen Kollektiv- und Staatsbetriebe erhielten neue Rechtsformen; auch konnten die Mitarbeiter der Landwirtschaftsbetriebe Land zur Gründung eines bäuerlichen Betriebes bekommen. Dies führte jedoch nur in wenigen Fällen zu einem Aufschwung. Die Auflösung der Kolchosbetriebe und deren Überführung in privatrechtliche Formen hatte zur Folge, dass sich die Unternehmen auf die Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme konzentrierten. Aufgaben wie Dienstleistungen für die Bevölkerung, Transport, Unterhalt von Straßen, Unterhalt von Kindergärten und Kulturhäusern blieben nunmehr unerledigt – den Kommunen fehlte dafür das Geld. Für die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten bedeutete dies eine weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, die ohnehin schon deutlich hinter den städtischen zurückgeblieben waren.

Die Erwerbsmöglichkeiten im ländlichen Raum verringerten sich drastisch. Die neuen Betriebe setzten Arbeitskräfte frei, für die es im Dorf kaum Alternativen gab. Ein Ausweg zeigte sich in der Führung von Nebenerwerbswirtschaften. Der Erlös aus dem Verkauf der Produkte aus dem eigenen Anbau erweist sich nunmehr häufig als wichtigste Einnahmequelle großer Teile der ländlichen Bevölkerung. Im Ergebnis der zunehmend größer werdenden Einkommensunterschiede und der schwierigeren Lebensbedingungen auf dem Lande ist es nicht verwunderlich, dass es einen Trend zur Abwanderung vor allem der jüngeren und gut ausgebildeten Bevölkerung gibt. Dass diese Wanderungsbewegung nicht sehr viel deutlicher ausfällt, liegt daran, dass es z. B. in Kaliningrad äußerst schwierig und teuer ist, eine Wohnung zu bekommen, und infolge der Wirtschaftskrise der Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr sehr hoch ist. Die Gebietsverwaltung hat die Dramatik der Lage durchaus erkannt und in einer Reihe von Beschlüssen Maßnahmen festgelegt, um das Leben auf dem Lande attraktiver zu gestalten. Dazu gehören zum Teil Dinge, die für uns zu den Selbstverständlichkeiten gehören, wie der Anschluss an Wasser- und Abwasserleitungen, Telefon- und Internetzugang, der Anschluss an die Gasversorgung und die Befestigung von Zufahrtsstraßen. Speziell für junge Familien gibt es ein Programm zur Unterstützung beim Bau eines eigenen Hauses. Damit soll es gelingen, die dringend benötigten Fachkräfte auf dem Lande zu halten.

Eine weitere Maßnahme, von der man sehr viel erhoffte, war das so genannte „Übersiedlerprogramm“. Man versprach denjenigen Russen, die gegenwärtig noch im Baltikum oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken leben, eine großzügige Förderung, wenn sie ihren Wohnsitz nach Kaliningrad und hier vor allem in den ländlichen Raum verlegen. Prognosen zufolge sollten zwischen 2007 und 2009 ca. 500.000 Menschen in das Kaliningrader Gebiet übersiedeln. Dieses ehrgeizige Ziel wurde jedoch nicht erreicht – im genannten Zeitraum kamen lediglich 6.354 Übersiedler an. Die Gründe für diese geringe Akzeptanz liegen zum einen darin, dass nicht alle Übersiedlungsanträge genehmigt wurden; zum anderen trugen die unsichere Rechtslage und hohe bürokratische Hürden dazu bei, dass die Menschen dem Programm skeptisch gegenüberstanden.

So ist der ländliche Raum nach wie vor dünn besiedelt und läuft Gefahr, durch Überalterung und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in eine Abwärtsspirale zu geraten, die nur schwer aufzuhalten ist.

Ungleiche Entwicklungswege auf dem Lande

Die Landwirtschaft im Gebiet Kaliningrad wird seit der Privatisierung im Wesentlichen von drei Betriebsformen getragen:

  • Landwirtschaftliche Großbetriebe in Form von Genossenschaften und Aktiengesellschaften
  • Bauernwirtschaften
  • Nebenwirtschaften der Bevölkerung.

Dabei widmen sich die bäuerlichen Betriebe und die Nebenwirtschaften der Bevölkerung überwiegend der Pflanzenproduktion, während in den Großbetrieben die Viehwirtschaft dominiert. Die Gründe dafür sind vor allem darin zu sehen, dass für die Haltung von Tieren größere Aufwendungen erforderlich sind – die Tiere benötigen Stallungen, Futtervorräte müssen angelegt werden. Dafür sind die bäuerlichen Betriebe und die Nebenwirtschaften zu kapitalschwach, Kredite sind schwierig zu erlangen und darüber hinaus teuer.

Gerade die Produktion von Fleisch und Milch ist jedoch lukrativ und weniger vom Witterungsverlauf abhängig als die Pflanzenproduktion, kann mithin dem Produzenten sichere Einnahmen garantieren. In diesen Genuss kommen daher vor allem die großen Betriebe, die dadurch weiter investieren und wachsen können. Demgegenüber haben die Familienbetriebe nur geringe Chancen zu expandieren und spielen daher in der gegenwärtigen Struktur der Landwirtschaft kaum eine Rolle. Ihr Anteil an der gesamten landwirtschaftlichen Produktion des Gebietes liegt nur bei ca. 6 Prozent.

Den Nebenwirtschaften kommt eine besondere Bedeutung bei der Versorgung der Bevölkerung mit Kartoffeln und Gemüse zu. Betrachtet man die Verteilung der Ackerflächen auf die einzelnen Betriebsformen, wird nochmals die geringe Rolle der bäuerlichen Betriebe deutlich: Im Jahre 2008 wurden 158.300 Hektar Ackerfläche bewirtschaftet, davon 81,7 Prozent durch Großbetriebe, 12,9 Prozent durch bäuerliche Betriebe und 5,4 Prozent durch die Nebenwirtschaften.2 Somit findet man im Gebiet Kaliningrad eine Struktur der Landwirtschaft, die einerseits hochmoderne Großbetriebe aufweist, die sich auch besonderer staatlicher Förderung erfreuen. Dies kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass andererseits noch immer große Landflächen brach liegen und Ressourcen nicht genutzt werden. Die Entwicklung des Umfangs der Ackerfläche im Gebiet Kaliningrad macht dies deutlich:

Entwicklung der Ackerfläche im Gebiet Kaliningrad:3

Jahr Ackerfläche in 1.000 Hektar
1990 416,3
1995 349,6
2000 257,9
2001 259,4
2002 222,9
2003 226,5
2004 231,7
2005 217,9
2006 195,0
2007 182,2
2008 158,3

Der große Umfang ungenutzten Ackerlandes hat mehrere Ursachen. Bekanntermaßen ist ein Großteil der Böden der Region durch hohe Grundwasserstände und reichlich Oberflächenwasser geprägt und daher eine Regulierung des Wasserhaushaltes durch Drainage (Entwässerung) für eine erfolgreiche Landwirtschaft unabdingbar. Das noch aus der Vorkriegszeit stammende System entspricht mittlerweile weder den Anforderungen noch den neuen Flächenzuschnitten und ist dadurch wenig wirksam, neue Drainagen sind nicht ausreichend vorhanden, das Netz der Pumpstationen marode. Dadurch ließ man die vernässten Flächen brach liegen. Auch die Witterungsbedingungen in der Region sind nicht immer einfach – frühe Wintereinbrüche und späte Fröste im Frühjahr können die Ernten gefährden.

Einen weiteren Eindruck von der schwierigen Lage der Landwirtschaft insgesamt vermitteln auch die Zahlen zur Viehwirtschaft. Der Rückgang der Anzahl der Rinder ist besonders gravierend: Gab es 1990 noch 467.500 Rinder im Gebiet Kaliningrad, so waren es 2008 nur noch 60.600, die Zahl der Milchkühe sank von 170.100 auf 31.600 im gleichen Zeitraum. Die traditionell in Kaliningrad gut entwickelte Nahrungsgüterwirtschaft ist dadurch darauf angewiesen, Fleisch zur Weiterverarbeitung aus Kernrussland oder den Nachbarstaaten zu importieren.

Für den ländlichen Raum bedeutet dies, dass die wenigen sehr gut arbeitenden Agrarbetriebe die Landwirtschaft insgesamt nicht zu einem wettbewerbsfähigen Wirtschaftszweig umgestalten können. Neben diesen positiven Beispielen gibt es die Mehrheit der weniger erfolgreichen Unternehmen und der Dörfer mit mangelhafter Infrastruktur und zweifelhafter Perspektive.

Ausblick

Die Verwaltung des Gebietes Kaliningrad sieht für die zukünftige Entwicklung des ländlichen Raumes und dessen Stabilisierung zum einen das Potenzial der Landwirtschaft selbst und unterstützt die Betriebe mit Fördermitteln. Auch der Ausbildung von Spezialisten wird große Aufmerksamkeit gewidmet. Dennoch haben alle diese Maßnahmen bislang noch keinen übergreifenden Erfolg. Die Mehrheit der Landwirtschaftbetriebe arbeitet nach wie vor unrentabel, der Absatz der Produkte ist nicht gut organisiert, und Betriebsmittel wie Kraftstoff, Düngemittel, Saatgut sind zu teuer. Dadurch hat die Landwirtschaft auch ihre Attraktivität für die jungen Leute verloren, ebenso wie das Leben auf dem Lande insgesamt. Erst wenn es gelingt, auch eine größere Anzahl von bäuerlichen Betrieben zukunftsfähig zu machen, könnten wieder interessante Arbeitsmöglichkeiten entstehen.

Neben der Zielstellung, die Landwirtschaft der Region effizienter zu gestalten, wurden auch Projekte aufgelegt, die die Schaffung außerlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze unterstützen sollen. Dazu gehört z. B. der ländliche Tourismus. Die größte Attraktion der Region ist zweifelsohne die Ostseeküste mit ihren Kurorten Selenogradsk (Cranz) und Svetlogorsk (Rauschen). Aber auch die Orte auf der Kurischen Nehrung weisen ein hohes touristisches Potenzial auf und eignen sich für einen sanften Tourismus und einen Urlaub auf dem Bauernhof. Reizvoll sind auch die noch zahlreich vorhandenen Alleen, das Waldgebiet der Rominter Heide oder die Moorgebiete im Nordwesten der Region. Architektonische Anziehungspunkte gibt es infolge der Zerstörungen während des und nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch wenige, aber es existieren immerhin noch einige interessante Dorfensembles und Gutskomplexe.

Wenn auch die Gebietshauptstadt der größte Touristenmagnet ist, lassen sich doch die ländlichen Regionen in ein Tourismuskonzept einbinden. Mit dem Ziel der nationalen und internationalen Vergleichbarkeit eines Urlaubs auf dem Bauernhof wurde ein Zertifizierungsmodell entwickelt, wonach die Qualität der Beherbergungsbetriebe eingeschätzt wird. Bei der Erfüllung der Mindeststandards erhält der Bauernhof ein Gütesiegel in Form eines Storches. Vier Störche bedeuten die Erfüllung des höchsten Standards. In diesem Zusammenhang könnte sich die geographische Lage der Region, die nicht selten als Nachteil gesehen wird, als positiv erweisen – das Gebiet Kaliningrad ist räumlich näher an Berlin als an Moskau und dadurch leicht erreichbar. Durch die Eröffnung eines weiteren Grenzübergangs an der polnisch-russischen Grenze (Mamonovo 2) werden die Wartezeiten an der Grenze deutlich kürzer. Wenn es dann noch gelingen wird, die Visaerteilung schneller und unbürokratischer zu gestalten, ist ein weiterer Schritt dazu getan, dass sich das Gebiet Kaliningrad zu dem vielbeschworenen Kooperationsraum zwischen der EU und Russland im Ostseeraum entwickeln kann.

Dass die Integration des Gebietes Kaliningrad in die Reihen der Ostseestaaten voran geht, ist auch in der Einbeziehung des Gebietes in zahlreiche Euroregionen rund um die Ostsee zu erkennen. Die Euroregionen bilden den Hintergrund für zahlreiche grenzüberschreitende wirtschaftliche und kulturelle Aktivitäten zwischen den jeweiligen Partnern und festigen damit den Ruf der Ostsee als ein Meer der Zusammenarbeit.


Fußnoten:


  1. Stand: 2009 (Quelle: Administracija Kaliningradskoi oblasti: Kaliningradskaja oblast v cifrach. Kaliningrad 2010, S.1). ↩︎

  2. Vgl. http://www.gks.ru (Statistischer Dienst der Russischen Föderation; letzter Zugriff: 30.11.2015) ↩︎

  3. Quelle: Kaliningradskaja Oblast in http://www.gks.ru (wie Anm. 2). ↩︎