Ein Traum von Strafe. Die Ukraine und das gefährliche (Fußball-)Spiel mit Europa

aus OWEP 1/2012  •  von Jurko Prochasko

Jurko Prochasko ist ein ukrainischer Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker. Derzeit arbeitet er als fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Zusammenfassung

Wohin entwickelt sich die Ukraine? Viele Errungenschaften der „Revolution in Orange“ sind durch die Rückkehr der alten Oligarchen an die Macht zunichte gemacht worden. Die Ausrichtung der Fußballeuropameisterschaft 2012 wird der Welt eine falsche Idylle vorgaukeln. Ein Beitritt des Landes zur Europäischen Union (EU) würde die Hoffnungen auf eine Entwicklung hin zum Besseren vergrößern – die Chancen stehen jedoch schlecht.

Die Ukraine, die im vergangenen August den zwanzigsten Jahrestag ihres Bestehens als moderner souveräner Staat mit diesem Namen begangen hat, ist infolge des Kollapses der UdSSR entstanden. Seit 1920 war sie ein wichtiger Teil der Sowjetunion; die Westregionen gehörten allerdings erst seit 1939 bzw. endgültig seit 1944 dazu. Zu diesem Zusammenbruch haben verschiedene Faktoren beigetragen, unter anderem der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986.

Oft wird die Ukraine mit ihren über 600.000 km² Fläche als das rein geographisch gesehen größte europäische Land bezeichnet. Der 1991 ausgerufene Staat zählte damals etwa 52 Millionen Einwohner, heute sind es nur noch ca. 46 Millionen, Tendenz stagnierend. Nach einer längeren, äußerst schmerzhaften Transformationszeit hat sich die Wirtschaftslage seit dem Jahr 2000 etwas stabilisiert, ohne dass wesentliche auf Modernisierung der Wirtschaft und Demokratisierung des politischen Systems gerichtete strukturelle Reformen stattgefunden hätten. Deshalb bleibt das Land auch heute noch eine hauptsächlich auf Rohstoff-Export orientierte, extrem energieverschwendende und von russischer Energieversorgung hochabhängige Volkswirtschaft mit deutlichen Zügen einer clanorganisierten Oligarchie, die eng durchwachsen ist von politischen und wirtschaftlichen Eliten.

Seit seiner Entstehung wird dieses zweisprachige und multikonfessionelle Land (mehrere Richtungen der Orthodoxie, aber auch die mit Rom unierte griechisch-katholische Kirche stellen die Mehrheit der Gläubigen), in dem zu fast gleichen Teilen ukrainisch und russisch gesprochen wird, von diversen politischen Krisen und teils heftigen inneren Auseinandersetzungen erschüttert und zeigt sich zwischen EU- und Russlandorientierung hin- und hergerissen. Die mit der orangefarbenen Revolution 2004/2005 aufgekommene Hoffnung auf baldige demokratische Erneuerung und forcierte EU-Annäherung versank schon bald in politischem Chaos, Korruption und Machtmissbrauch durch die höchsten politischen Amtsinhaber. Unter dem heute regierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch kommt es derzeit zunehmend zum Zurückrollen demokratischer Freiheiten früherer Jahre sowie deutlichen Versuchen, ein konsolidiertes autokratisches Regime zu etablieren. EU-Rhetorik wird von den Machthabern nur halbherzig betrieben, die Realität spricht, wie der Umgang mit der führenden Vertreterin der Opposition, der vor kurzem trotz vehementer Einwände von Seiten der EU-Führung zu sieben Jahren Haft verurteilten früheren Premierministerin Julia Tymoschenko zeigt, eher für das Gegenteil. 2012 ist die Ukraine neben Polen das Gastgeberland für die Fußballeuropameisterschaft.

Phantasie-Fans

Und jetzt muss ich etwas ganz Entsetzliches gestehen: Ich bin dafür, dass man uns die Europameisterschaft wegnimmt. Ja noch viel radikaler: nicht nur Lemberg, meiner Heimatstadt, sondern überhaupt der Ukraine. Besonders wichtig wäre es für mich – falls sich die allgemeine Stornierung der Entscheidung für die Ukraine als Austragungsland der inzwischen recht nahen Fußball-EM als unwahrscheinlich erweisen sollte – zumindest das Kiewer Finale zu verlegen, irgendwohin nach Polen beispielsweise.

Sicher ist das eine skandalöse Erklärung, hinter der sich – wenn man es so sehen will – eine ausgeprägt masochistische Einstellung zum Leben verbirgt. Aber erstens sollte eine solche Gefühlslage bei jemandem nicht weiter verwundern, der wie ich aus der Stadt kommt, die sich mit dem Titel rühmt, die Heimat des Masochismus zu sein (Leopold von Sacher-Masoch wurde schließlich im damals österreichischen Lemberg geboren, daher ist es nur ein halber Scherz). Zweitens interessiert mich Fußball überhaupt nicht, außerdem bin ich während der Meisterschaft gar nicht da, daher verliere ich sowieso nichts.

Für die Begehrlichkeiten der vielen – vielleicht sogar der meisten –meiner Mitbürger, die mit und für Fußball leben und diese Zeit daher nicht nur als ein riesiges Bankett ihrer innigsten Leidenschaften, sondern berechtigterweise auch als Sternstunde unseres Landes in der so genannten Weltöffentlichkeit kaum erwarten können, habe ich zwar gebührende Empathie, muss aber in diesem Fall ganz hart und unbeugsam bleiben.

Denn diese Maßnahme – ich meine die Wegnahme – muss diesmal wirklich schmerzen. Und zwar alle. Es muss etwas geschehen, wonach allen, aber absolut allen, klar und an eigenem Leib und Seele spürbar wird, dass etwas Ungeheures geschehen ist. Von den sich ganz unbefangen auf das näherrückende Fest des Lieblingsspiels und das damit unzertrennlich verbundene Fest des Landespatriotismus freuenden Normalbürgern (normal in jeder Hinsicht) bis hin zu den reichsten und dreistesten Oligarchen und hohen Würdenträgern dieses Staates (unnormal in jeder Hinsicht), die in dieses Projekt so viel Ehrgeiz und Geltungssucht investiert haben und die alle dafür gebauten Objekte eh bald durch ausgeklügelte juristische Mechanismen an sich reißen werden. Wir müssen wirklich etwas erleben, was die ganze Nation aus ihrem lethargischen Schlaf nach der kläglichen Niederlage der orangefarbenen Revolution wachrütteln würde. Natürlich meine ich die Sanktionen, die von außen ergriffen werden sollten, damit es dem ganzen Land wie auf einen Schlag endlich deutlich wird, wie schlimm es um es steht.

Es geht um Deklarationen, Lügen und Sanktionen für diese Lügen. Es geht um klare und auch klar ausgesprochene Kriterien einer EU-Perspektive für mein Land. Und es geht darum, wer wie darunter leidet und wer und wie davon profitiert. Es geht darum, das leider übliche Wischi-Waschi konstruktiv zu beenden.

Auf der offiziellen rhetorischen Ebene deklariert die ukrainische politische Führung einen starken Willen zur weiteren europäischen Integration, bis hin zum EU-Beitritt und der Bereitschaft, dafür nach entsprechenden Regeln zu spielen und die notwendigen tiefgreifenden Reformen in der Gesellschaft vorzunehmen. Diese Absicht und – was noch viel wichtiger ist – diese innere Überzeugung teilt inzwischen die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft. Nur: Alles deutet darauf hin, dass die heutige politische Führung des Landes mit diesen Deklarationen und den Versprechen ihren EU-Partnern gegenüber, vor allem aber mit dem Vertrauen ihres eigenen Volkes ein arges, perfides und höchst zynisches Spiel treibt. Mit dieser Taktik aber verspielt sie – und das sieht man in diesen Tagen so deutlich wie nie zuvor – die Zukunft ihres Landes und die ihres Volkes. Es gab und gibt viele Auslegungen und Lesarten dessen, was im so genannten Fall Tymoschenko passiert ist und warum. Man fragt sich, ob diese Regierung denn überhaupt bei Sinnen ist. Man fragt sich, wovon es mehr gibt: einen kriminellen Habitus, der unbedingt Rache am Rivalen ausüben muss, oder die ganovenhafte Überzeugung dieser sich zum großen Teil aus dem organisierten Verbrechertum rekrutierenden Staatsbeamten, dass man allen, aber wirklich allen auf der Nase herumtanzen kann, um dann doch alles zu bekommen: den eigenen Autoritarismus im Inland und die EU-Annäherung. Oder ob es womöglich eine hoffnungslose Provinzialität und Ungebildetheit dieser Eliten sei, die es ihnen unmöglich macht, weitere Horizonte als ihre eigene Bereicherung und Machtsucht zu sehen und die Entwicklungen überhaupt einigermaßen realistisch einzuschätzen. Oder vielleicht doch die unselbstständige und völlig vasallenhafte Ausführung des bösen Willens vom Kreml?

Für mich sind zwei Dinge evident: erstens, dass es zwar häufiger vorkommt, dass Staatsmänner zu Kriminellen degradieren, dass es umgekehrt aber kaum geschieht. Und zweitens, dass diese ganzen Schritte im Fall Tymoschenko zwar auch andere Nebeneffekte erreichen mögen, doch in ihrem innersten Kern und Pathos dazu unternommen werden, die EU-Integration geradezu unmöglich zu machen. Ganz zynisch und ganz bewusst. Um dann noch, nach zu erwartenden Sanktionen, der Bevölkerung sagen zu können: „Na schaut mal, wir haben uns so redlich bemüht, und die doppelzüngige EU ist es, die uns nicht mag. Dabei waren doch schon alle Papiere für die beiden zentralen Abkommen im Dezember 2011 fertig: das Assoziierungsabkommen und das Abkommen über die Freihandelszone zwischen der EU und der Ukraine. Und dann macht die EU im letzten Augenblick einen Rückzieher!“

Es ist ein klarer Betrug und es sind deutliche Lügen. Zudem ist es eine eklatante, aber leider nicht ungewöhnliche Manipulation obendrein. Diesem Regime nehme ich kein einziges Wort über die Annäherungsabsichten ab. Diese Annäherung wird nicht kurz- oder leichtsinnig verspielt. Sie wird absichtlich und methodisch verhindert.

Bleiben zwei weitere Fragen: Wie reagiert die ukrainische Bevölkerung darauf und wie reagiert die EU? Was mir dieser Tage in der Ukraine sehr fehlt, ist der Zorn. Die allgemeine Empörung, offen, öffentlich, offensiv. Verstehen meine Mitmenschen denn überhaupt nicht, dass sie vor ihren Augen um ihre und möglicherweise ihrer Kinder und Nachkommen Zukunft gebracht werden? Dieser unverschämte Betrug, diese skrupellose Manipulation allein wären schon Grund genug zur Empörung. Aber dass einem die ganze Zukunft geraubt wird, ohne dass man etwas dagegen unternimmt oder zumindest fühlt? Da gibt es in meinen Augen zwei mögliche Antworten: Entweder begreifen die Menschen nicht einmal, was mit ihnen gerade gemacht wird – oder es ist etwas Irreparables mit ihren Seelen passiert.

Es gibt in der Psychologie die sogenannte Selbsteffizienz-Theorie. Sie wurde von dem kanadischen Psychologen Albert Bandura entwickelt. Danach tragen die gelungenen Taten zur Stärkung des Selbstwerts bei, und dieser wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es zu weiteren Erfolgen kommt. So entsteht eine gutartige Spirale, die Spirale des Erfolgs, des guten Lebens. Für mein Heimatland habe ich aber eine konträre Theorie entwickeln müssen, die ich in Anlehnung an Bandura und wenig originell Selbstineffizienz-Theorie nenne. Meine Landsleute scheinen an dieser seltsamen Epidemie der Minderwertigkeitsgefühle zu leiden. Erschreckend viele Ukrainer sind davon überzeugt, dass sowieso alles nur schlecht kommt, dass sie eigentlich gar nichts dagegen tun können, und wenn doch, dann wird alles davon nur noch schlechter. Eine gigantische Spirale des Scheiterns ist in vollem Gange.

Daher plädiere ich dafür, dass die Sanktionen für diese Lügen des Regimes, für das Belügen der europäischen Partner, aber vor allem auch des eigenen Volkes in die eingangs geschilderte Richtung gehen sollten. Dass sie so angelegt sind, dass sie nicht anders ausgelegt werden können als gerechte Bestrafung. Dass sie jeder von uns spürt und sich darüber empört. Dass es jedem Ignoranten, Gleichgültigen, Wegschauer oder einfach Idioten endgültig klar wird, dass es sehr schlecht steht um unser Land. Dass wir endlich aus dieser posttraumatischen Apathie aufwachen und unsere Führung zur Rechenschaft und Verantwortung ziehen. Und unsere Zukunft – in Europa und überhaupt – selbst in die Hand nehmen und verantworten. Am Beispiel des Fußballs wäre eine solche Operation am effizientesten, denn sie trifft direkt den Körper der Gesellschaft und somit hoffentlich auch ihren Geist. Natürlich sind mir die narzisstischen Kränkungen, aber auch die materiellen Verluste, die den regierenden Oligarchen durch die Entscheidung zugefügt würden, dem Land eine „Europa“-Festivität zu verweigern, bewusst, aber letztendlich sind sie mir auch gleichgültig. Denn die Oligarchen würden ihr Gesicht und – was für sie natürlich noch viel schlimmer ist – ihre Profite verlieren. Wir aber werden, wenn das nicht geschieht, alles verlieren!

Denn genau darum geht es auch in unserer Wahrnehmung der EU. Für die meisten Ukrainer ist dieser momentan akut bedrohte Leuchtturm ein lebendiger Beweis der Möglichkeit des Unmöglichen. Wir Ukrainer verbinden damit nicht so sehr die Hoffnung auf Wohlstand, an dem wir auch partizipieren könnten, und nicht so sehr die so genannten westlichen Lebensstandards, wie vielmehr schlicht und einfach die Hoffnung auf die Möglichkeit, das politische und gesellschaftliche Leben überhaupt konstruktiv gestalten zu können. Ja, wir sind sehr naiv und infantil. Ja, wir erwarten Hilfe, Halt und Hoffnung von außen, obwohl man das eigentlich alles selber schaffen sollte und uns auch keiner diese Aufgabe abnimmt oder abnehmen will. Warum es so ist, geht vielleicht aus der oben dargelegten Theorie der Selbstineffizienz hervor. Wir sind aber auch große Idealisten, Europa-Idealisten. Und zwar nicht aus Infantilität, sondern aus purer Not, an etwas noch glauben zu müssen und zu wollen. Es gibt nur noch wenige europäische Länder im Moment, die wirklich so vital und leidenschaftlich am Weiterbestehen und Wohlergehen der EU interessiert wären wie die Ukraine. Denn die einzige Alternative angesichts der bereits arrangierten Machtübernahme (pardon, Machtweiterführung!) durch Putin kann man sich nur allzu deutlich ausmalen.

Sigmund Freud hat einmal sehr treffend den Unterschied zwischen dem Zustand nach einer gelungenen Analyse und dem davor oder gar ohne diese bezeichnet: Es geht um den Unterschied zwischen neurotischem Leiden und normalem Leiden. Schaffen wir es, uns noch rechtzeitig, noch im letzten Moment an die EU stärker zu binden, bevor es zu spät sein wird, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, das neurotische Leiden allmählich durch ein normales zu ersetzen und die Selbstineffizienz durch mehr und mehr Selbsteffizienz.

Doch die Wahrscheinlichkeit, dass es mit den europäischen Sanktionen für die Lügen der ukrainischen Regierung so kommt, wie ich es mir in diesem Wachtraum zu phantasieren erlaubt habe, ist verschwindend gering. Eigentlich gibt es sie gar nicht. Denn der Verband, der darüber entscheidet, ist kein politisches Gremium der EU, sondern eine Einrichtung, die sich in ihrer Logik und Pragmatik in vielerlei Hinsicht kaum von derjenigen der aktuellen ukrainischen Regierung unterscheidet. Warum sollte sie auch? Daher kommt es unweigerlich auf die beiden Schlüsselparteien in diesem – hoffentlich noch nicht ganz entschiedenen – Spiel an, das weitaus wichtiger ist als jedes noch so grandiose Finale: auf die EU und auf uns, die ukrainische Gesellschaft. Die Frage ist, ob die Sanktionen kommen, wie sie beschaffen sein werden und wer am Ende darunter leidet. Nein, wahrlich wäre die Stornierung der EM eine viel bessere Idee!


Die Ukraine umfasst 603.628 km² und hat ca. 46 Millionen Einwohner (2010). Die Hauptstadt ist Kiew (ca. 3 Millionen Einwohner). Bevölkerungszusammensetzung: 78 % Ukrainer, 17 % Russen, 0,6 % Weißrussen, außerdem ca. 100 weitere Nationalitäten. Religion: 30-40 % orthodoxe Christen (in drei Kirchen geteilt), 12 % Katholiken (mehrheitlich griechisch-katholisch), 10-15 % Protestanten, außerdem Muslime, Juden u. a.; ohne Angaben zur Religionszugehörigkeit: 30-45 % (diese statistischen Angaben lassen nur ungefähre Rückschlüsse auf die tatsächlichen Zahlen zu). – Die Ukraine ist eine semipräsidiale Republik mit einem Einkammerparlament. Im Land machen sich bis heute starke mentale Unterschiede zwischen der Westukraine einerseits, der Mitte und dem Osten andererseits bemerkbar; auch sprachlich und religiös wirken alte historische Grenzen nach. Große Teile der Industrie und des Bergbaus sind veraltet, was u. a. zu schweren Umweltschäden führte. Von der Finanz- und Wirtschaftskrise ist das Land stark in Mitleidenschaft gezogen worden; Exporteinbrüche und hohe Staatsverschuldung waren die Folge. Die Arbeitslosenrate liegt bei ca. 8 Prozent (2010).